Unterwegs mit Erika Pluhar

Schicksalsschläge / 2. März 2001, "Annabelle"

Symbolbild Thema Porträts

Wir sitzen im "Häuserl am Himmel", einem Ausflugsrestaurant am Rande des hügeligen Wiener Walds, trinken eine heisse Schokolade, die die winterliche Kälte aus unseren Gliedern vertreiben soll, und folgen den Spuren von Nelly und Rudolf. Nelly und Rudolf sind die Hauptfiguren in Erika Pluhars neuem Roman "Verzeihen Sie, ist das hier schon die Endstation?" Nelly ist eine 54jährige Frau, die wunderbar Klavier spielt aus Prag stammt und erstmals in ihrem Leben Wien besucht. Rudolf ist 62, Alkoholiker und war bis vor kurzem Dramaturg am Wiener Burgtheater. An einem Mainachmittag kreuzen sich zufällig die Wege dieser beiden einsamen Menschen, und sie legen ein Stück gemeinsam zurück, indem sie einander auf der Terrasse des "Häuserls am Himmel" ihre Lebens- und Liebesgeschichten erzählen. Zwölf Stunden lang, bis der Morgen graut und sie sich dank der schonungslosen Offenheit ihrer Schilderungen so nahe gekommen sind, dass Nelly auf Rudolfs Frage, ob er sie küssen dürfe, mit "Ja. Ich warte längst darauf" antwortet.

Erika Pluhar hat diese berührende Geschichte in Dialogform in zwei Etappen geschrieben. Begonnen hat sie 1999 zu einem Zeitpunkt, da sie dem Fortgang ihres Lebens voller Zuversicht entgegenblickte. Sie hatte sich an ihrem sechzigsten Geburtstag endgültig vom Burgtheater verabschiedet und war "froh und erleichtert, der Schauspielerei entflohen zu sein", jener Tätigkeit, die ihr nach vierzig Jahren "zum Alptraum" geworden war. Nicht länger musste sie in irgendwelche Rollen schlüpfen und sich darauf beschränken, "Sprachrohr"zu sein. Von jetzt an würde sie sich ausschliesslich musikalischen, literarischen, auch filmischen und politischen Projekten widmen, die ihre Handschrift trugen.

"Faschistoides Milieu"

Voller Energie nahm sie Neues in Angriff, darunter das Schreiben des Romans, der keineswegs zufällig im Umfeld des Burgtheaters angesiedelt ist, mit dessen Protagonisten sie hart ins Gericht geht. Von einer Abrechnung will sie allerdings nichts wissen: "Nein, ich rechne nicht ab, aber ich habe mich lustvoll in meine Abneigung gegen das Theater hineingeworfen." Begeisternd, wie sie diesen Satz mit ihrer rauen tiefen Stimme, leicht wienerisch angehaucht und in schleppendem Tempo hervorbringt, ohne eine Miene zu verziehen. Erika Pluhar, soviel sei nachgetragen, hatte das Milieu, das während der zwöljährigen Intendanz von Claus Peymann am Burgtheater herrschte, öffentlich immer wieder als "faschistoid" gebrandmarkt.

Ihr neuer Roman nahm Gestalt an. Frei von irgendeinem Konzept liess sie sich von den Einfällen des Tages leiten, immer wieder selbst überrascht, wohin Nelly und Rudolf sie führten. Dann holte das Schicksal sie ein. Am 4. Oktober 1999 starb Anna, ihre 37jährige Tochter, an einem Asthmaanfall. Erika Pluhar war gerade dabei, gemeinsam mit ihrem musikalischen Partner Klaus Trabitsch, eine neue CD mit Wiener Liedern aufzunehmen. "Als wir den vierten Titel einspielten - das Lied "Die unerfüllbaren Wünsche" - wurden wir unterbrochen", schrieb sie seinerzeit in ihren persönlichen Aufzeichnungen, "ich erfuhr, dass meine Tochter Anna tot sei." Dieser Verlust, erzählt sie uns ruhig, ja, fast kühl, habe sie "totgeschlagen".

Erika Pluhar, die mit Anna zusammenlebte, hatte den "wichtigsten Menschen" in ihrem Leben verloren, ihr einziges Kind, aber auch ihre engste Gefährtin. In den ersten Wochen nach Annas Tod sei sie kurz davor gestanden, alles hinzuschmeissen und zu sagen: "Aus, Schluss. Ich mag nicht mehr." Sie sei ernsthaft gefährdet gewesen. Nach einiger Zeit aber habe sie realisiert, dass es da noch einen Menschen gab, der sie brauchte und letztlich dazu zwang, weiterzuleben: Ignaz, der damals 15jährige Sohn ihrer Tochter, ihr Enkelkind. Sie stand wieder auf, machte einen Schritt nach dem anderen, wie sie es anschaulich beschreibt, und ging weiter. Sie nahm auch die Arbeit an der begonnenen CD wieder auf, die inzwischen unter dem Titel "I gib net auf" vorliegt. Gleichzeitig schrieb sie ihren Roman zu Ende. Eine Leerseite im Buch zeugt auf symbolische Weise von dem erlittenen Verlust. Dazu verwob sie Annas Tod literarisch verwandelt in die Lebensgeschichte Rudolfs, der seine Geliebte Helene in der Wüste Algeriens elend an einem Asthmaanfall sterben sieht: "Getrieben von einer inneren Notwendigkeit", konstatiert sie mit ihrer irritierenden Klarheit, "musste ich mir von Rudolf diesen qualvollen Tod mit unbarmherziger Genauigkeit schildern lassen."

