Batman fliegt

Diskriminierung / 25. Juli 2003, "Die Weltwoche"

Symbolbild Thema Porträts

David de Siebenthal war der Held unter den Klotener Polizisten. Bis der Arbeitseifer des schwarzen Beamten seinen Vorgesetzten missfiel.

Als sich David de Siebenthal in Kloten als Polizist bewarb, legte er seinem Schreiben bewusst kein Foto bei. Beim Vorstellungsgespräch, zu dem man ihn einlud, vermochten die Anwesenden ihre Überraschung kaum zu verbergen: Vor ihnen stand ein dunkelhäutiger Mann, gross und athletisch. De Siebenthal besitzt zwar einen Schweizer Pass, aber er ist ein Mischling, der Sohn eines Schwarzen und einer Weissen. Seine Gesprächspartner fassten sich relativ schnell. Der Polizeisekretär betonte später, dass es einem Ort wie Kloten nicht schlecht anstehe, einen farbigen Polizisten zu beschäftigen. Schliesslich beherberge die Flughafenstadt Dutzende von Nationalitäten. Zumal die Qualifikationen des Kandidaten stimmten. De Siebenthal hatte die Lausanner Polizeischule absolviert, war Offizier in der Schweizer Armee und verfügte über etliche Jahre Berufserfahrung. So fiel die Wahl auf ihn; seine Vorgesetzten sahen sogar baldige Beförderungen bis hin zum stellvertretenden Postenchef für ihn vor. Entsprechend hoch wurde sein Lohn angesetzt.

De Siebenthal wähnte sich am Ziel seiner Träume. Sollte Kloten der Ort werden, an dem er endlich ein Zuhause finden könnte? Bis anhin war das Leben des inzwischen 35-Jährigen geprägt vom Gefühl der Entwurzelung, vom «Eindruck, die andern oft zu stören».

Er wurde "Nesquik" gerufen

Aufgewachsen als Adoptivkind, das seine «Erzeuger», wie er sie selber nennt, nie kennen gelernt hat, fehlte ihm immer ein wichtiger Baustein seiner persönlichen Geschichte. Er verbrachte seine Kindheit in Kanada, zog dann mit der Familie in die Schweiz, später nach Frankreich und wieder zurück in die Schweiz. Das Hin und Her war bedingt durch den Beruf seines Schweizer Adoptivvaters, eines evangelischen Pfarrers. Als Kind wurde David manchmal «Nesquik» gerufen, so erzählt er, und es konnte ihm passieren, dass er aus einer Warteschlange vor dem Kino weggedrängt wurde. Zufall? Alles nur Einbildung?

Seine Familie war geprägt von den strengen ethischen Grundsätzen einer Freikirche, die ihm ein tiefes Empfinden für Werte wie Gerechtigkeit, Wahrheitsliebe, Respekt und Ernsthaftigkeit vermittelte. Bereits als Jugendlicher nahm de Siebenthal beim Spiel mit seinen Kollegen gern die Rolle des Schiedsrichters ein. Er sorgte für Ordnung, beschützte andere, wollte ihnen Sicherheit vermitteln. Schon früh wollte er Polizist werden. Ihm gefielen die eleganten Uniformen mit den klaren Linien und farbigen Abzeichen. Seine Adoptivmutter schickte ihn zunächst für zwei Jahre aufs Konservatorium, weil er auch musikalisch begabt war und ausgezeichnet Klavier und Trompete spielte. Viel lieber hätte er aber einer berittenen Polizeieinheit angehört, wie er sie als Kind auf Quebecs Strassen gesehen hatte, denn er hatte auch eine Schwäche für Pferde.

