Die fremde Beobachterin

Milena Moser / 24. September 2003, "Annabelle"

Symbolbild Thema Porträts

Das Taxi hält an. Eine feingliedrige Hand streckt dem Chauffeur eine Note hin, woraufhin dieser eilig aussteigt und seinem Gast die Tür öffnet. Eine schöne Frau schält sich aus dem Fond und schenkt den Wartenden das bezauberndste Lächeln, das man sich nur wünschen kann. Milena Moser ist da. Eine imposante Erscheinung von 1.80 Meter Grösse, die sich in riesigen und gefährlich spitzen Schnabelschuhen in mattem Gold durch die Welt bewegt.

Nach rund fünf Wochen Ferien in Zürich, Familienfesten und Besuchen bei Bekannten und Freundinnen strahlt sie heitere Gelassenheit aus und lässt sich bereitwillig auf die Seeterrasse des Restaurants Fischstube lotsen. Die ursprüngliche Bitte an sie, einen von ihr bevorzugten Treffpunkt auszuwählen, hatte sie ratlos gelassen. «Keine Ahnung», lachte sie. «Warum kommen Sie nicht nach San Francisco?»

Dort lebt sie seit fünf Jahren mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen und fühlt sich ausgesprochen wohl. Zürich hingegen nimmt sie inzwischen wie eine Touristin wahr, die alles irrsinnig findet: die neuen Trams, die neue Post, das schöne Sommerwetter und all die zufriedenen Gesichter - «really cute». Das war nicht immer so. Als sie selbst noch hier wohnte, empfand sie die Stadt oft als anstrengend. Was machst du? Wen kennst du? Wo bist du gewesen? Warst du auch auf dieser Party? Ständig versuchten die Leute zu beweisen, wie weltstädtisch sie seien, statt sich zu entspannen und auch einmal zuzugeben: «Heute gurkt mich alles an.»

Alles passierte ungeplant

Im Gegensatz dazu sei San Francisco viel gelassener, ja gemütlicher: «Die Stadt bemüht sich nicht. Wozu auch? Schliesslich ist sie San Francisco.» Ob sie trotzdem eines Tages in die Schweiz zurückkehrt? Achselzucken. Sie plane nichts, habe auch ihren Wegzug nicht geplant, sondern diesen doch folgenreichen Schritt innerhalb von wenigen Wochen, sozusagen Hals über Kopf, beschlossen. Heute sei San Francisco ihr Zuhause, keine Frage. Und ihre Heimat?

Sie schweigt. Ihre Hände, die jedes ihrer Worte mit lebhaftenGesten unterstreichen, liegen zum ersten Mal ruhig auf dem Tisch. «Heimat?», seufzt sie. Es sei ihr schon immer schwer gefallen zu definieren, was für sie Heimat sei. Die Schweiz, wo sie aufgewachsen ist? Sie zögert. Vielleicht. Doch als Kind eines deutschen Vaters, das Butter statt Anke sagte, wurde sie in ihrem Umfeld oft heftig angegriffen und sogar als «Nazischwein» verunglimpft. So dachte sie lange Zeit, sie sei gar keine Schweizerin: «Ich hatte nie das Gefühl: Da bin ich, und es ist auch mein gutes Recht, da zu sein.» Stattdessen prägt eine nachhaltige Empfindung von Fremdheit ihre Stimmung bis heute und kann mitunter zu depressiven Abstürzen führen: «Das ist meine schwarze Seite.»

Dagegen schreibt sie an, oft mit skurrilen Geschichten, makabren Bildern, männermordenden Protagonistinnen. Galgenhumor sei schon immer eine Waffe gewesen, die ihr erlaubt habe, Distanz zu ihren Abgründen und damit sich selbst zu finden. Ja, das Schreiben überhaupt, und jetzt hat ihre Stimme wieder das volle Volumen, sei ihre Leidenschaft, vielleicht auch ihre wahre Heimat, das Schreiben sei letztlich sie: «Männer kommen und gehen, meine Kinder, die ich über alles liebe, werden eines Tages ihrer Wege gehen, aber geschrieben habe ich von früh an und werde es immer tun.»