Vision eines Mannes

Erika Pluhar lässt ihren Roman der eigenen Trauer und Verzweiflung zum Trotz optimistisch ausklingen. Es sei ihr wichtig gewesen, "das Muster einer sinnlichen, liebenden Beziehung zwischen zwei älteren Menschen zu entwerfen." Das sei doch das Schöne am Schreiben, lacht sie nun laut und aus tiefstem Inneren, dass man sich das erschaffen könne, was einem selber fehle. Dazu gehöre auch die Figur Rudolfs, jene "Vision eines Mannes", die es so bisher jedenfalls nicht in ihrem Leben gegeben habe.

Die Geschichte schliesst also mit einem Happy End. Erika Pluhar mag diesen Begriff nicht. Zu sehr widerspricht er ihrer Vorstellung vom Leben, das sich nur dann erfülle, wenn sich der Mensch beständig fortbewege, unterwegs sei, immer wieder Abschied nehme und sich Veränderungen unterziehe. Erstarrung, sagt sie, sei etwas, was sie niemals ertragen könnte.

Angesichts der bitteren Kälte neigen wir zumindest an diesem grauen, bedeckten Januarnachmittag dennoch dazu, in der wohlig warmen Gaststube des "Häuserls am Himmel" sitzenzubleiben. Erst als uns Fotograf Michael Winkelmann mit österreichischem Charme davor warnt, dass ihm "das Licht wegzulaufen" drohe, packt Erika Pluhar entschlossen ihre schwarze Lederjacke, stülpt sich ihr wollenes Beret über die dichten grauen Haare und stiefelt mit ihm über die eisig gefrorene Wiese vor unserem Restaurant zum Fototermin. Geduldig harrt sie aus. Unseren Spaziergang längs des Wiener Waldes verschieben wir nochmals auf später.

Zurück an der Wärme sind wir über kurz oder lang wieder bei den Schicksalsschlägen. "Ja, die Schicksalsschläge", sinniert Erika Pluhar. Wenn sie ihr bisheriges Leben von aussen betrachte, sei sie mitunter selber erstaunt, welch "seltsame Anhäufung" sich ihr da präsentiere. "Nehmen Sie nur die Männer, die einmal meine Männer waren: den Udo Proksch oder den Heller, das waren ordentliche Kaliber, Mann-Männer sage ich immer, die man überleben musste."

Sie überlebte beide, obwohl sie in jener Zeit noch ganz unsicher war, eine junge Schauspielerin, die sich mit falschen Wimpern, Haarteilen und ausgestopften Büstenhaltern tarnte und zum Vamp hochstilisieren liess, obwohl sie keine Ahnung hatte, wer sie selber eigentlich war. Eine zwar kurze, aber sehr glückliche Beziehung mit dem Schauspieler Peter Vogel schloss sich an. Sie war gerade 40 Jahre alt, als dieser "Hand an sich legte", wie sie es nennt, und sie in eine tiefe Krise stürzte.

Nichts mehr zu verlieren

Angesichts dieses Schlags habe sie realisiert, dass sie nichts mehr zu verlieren hatte. Sie habe erkannt, dass sie nicht so "amorph" wie bisher weiterleben konnte: "Schön Theaterspielen und sonst nichts tun, ging nicht mehr." Sie musste endlich selbständig werden und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen. Aus der reinen Interpretin wurde sie immer mehr zur kreativen Akteurin, die ihre Liedertexte selber verfasst, 1981 ihren ersten Roman vorlegte und gleichzeitig die "wunderbare musikalische Partnerschaft" mit Antonio d'Almeida und dem verstorbenen Peter Marinoff einging. Dazu habe sie begonnen, sich "politisch umzuschauen" und "die Verantwortung" für sich "als eine Person des öffentlichen Lebens wahrzunehmen".

Erika Pluhar mischte sich ein; sie verfasste offene Briefe, gab in den Medien gezielt Statements ab, die "wenn schon, dann wahrhaft" sein mussten. In ihrem Buch "Der Fisch lernt fliegen", das ihr öffentliches Leben der vergangenen zwanzig Jahre dokumentiert, weht einem denn auch ein politischer Geist entgegen, der manchmal naiv, immer aber wild entschlossen gegen Gewalt, Umweltzerstörung und Diskriminierung zu Felde zieht, kurz gegen alles, was ihrer zutiefst menschlichen und sozialen Sicht der Gesellschaft zuwiderläuft. Bereits 1995 warnte sie eindringlich vor dem rechtspopulistischen Politiker Jörg Haider und musste sich damals noch von ihrer Umgebung auslachen lassen: "Erika, du übertreibst."