Im Februar 1995 also trat de Siebenthal seine Stelle in Kloten an. Er war zuständig für Sicherheit und Ordnung, überdies wurde er mit Spezialaufgaben im Bereich Betäubungsmittel, Waffen und Personenfahndung betraut. Der Neue war ehrgeizig und packte seine Aufgabe voller Enthusiasmus an. Er war leidenschaftlich gern unterwegs, kontrollierte verdächtige Personen, nahm Verhaftungen vor. Ausgerüstet mit einem Dienstfahrrad, bewegte er sich schnell und wendig in den Quartieren. Bald war er bestens darüber informiert, was sich auf den vierzig wichtigsten Drogenumschlagplätzen in und um Kloten tat. Ein Mitarbeiter der Kantonspolizei konstatierte später: «Mit enormem Einsatz verschaffte sich Dave de Siebenthal einen guten Überblick über die ‹Chlotener Drogenszene› beziehungsweise versuchte auch, die Hintermänner ausfindig zu machen.»

Der siebte Sinn

Wenn er sich heute an diese Zeit erinnert, gerät de Siebenthal ins Schwärmen: «Ich war wie ein schwarzer Batman, der sie alle erwischen wollte.» Eine Art siebter Sinn habe ihm erlaubt, die Verhaltensmuster von Kleinkriminellen, ihre Körpersprache und ihre Blicke zu deuten. Wenn er dann die Verfolgung aufnehmen musste, sei er «unerschrocken und sehr schnell vorgegangen». Zum wiederholten Mal weist de Siebenthal in diesem Zusammenhang darauf hin, dass er bei der Militärsportprüfung von 500 möglichen Punkten 446 geschafft hat. Bald nannte man ihn im Dorf respektvoll «Miami Vice», «New York Cop» oder «Pitbull». Kam dazu, dass er schnell die internen Mängel erfasste, die auf dem Posten der Stadtpolizei Kloten bestanden. Er machte - vergeblich zwar, aber dennoch unermüdlich - Verbesserungsvorschläge zuhanden seines Vorgesetzten. In jeder freien Minute schmökerte er in einschlägigen Katalogen, in denen die neusten Schutzwesten, die wirksamsten Pfeffersprays und allerlei andere moderne Sicherheitsutensilien beworben wurden.

De Siebenthal arbeitete zwar wie ein Besessener, doch dieses Leben fand er ausnehmend schön. Vom Chef bekam er öfter ein Lob: «Noch nie hatten wir die Drogenszene so im Griff wie jetzt.» Die Bevölkerung wiederum schien davon angetan, wenn er wieder mal mit seinem Velo in der einen Hand und einem einschlägig bekannten Drogendealer in Handschellen an der andern dem Posten entgegenstrebte. Seine Bilanz konnte sich sehen lassen: Im selben Zeitraum, in dem er 38 Personen verhaftete und 41 Waffen beschlagnahmte, brachten es seine Kollegen zusammen auf bloss drei Arrestierungen und fünf Konfiszierungen. DdS, wie sein internes Kürzel lautete, war nach diesen Massstäben also ein überaus effizienter Polizist. Vielleicht dachte er sogar manchmal, er sei der Beste, während er die anderen insgeheim für Stubenhocker hielt, gerade gut genug, um Parkbussen zu verteilen.

Nach einem halben Jahr begann sich das Blatt zu wenden. De Siebenthal musste etwas falsch gemacht haben. Sein Vorgesetzter begann ihn zu kritisieren, täglich, stündlich. Fast jeder schriftliche Rapport kam postwendend zur Nachbesserung zurück. Überdies wurde er mit zusätzlicher Büroarbeit eingedeckt. De Siebenthal, dessen Muttersprache Französisch ist, geriet so immer stärker unter Druck, zumal seine beschränkten Deutschkenntnisse sein Selbstwertgefühl immer schon beeinträchtigt hatten. Zu den Streifzügen durch Kloten konnte er nun höchstens noch in Randstunden oder in seiner Freizeit aufbrechen. Ausserdem wurde ihm jedes Gesuch für Weiterbildungskurse abgelehnt. «Geldmangel», hiess es. Dass seine Kollegen ihre externen Seminare weiterhin besuchen konnten, empörte ihn.

