Ein Tag im Leben der Atemtherapeutin Yvonne Vogel

Neues Bewusstsein / 24. November 2001, "Das Magazin"

Symbolbild Thema Porträts

Ein Tag beginnt schön, wenn ich genug Musse habe, um während der ersten fünf Minuten nach dem Aufwachen meinen Atem zu beobachten. Dann liege ich so da, die Hände auf dem Bauch, und spüre, wie weich und durchlässig ich nach dem Schlafen bin. Der Bauch geht in die Höhe, geht wieder zurück, und ich freue mich, dass ich so ruhig atme und es mir leisten kann, zwischen den Atemzügen richtig lange Pausen zu machen. Oft nehme ich mir vor, die Erfahrung dieses grossen Morgenatems mit in den Tag zu nehmen. Gerate ich dann irgendwann in Stress, erinnere ich mich an diese morgendliche Ruheinsel und kann mich entspannen.

Das gelingt mir nur, weil ich diese Atemräume tief unten in mir überhaupt einmal entdeckt habe. Es nützt natürlich nichts, jemandem, dem diese Erfahrung fehlt, zu sagen: "Muesch halt in Buuch abeschnuufe." Das bleibt graue Theorie, solange man kein Bewusstsein für seinen Atem hat. Dieses Bewusstsein versuche ich während der Atem- und Stimmtherapiestunden, die ich gebe, zu wecken. Das ist keine Hexerei, dazu ist auch keine langjährige Krampferei nötig.

Es braucht eine gewisse Neugierde, auch ein bisschen Geduld. Man legt sich am besten einmal unter kundiger Anleitung auf den Bauch, beobachtet seinen Atem, ohne ihn beeinflussen zu wollen, spürt den feinen Bewegungen seines Körpers nach, die einen dann automatisch begleiten, lässt den Atem nach und nach grösser werden. Es ist faszinierend, wenn man plötzlich merkt, wau, jetzt habe ich den Bauch im Boden gespürt, hey, jetzt ist das Fudi ein Stück in die Luft gestiegen. Wenn es gelingt, ist es wie ein Durchlüften der inneren Räume.

Atem ist für mich gleichbedeutend mit Lebensenergie, mit Lust auch, Glück, ja im Grunde genommen ist der Atem meine Basis. Tagsüber nehme ich ihn eigentlich nur dann bewusst wahr, wenn er gestört ist, flach wird und in die oberen Regionen klettert und meine Stimme dünn und hoch wird. Singen ist ein wunderbares Mittel dagegen. Die Atmung läuft ja nirgends so gut wie beim Singen. Daher gehören auch Gesangsübungen zu meinen Atemstunden. Dazu muss niemand besonders musikalisch sein, es geht nur darum, die eigene Stimme zu brauchen, Töne zu produzieren. Fluchen und Schimpfen sind genauso wirksam. Wenn mir danach ist, suche ich mir eine Ecke, wo ich niemanden störe, und "töbele" ein paar Minuten, aber richtig, "vom Buuch une ufe: Schtärnesiech, dä Hueremischt!" Auch das ist Atem und Stimme und hilft.

Unsere Atmung hat auch einen grossen Einfluss auf die Sexualität. Wenn ich mit jungen Frauen arbeite, bin ich immer wieder überrascht, wie zusammengeschnürt die sind. Viele laufen ja ständig mit eingezogenem Bauch herum, nur um einen Zentimeter schlanker zu wirken. Es braucht einiges, um ihnen zu erklären, dass sie gescheiter loslassen würden. Aber da hockt auch ganz viel Angst, das eigene Potenzial zu spüren, die Kraft, die sie eigentlich hätten. Es ist schön mitzuverfolgen, wenn sie sich öffnen und ihre ganze Persönlichkeit entdecken.

Wenn ich gut atme, habe ich sofort eine andere Präsenz und Austrahlung. Meine Stimme wird selbstbewusster, ich bin ruhiger und gelassener und kann besser denken. Viele meiner Kundinnen und Kunden kommen zu mir, weil sie Lampenfieber haben. Sie müssen einen Vortrag halten oder ein Seminar leiten und leiden Höllenqualen. Da kann man in wenigen Stunden gegensteuern. Das fängt bei kleinen Tipps an wie Wasser trinken statt Kaffee, der die ganze Stimme verklebt. Oder: Drei Minuten bevor man ans Mikrofon tritt, seinen Speech nochmals in Gedanken abfahren wie ein Skirennfahrer die Piste. Das nenne ich gedankliches Durchatmen. Wobei man ehrlicherweise sagen muss, dass auch Profis mitunter so schlecht atmen und sprechen, dass ich beim Zuhören körperlich mitleide.

Wenn ich hingegen nach einem intensiven Arbeitstag beschwingt und erfüllt nach Hause komme, weiss ich, dass alles an diesem Tag mit einem grossen Atem passiert ist. In einem solchen Moment gibt es nichts Schöneres, als wenn der Ruedi daheim an den Töpfen hockt, mich bekocht und möglichst auch noch bedient. Das sind wahrhafte Genussmomente, denn der Ruedi kocht extrem gut, und ich bin eine begnadete Esserin.

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© Barbara Lukesch