Dabei kommt ihr eine Eigenart zugute, die ihr einst das Überleben in einer als unzugänglich empfundenen Welt erleichterte und mit der Zeit zur unerschöpflichen Quelle von Ideen und Inspiration geworden ist: Sie beobachtet ihre Umgebung «ganz, ganz intensiv». Schon als kleines Mädchen, das das Gefühl nicht loswurde, irgendetwas an ihm sei falsch, habe sie andere Menschen wie unter Zwang beobachtet, habe ihnen zugehört, um endlich herauszufinden, wie man «es richtig macht, wie man miteinander lebt und lacht, Meinungen austauscht oder feststellt, ob einen jemand liebt oder nicht». Sie wollte verstehen, was um sie herum passiert und wie Männer und Frauen funktionieren.

Geschichten speichern

Diese Besessenheit, die einhergeht mit der Unfähigkeit, sich abzugrenzen, ist ihr bis heute erhalten geblieben. Sie müsse nur mitbekommen, dass sich ein Paar in einem Restaurant streite und die Frau in Tränen ausbreche, und schon werde sie emotional durchgeschüttelt: «Eine solche Szene nimmt mich her, obwohl ich die Leute vorher noch nie gesehen habe.» Der Schriftstellerin in ihr haben sich zu diesem Zeitpunkt längst die Hintergründe erschlossen, die dem Eclat - zumindest in ihrer Fantasie - vorausgegangen sind. Fortan hat sie eine weitere Geschichte gespeichert, die eines Tages in ihre Romane einfliessen wird. Kein Wunder, ist ihr Kopf oft so voll, dass sie befürchtet, er platze, wenn siesich nicht augenblicklich an den Schreibtisch setzt.

In einem ähnlichen Zustand befindet sie sich jetzt: Das neue Buch, «Sofa, Yoga, Mord», ist abgeschlossen, die Arbeit zum nächsten noch nicht in Angriff genommen. Sie spüre langsam, erzählt sie, wie der Drang zum Schreiben zunehme: «Wenn ich nicht bald die ersten Sätze zu Papier bringe, werde ich grantig und übellaunig.»Nicht dass sie das Interesse am noch nichteinmal erschienenen Neuling schon verloren habe, nein, ganz und gar nicht, aber sie fühle sich freier und sicherer, wenn sie bereits wieder in eine von ihr gestaltete Welt eingetaucht sei und etwas Frisches in Arbeit habe.

Bleiben wir dennoch ein wenig bei ihrem aktuellen Buch, «Sofa, Yoga, Mord», in dem sie Elemente des Kriminalromans, des Beziehungsdramas, aber auch der leichten Sommerkomödie bunt und ein wenig wahllos mischt. Einmal mehr hat sie ein reich bevölkertes Panoptikum geschaffen, in dem ihre treuen Leserinnen und Leser zahlreiche Figuren antreffen, die ihnen schon aus dem Vorgänger, «Bananenfüsse», vertraut sind. Lily, Leo und Frank, die Schweizer, die nach San Francisco ausgewandert sind, leben weiter, weil ihre Schöpferin das Gefühl hatte, deren Geschichte verlange nach einer Fortsetzung.

Diese Erfahrung machte sie zum ersten Mal. Nach dem durchschlagenden Erfolg der «Putzfraueninsel» bestürmten verschiedene Verleger sie noch vergeblich, einen zweiten Band nachzulegen. Damals mochte und konnte sie nicht: Nelly war tot, Irma mit Eugen glücklich und die Geschichte zu Ende. Diesmal liebäugelt sie sogar mit der Idee, eine dritte Folge zu schreiben.