Die Strafe mit der Schreibmaschine

Im Sommer schliesslich wurde auf dem Posten ein zusätzliches Kontrollinstrument eingeführt, das so genannte Patrouillenjournal. Dieses zwang jeden Stadtpolizisten, seine Aktivitäten mehrmals täglich zu Papier zu bringen. Als Einziger im Korps musste DdS seine Berichte mit der Schreibmaschine tippen. Die andern verfassten sie auf dem Computer. De Siebenthal tat, was er konnte, und überarbeitete seine Protokolle bis tief in die Nacht zusammen mit seiner Deutschschweizer Ehefrau.

Doch die Schikanen zeigten Wirkung. Allmählich stellten sich schwere Schlaf- und Sehstörungen ein, dazu Magen-, Darm- und Rückenbeschwerden. Immer öfter überfiel ihn panische Angst, die Stelle zu verlieren. Unter diesem Druck erhöhte er noch einmal die Kadenz seiner Verhaftungen, nicht ahnend, dass er damit exakt das Falsche tat.

Kloten ist mit 17500 Einwohnern die neuntgrösste Gemeinde des Kantons und wird Zürichs Tor zur Welt genannt. Man kann Kloten als international ausgerichtete Kleinstadt betrachten, multikulturell, offen, betriebsam. Gleichzeitig ist Kloten aber auch ein Flecken mit weitgehend intakten dörflichen Strukturen. Man legt Wert darauf, dass die Kirche im Dorf bleibt. Das Wort der Kleingewerbler, Garagisten, Laden- und Restaurantbesitzer, die sich nicht nur zum Mittagessen in der Beiz, sondern auch in Sportvereinen, bei Parteiversammlungen und Übungen der Feuerwehr treffen, hat noch Gewicht. Von den Alteingesessenen kennt hier jeder jeden.

In diesem festgefügten Rahmen war deSiebenthal nicht nur der neue Polizist, der mit bemerkenswertem Einsatz für Ruhe und Ordnung sorgte. Er war auch «dä schwarz Cheib uf em Velo», wie sich eine Bürgerin ausdrückt, der mit seinen Aktivitäten in weiten Kreisen beträchtliche Verunsicherung auslöste. Sein unbestechliches Vorgehen gegen Parksünderinnen, Drogenkonsumenten und Dealer, Waffenbesitzer und Sachbeschädiger jedwelcher Herkunft mochte nach dem Buchstaben des Gesetzes in Ordnung sein. Doch dass er auch den Sohn des stadtbekannten Garagisten büsste und den Schwager des Stadtpräsidenten des Drogenhandels verdächtigte, tangierte die dörf lichen Machtstrukturen.

Immer mehr Beschwerden

«Ich war mir natürlich bewusst, dass das heikle Fälle waren», sagt er im Nachhinein, «aber wie hätte ich meinen Beruf glaubwürdig ausüben können, wenn ich nicht gegenüber allen Leuten den gleichen Massstab angewendet hätte?» Empört nahm er zur Kenntnis, dass ein Kollege der Kantonspolizei den Fall des Schwagers des Stadtpräsidenten so dilettantisch weiterverfolgte, dass sich alle Beweismittel in Luft auflösten.

In den Beschwerden über de Siebenthal, die nun in immer grösserer Zahl auf das Pult seiner Vorgesetzten flatterten, wurde ihm immer wieder «unverhältnismässiges Vorgehen» oder «mangelnde Professionalität» vorgeworfen. Eine aufgebrachte Bürgerin beschuldigte ihn, er habe in einem Akt des Übereifers ihren Reitstall inspiziert - dabei hatte sich de Siebenthal zum fraglichen Zeitpunkt erwiesenermassen gar nicht in Kloten aufgehalten. Als er im Sommer seinen Streifendienst in Bermuda-Shorts versah, sagte ein Feuerwehrhauptmann im Anschluss an eine Übung vor zahlreichen Anwesenden: «Der Neger glaubt wohl, er sei im Busch mit seinen Shorts.» De Siebenthal ersuchte seine Vorgesetzten, diese rassistische Entgleisung zu ahnden. Doch sie verboten nicht etwa dem Feuerwehrhauptmann das Wort, sondern dem Polizisten das Tragen kurzer Hosen, obwohl es kein entsprechendes Dienstreglement gab. In der Fasnachtszeitung wurde DdS zum «Fraue- und Chinderschreck». Es folgten anonyme Drohungen per Telefon: «Wir haben eine Kugel für dich. Pass auf, sonst bist du tot.» Als der Polizei ein neuer Streifenwagen übergeben wurde, veröffentlichte der Stadtanzeiger ein Foto, auf dem das Gefährt mit dem Korps abgebildet war. Nur einer fehlte zufällig auf dem Bild.