Doch sie hatte kein bisschen übertrieben, ganz im Gegenteil. Haiders ausländerfeindliche FPÖ ist heute Teil der Regierung und bringt dem Land nichts als Schimpf und Schande. "Der Haider muss weg", sagt sie aufgebracht, "egal, was nachher kommt." Sie trägt denn auch das Ihre dazu bei, seinen Niedergang zu beschleunigen. Selbst in Kärnten, seinen Stammlanden, singt sie gegen den Willen der Konzertveranstalter ihr sogenanntes Haider-Lied und verwickelt die Zuhörenden beim anschliessenden Umtrunk in politische Diskussionen, bei denen sie sie mit der Direktkeit ihrer Fragen "aufzuweichen versucht." Im Hinblick auf die bedeutsame Wiener Landtagswahl ist sie einem Komitée zugunsten des amtierenden SPÖ-Bürgermeisters Michael Häupl beigetreten und kämpft für "ein rot-grünes Wien".

Die Heuchelei Haiders

Auch wenn sie kein "äusserlicher Machtfaktor" in ihrer Heimat sei, dazu stehe sie in den einschlägigen Gesellschaftskreisen - "Gott lob" - viel zu sehr am Rande, realisiere sie immer mehr, dass sie "keine so ganz unwichtige Figur" sei. Haider lasse sie auf jeden Fall in Ruhe, obwohl sie ihm schon mehrmals Anlass zu einer Klage gegeben habe und er "ja normalerweise wildherum Klagen einreicht." Wer weiss, vielleicht ist die unbestechliche Gegnerin ihm ja auch unheimlich, weil sie auszusprechen wagt, was offenbar andere nur denken: "Haiders Umfeld, seine Attitüden lassen den Schluss auf ausgeprägte homophile Neigungen zu." (Bild der Frau, 20. März 2000) Das beinhalte bei einem strammen Familienvater und Befürworter der Mutterkreuz-Ideologie "natürlich die grösste Heuchelei."

Der Nachmittag neigt sich dem Ende entgegen. Wir machen uns doch noch auf den Weg, schlotternd und über die Kälte wehklagend. Der immer heftigere Wind lässt uns kaum das eigene Wort verstehen. Michael Winkelmann muss die Batterien seines Fotoapparats auswechseln, weil sie eingefroren sind.

Erika Pluhar mag diesen Weg, der ihr an klaren Tagen einen Ausblick über ganz Wien eröffnet. Dann lässt sie sich die Himmelsstrasse hinaufchauffieren, verweilt womöglich ein wenig im "Häuserl am Himmel", wo sie den Touristen und Wanderern unbemerkt, aber voller Neugier bei ihren Unterhaltungen zuhört, und schreitet dann aus, entlang dieses Weges, atmet tief durch und kehrt schliesslich in ihr zweihundert Jahre altes Wohnhaus in Grinzing zurück. Ein "gütiges, altes Haus", das ihr gleichzeitig auch als Arbeitsstätte dient.

Zwei, drei Seiten schreiben pro Tag

An ruhigen Nachmittagen schreibt sie. Die Vormittage verbringt sie mit ihrem Sekretär, einem ausgesucht höflichen Herrn Perschy, und erledigt Organisatorisches. Wenn es ihr bis zum Abend gelinge, zwei, drei Seiten zu schreiben, sei sie zufrieden. Dann geniesse sie die verbleibenden Stunden des Tages und widme sich mitunter bis tief in die Nacht der Lektüre von Romanen wie jenen von John Irwing, die sie besonders mag.

In den nächsten Tagen fliegt sie nach Santiago de Chile und geht an Bord eines sogenannten Traumschiffs, auf dem sie gemeinsam mit ihrem langjährigen musikalischen Gefährten Antonio d'Almeida zweimal wöchentlich ein Konzert geben wird. Nach drei Wochen wird sie in Rio de Janeiro eintreffen und nach Österreich zurückkehren. Sie liebe die "Gemeinsamkeit des Musizierens", sagt sie voller Freude, "in solchen "Momenten der Einhelligkeit werde ich sogar heute noch richtig froh." Zuversichtlich schaut sie zudem einem Filmprojekt entgegen, das sie im Frühjahr in Kooperation mit dem österreichischen Fernsehen an die Hand nehmen wird: Die Verfilmung ihres Drehbuchs "Marafona", bei dem sie auch als Regisseurin und Schauspielerin wirken wird. Sie sei tätig wie nie zuvor und lerne nach wie vor Neues. Nach einem kurzen Schweigen fährt sie fort: "Trotzdem finde ich es seit dem Tod meiner Tochter auch ganz schön, dass irgendwann einmal alles aufhört und ich das Zeitliche segnen werde. Annas Tod hat mich von jeder Ängstlichkeit befreit; ich fürchte mich vor gar nichts mehr."

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© Barbara Lukesch