Milena Moser mag ihren neuen Roman. Das hat auch mit den Bedingungen zu tun, unter denen diese über 300 Seiten entstanden sind. Für einmal sei sie weder schwanger gewesen, noch habe sie in einer Scheidung gesteckt oder sich als allein Erziehende von Nervenzusammenbruch zu Nervenzusammenbruch gehangelt. Sobald sie ihre beiden Söhne in die Schule gebracht hatte, setzte sie sich Tag für Tag an den Computer und schrieb während drei, vier Stunden in einem Rutsch durch. In den Sommerwochen des vergangenen Jahres war sie sogar ganz allein, weil ihre Familie erstmals ohne sie nach Zürich gereist war.

Das muss eine prägende Erfahrung gewesen sein, lässt sie doch auch Lily, ihre weibliche Hauptperson, unter der Trennung von ihrem Sohn leiden, der seine Ferien bei den Grosseltern in der Schweiz verbringt. Sie lacht: «Ja, klar. Auch ich habe in dieser Zeit sehr gelitten, aber dank der Arbeit an meinem Buch habe ich mich nie so verloren wie Lily.» Ganz im Gegenteil: Hat sie doch aller Freiheit zum Trotz sehr diszipliniert gearbeitet. Innerhalb eines Jahres lag das fertige Manuskript auf dem Tisch.

Der Nachmittag ist nahezu übergangslos zum Abend geworden. Es ist bereits 18.30 Uhr, und die Terrasse der «Fischstube» hat sich gefüllt. Das Servierpersonal trägt grosse Teller mit dampfenden Speisen auf. Plötzlich steht der Wirtmit missmutiger Miene vor unserem Tisch und ordnet brüsk das Ende der Fotosession auf seinem Grund an. Wir zahlen, packen zusammen und denken, dass er mit ein bisschen Freundlichkeit erfahren hätte, welch prominenter Gast soeben bei ihm einen gespritzten Weissen getrunken hat.

"Is she an actress?"

Doch wären wir geblieben, hätten wir nicht miterlebt, was es heisst, mit Milena Moser am Ufer des Zürichsees zu flanieren. Sie hat den stolzen, aufrechten Gang einer Frau, die sich ihrer Wirkung bewusst ist. Sorgfältig setzt sie einen Fuss vor den anderen und wiegt sich dabei ganz leicht in den Hüften. Magisch zieht sie die Blicke ihrer Umgebung an. Ein älteres Paar aus den USA nähert sich uns, als sie ein paar Meter entfernt fotografiert wird, und fragt mit unverhohlener Neugier: «Who is she? Is she an actress? My God, she's so young and lovely.» Als sie von dieser Szene erfährt, wirft sie die Hände in den Himmel und spielt die Euphorische: «Yeah.»

Mit der Schriftstellerin springen Öffentlichkeit und Medien oft anders um. Die Literaturkritiker versorgen sie gern in der Ecke Triviales oder Leichte-Kost-Produktionen. Das seriöse Feuilleton hat ihr auch schon attestiert, ihre Romane seien «eine in jeder Hinsicht peinliche Angelegenheit». Kritik dieses Ausmasses ist sie von Anfang an gewohnt. Sie ist froh, dass sie nicht erst hochgelobt und später dann niedergeschrieben wurde. So habe sie schnell kapiert, dass sie sich nicht zu stark von solchen Reaktionen bestimmen lassen dürfe. Am Beispiel ihres Vaters, Paul Pörtner, der sich regelrecht aufgerieben habe an negativer Kritik seiner Romane und Theaterstücke, habe sie wohl schon als Kind unbewusst mitbekommen, dass man sich nicht jeden Verriss zu Herzen nehmen dürfe. Ihr Verlag weiss inzwischen, dass Frau Moser nur die wohlwollenden Stimmen zu vernehmen wünscht.