DdS war nun über Monate arbeitsunfähig. Als er wieder arbeiten konnte, wurde er zu einem Qualifikationsgespräch mit seinem Dienstchef und dem Polizeisekretär aufgeboten. Das Treffen dauerte acht Stunden. Anschliessend notierte er in einem persönlichen Protokoll: «Der Polizeisekretär rastete aus und schrie mich an, ich hätte wieder einmal seinen Befehl verweigert. (...) Dann spottete er brüllend, er werde mich mit barem Arsch auf den Boden setzen. Mit offensichtlicher Freude fragte er mich (immer noch schreiend), ob mir überhaupt bewusst sei, dass ich gemäss einiger Artikel des Personalreglements noch nicht Beamter sei. (...) Weiter brüllte er: ‹Hier bin ich der, der die Befehle gibt.›» Auf dem offiziellen Qualifikationsbogen wurden die Leistungen de Siebenthals plötzlich durchgehend als «ungenügend» taxiert, ungeachtet der Tatsache, dass man ihm nach wie vor «sehr gute Einsatzbereitschaft» attestierte.

Neue Hoffnung

Als der Dienstchef kündigte, kam für kurze Zeit neue Hoffnung auf. Sein Nachfolger schaffte als Erstes die schikanösen Patrouillenjournale ab, war freundlich, sagte oft «super», wenn etwas gut lief, oder «merci», wenn es angebracht schien. Doch das war nur die Ruhe vor dem Sturm. Es schien, als herrsche zwischen den einflussreichen Klotenern und dem Polizeikorps Einigkeit, dass der ehrgeizige Beamte von seinem Posten entfernt werden musste.

Warum aber lehnt eine Schweizer Durchschnittsgemeinde einen Polizisten ab, der im Grunde nichts anderes getan hat, als anerkannten Werten Sorge zu tragen: der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung, dem Kampf gegen Drogen und der konsequenten Ahndung von Verkehrsdelikten? De Siebenthal sagt: «Sie dulden nur den guten Neger, der ihnen die Strassen putzt. Aber den dunkelhäutigen Polizisten, der sie notfalls zurechtweist, ertragen sie nicht.»

Für den Zürcher Psychologen Michael Ricklin, der de Siebenthal seit vielen Jahren betreut, hat die Geschichte zwar «mit latentem Rassismus zu tun», aber nicht nur. Es handle sich auch um die Geschichte eines Aussenseiters, der gleich mehrfach an die subtilen Grenzen schweizerischer Eigenarten gestossen sei - des Welschen in der Deutschschweiz, des Dunkelhäutigen in Militär und Polizei, wo gemeinhin «richtige Schweizer» unter sich sind, des Korrekten und Unbestechlichen in einer Welt der dörflichen Kleinkorruption, des Selbstbewussten, der sich nicht in eine bestehende gesellschaftliche Hierarchie einordnen will. Daneben dürfte de Siebenthal unter Männern Neid ausgelöst haben. Fotos aus seiner Sammlung dokumentieren seine attraktive Erscheinung - mal in Uniform, Stiefeln und mit Dienstwaffe auf einem schweren Motorrad, mal hoch zu Pferd, mal in Shorts auf dem Fahrrad, dann wieder in Anzug und Krawatte.

"Mit Kanonen auf Spatzen geschossen"

Von den damaligen Vorgesetzten erklärt sich nur einer bereit, über den Fall zu reden. Er hätte sich gewünscht, sagt er, dass sich de Siebenthal den örtlichen Verhältnissen besser angepasst hätte, dass er etwas mehr Gelassenheit an den Tag gelegt und mehr gesunden Menschenverstand gezeigt hätte, «statt mit Kanonen auf Spatzen zu schiessen und kleine Haschraucher wie Schwerverbrecher zu behandeln». Intern habe er immer mehr Widerstand geleistet, «pocket» und auf gewisse Anordnungen überempfindlich reagiert. In konkreter Erinnerung ist ihm einzig geblieben, dass de Siebenthal im Dienst weisse Handschuhe getragen habe statt schwarze. Dabei sei er als Schwarzer doch schon genügend exponiert gewesen; warum er da den Klotenern eine solche Auffälligkeit habe zumuten müssen. De Siebenthal stellt kategorisch in Abrede, jemals in Kloten weisse Handschuhe getragen zu haben.

Nachdem die subtileren Druckversuche nicht zum gewünschten Ergebnis geführt hatten, griffen de Siebenthals Vorgesetzte zu gröberen Massnahmen. Zuerst versetzten sie ihn wegen ungenügender Leistungen in eine tiefere Gehaltsklasse und beschieden ihm, dass er die einst in Aussicht gestellte Beförderung vergessen könne. Was nützte es, dass er sich zur Wehr setzte, Recht bekam und seine Vorgesetzten die Lohnkürzung zurücknehmen mussten? Der Personalchef liess beiläufig den Satz fallen, dass man halt etwas anderes finden werde. Frau de Siebenthal erwartete in jenen Wochen ihr erstes Kind.

Am 13. Januar 1998, einem Montagmorgen, erfolgte der nächste Angriff. DdS war auf Patrouille, als er per Funk auf den Posten zurückbeordert wurde. Dort traf er auf seinen Dienstchef, dessen Stellvertreter und zwei Kantonspolizisten, die, wie er später erfuhr, angefordert waren für den Fall, dass er auf die Mitteilung, die man ihm machen wollte, ausrasten und gewalttätig reagieren würde. Ohne Vorwarnung und ohne ihm die Gelegenheit zur Verteidigung zu geben, wurde ihm seine Suspendierung eröffnet.

Demütigung auf dem Polizeiposten

Man warf ihm unter anderem vor, dass er einmal den Dienstwagen nicht ordnungsgemäss zurückgebracht und zweimal während der Dienstzeit mit den Kollegen der benachbarten Stadtpolizei Opfikon Kaffee getrunken habe. Man nahm ihm seine Waffe ab und forderte ihn auf, die Uniform auszuziehen. Als er in den Unterhosen dastand, befahl sein Chef eine gründliche Leibesvisitation, die Untersuchung sämtlicher Körperhöhlen. Diese Demütigung ging dann aber selbst einem der beiden Kantonspolizisten zu weit, der sich dem Befehl widersetzte. DdS erhielt Hausverbot, verliess den Posten in Jeans und T-Shirt.

Auch diese Suspendierung erfolgte unrechtmässig und musste später vom Stadtrat zurückgenommen werden. An der Absicht der Polizeichefs änderte dieser Schönheitsfehler indessen nichts. Sie wollten Tabula rasa machen. Bei der Inspektion von de Siebenthals Büro fanden sich Rapporte, in denen er den Drogenkonsum verschiedener Personen zwar protokolliert, aber nicht angezeigt hatte. Die Tatsache, dass die Beteiligten dadurch der Strafverfolgung entgangen waren, bot sich für die endgültige Trennung geradezu an.

In einem vertraulichen Schreiben infor- mierte der Dienstchef der Polizei unverzüglich den Stadtpräsidenten, die Sicherheitsvorsteherin, den Stadtschreiber und Polizeisekretär: «Der neue Fall bestätigt meine seit meinem Stellenantritt aufgekommene Vermutung», schrieb er, «dass de Siebenthal, welcher sich in gewissen Bereichen sehr schleierhaft benahm, mit gewissen Kreisen (in diesem Fall mit der Drogen-Szene) kollaboriert und massive Gesetzesverstösse in Kauf nimmt.» Auch der neue Dienstchef hatte sich zwischenzeitlich im Umgang mit de Siebenthal den Klotener Sitten angepasst. Ende April 1998 deponierte er bei der Bezirksanwaltschaft Bülach eine Strafanzeige wegen «Anstiftung, Gehilfenschaft, Begünstigung, Amtsmissbrauch und Verletzung des Amtsgeheimnisses».