Gott sei Dank ist sie in San Francisco weitab vom Schuss. Dort lebt sie ein Leben, das nichts, aber auch gar nichts mitdem einer prominenten Bestsellerautorin gemein hat. Im Gegenteil, gelte sie doch in ihrer Nachbarschaft als Stay-at-Home-Ma, eine Mutter und Hausfrau, die nebenbei auch noch irgendetwas schreibt. Da ihre Bücher nicht ins Englische übersetzt werden, hat kein Mensch eine Ahnung, was sie da treibt, und - sie lacht schallend - so genau wolle es auch gar niemand wissen. Das kommt ihr gelegen. Hatte sie doch nochnie das Bedürfnis, sich auf Partys und Vernissagen als Promi herumreichen zu lassen. Stattdessen widmet sie sich lieber ihren Söhnen, putzt wie eine stinknormale Hausfrau ihre Wohnung, wäscht die Wäsche ihrer Familie selbst, geht einkaufen, packt jede Lunchbox eigenhändig und leistet sich am Abend den Luxus, ins Yoga-Studio ihrer Freundin zu fahren.

Begegnung mit Lino

San Francisco mit seiner Entspanntheit tut ihr sowieso gut. Nicht dass sie sich in der 700 000-Einwohner-Stadt im Wesen verändert habe, aber, auch wenn es ein bisschen kitschig klinge, sie habe das Gefühl, sie könne dort mehr sie selbst sein. Die Menschen seien locker und unkompliziert, und wenn man jemanden besuche, müsse man damit rechnen, dass man mit der Gastgeberin, dem Gastgeber auf dem Sofa Platz nehme, gemeinsam Fernsehen schaue und aufgefordert werde, sich doch selbst im Kühlschrank zu bedienen. Das habe sie anfangs ein bisschen vor den Kopf gestossen, heute gehöre es einfach dazu.

Was ihr ganz besonders wertvoll ist, ist eine neue Erfahrung mit ihrem alten Thema Fremdsein. Es sei eine grosse Erleichterung für sie gewesen, erzählt sie, dass ihre Gefühle von Fremdheit erstmals in ihrem Leben einen nachvollziehbaren Grund bekommen hätten. Sie führte sie nicht länger auf ihr Versagen oder ihre «komische Persönlichkeit» zurück, sondern einfach auf die Tatsache, dass sie nicht in ihrer vertrauten Umgebung lebt, sondern in San Francisco. That's it.

Auf einmal verliert sie den Faden. Sie hat jemanden entdeckt und versucht, mit Winken auf sich aufmerksamzu machen. Vergeblich. Zielstrebig geht sie auf eine Gruppe junger Menschen zu, die mit Rollbrettern unter dem Arm durch die Seeanlagen schlendern. Sie begrüsst einen von ihnen mit einer liebevollen Geste und kehrt strahlend zu uns zurück: «Das war Lino, mein älterer Sohn.»

Es ist spät geworden. Milena Moser freut sich auf die Rückkehr nach San Francisco, auf ihren Alltag und Lily, Leo und wie die Figuren ihres elften Romans alle heissen werden. Ein Konzept hat sie nicht, das hat sie nie, aber enorme Lust, sich an die Maschine zu setzen. Der Schreibjunkie braucht Stoff.

Milena Moser wird 1963 in Zürich geboren. Ihre Mutter, Marlis Pörtner, ist Psychologin und Verfasserin zahlreicher Fachbücher, ihr Vater, Paul Pörtner, war Schriftsteller. In diesem Umfeld kann esnicht überraschen, dass schondie achtjährige Milena fest entschlossen ist, eines Tages Schriftstellerin zu werden. Zunächst macht sieallerdings eineAusbildung zur Buchhändlerin, zieht dann für längere Zeit nach Paris und schreibt ihr erstes Buch.
Die Suche nach einem Verleger wird zur echten Geduldsprobe, muss sie doch sechs Jahre warten. Inzwischen hat siezehn Romane und Erzählbände veröffentlicht, darunter Bestseller wie «Die Putzfraueninsel» (1991), «Das Schlampenbuch» (1992) und «Blondinenträume» (1994). Seit fünf Jahren lebt sie mit ihrem zweiten Ehemann, dem Fotografen Thomas Kern, und ihren beiden Söhnen Lino (15) und Cyril (8) in San Francisco. Der Name Moser geht auf ihre erste Ehe zurück.

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© Barbara Lukesch