"Juristischer Nonsens"

Diese Anzeige taxiert der Zürcher Rechtsanwalt Bernhard Rüdy, einer der erfahrensten Strafrechtler der Schweiz, als «juristischen Nonsens». Sie beruhe grösstenteils auf einem mutwilligen Konstrukt, das nur dazu gedient habe, seinen Klienten de Siebenthal abzuschiessen. Ins Bild passte, dass die Stadtpolizei Kloten die Zeugeneinvernahmen selber durchführte, statt sie gemäss gängiger Praxis dem Schwesterkorps der Kantonspolizei Zürich zu übertragen. Die Befragten wurden mit Suggestivfragen dazu verleitet, de Siebenthal zu belasten, wie sich später herausstellte. Wenn das nicht im gewünschten Mass gelang, formulierte die zuständige Beamtin den einen oder anderen Satz nach ihrem eigenen Gutdünken um. Rechtsanwalt Rüdy sagt, er habe noch selten in seiner Karriere «dermassen katastrophale, suggestive Untersuchungsmethoden erlebt wie in diesem Fall».

Am 23. Dezember 2002 wurde de Siebenthal freigesprochen. Das Gericht hielt ihm zugute, dass er ohne jeden Vorsatz gehandelt habe, als er die Rapporte über die Drogendelinquenten liegen liess. Die Anzeigen habe er allein deshalb unterlassen, weil er seinerzeit an seinem Arbeitsplatz in schwerem Masse gemobbt worden und unter der Belastung schier zusammengebrochen sei. Mobbingexperten kennen dieses Muster: Ein Opfer wird so lange drangsaliert, bis es Fehler macht, die ihm anschliessend vorgeworfen werden.

Der Freispruch kam für de Siebenthal allerdings zu spät. Mitte 1998, knapp dreieinhalb Jahre nach seinem Stellenantritt, hatte er in Kloten von sich aus gekündigt. Seine Vorgesetzten legten ihm eine Vereinbarung vor, die ihn zum Stillschweigen verpflichten sollte. Er unterschrieb sie nicht. Zum Abschied schenkte man ihm gleichwohl eine Einladung zum Besuch eines Weiterbildungskurses über Betäubungsmittel bei der Stadtpolizei Zürich, um den er sich jahrelang vergeblich bemüht hatte.

"Es herrscht Skandalruhe"

Am 28. März 1998 erschien im Anzeiger der Stadt Kloten eine Kolumne, geschrieben vom Optiker K. Er schrieb: «In Kloten herrscht, von einigen Ausnahmen abgesehen, Skandalruhe. Da verschwand, unbemerkt von der Öffentlichkeit, ein allseits ‹beliebter› Polizist. Schwups, ohne Nachruf. Da die Sicherheit in unserer Stadt wohl immer noch gewährleistet ist, muss man annehmen, dass gewisse Leute auf der Lohnliste überflüssig sind...»

Im Sommer 1998 zogen de Siebenthals in die Westschweiz. Als einmal ein Kollege aus der Deutschschweiz unangemeldet zu Besuch kam und über die Gegensprechanlage nicht sofort zu identifizieren war, geriet de Siebenthal in Panik: «Ich dachte, jetzt holen sie dich doch noch ab.» Am neuen Arbeitsort im Kanton Waadt wertete er unbedachte Äusserungen von Kollegen vorschnell als gezielte Angriffe, was zu Spannungen führte - ein Teufelskreis. De Siebenthal ist überempfindlich geworden und neigt dazu, seine Leistungen herauszustreichen, wohl im Bemühen, gegen die erlebten Disqualifikationen und Kränkungen anzukämpfen. Heute ist er arbeitslos und steht vor der Scheidung.

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© Barbara Lukesch