Was unter dem Strich bleibt

Prostitution / 26. April 2006, "Annabelle"

Symbolbild Thema Sexualität

Im ältesten Gewerbe zählen 40-Jährige bereits zum alten Eisen. Wer in früheren Jahren den Ausstieg nicht schafft, muss weiter anschaffen, obwohl der Kampf um Freier immer härter wird.

Marianne S. * ist eine unscheinbare, ältere Frau. Ihre Haare sind blondiert und müssten nachgefärbt werden. Ihr Gesicht mit den tiefen Augenringen und der fahlen Haut zeigt Spuren eines Lebens, das nicht immer einfach war. Bei unserem Treffen trägt die knapp Sechzigjährige einen beigen Mantel mit Kapuze, eine schwarze Hose und wetterfeste Schuhe. Ihr rechtes Bein zieht sie nach. Demnächst muss sie an der Hüfte operiert werden - obwohl sie es sich eigentlich nicht leisten kann. «Ich muss jede Nacht raus», seufzt sie, «sonst verdiene ich nichts.»

Die Ostschweizerin schafft seit vierzig Jahren als Prostituierte auf dem Strassen- beziehungsweise Autostrich auf der Berner Allmend an. Sommers wie winters, bei jedem Hudelwetter, schlüpft sie abends in ein Lackkleid, streift ihre schwarzen Stiefel mit den zwölf Zentimeter hohen bleistiftdünnen Absätzen über, rüstet sich mit Kondomen, Gummihandschuhen und ihrem Tränengasspray aus und bezieht ihren Standort auf dem riesigen Parkplatz gegenüber dem Stade de Suisse, dem ehemaligen Wankdorfstadion. Dort wartet sie auf Kunden, die im eigenen Wagen ankommen, sich aber in ihren Mazda begeben müssen, wenn sie die Dienste der erfahrenen Sexarbeiterin beanspruchen wollen.

Weder Kerzen noch Champagner

Auf dem Autostrich geht es nüchtern zu. Da werden keine grossen Gespräche geführt, es brennen weder Kerzen, noch wird Champagner ausgeschenkt. Wer fünfzig Franken zahlt, kriegt eine Feinmassage, Oral- oder Geschlechtsverkehr. Das geht ruckzuck. Nach vier bis fünf, höchstens zehn Minuten knöpft Marianne S. ihr Kleid wieder zu, rückt ihre Strumpfhose mit dem grossen Loch im Schritt zurecht, entsorgt den Gummi, ohne den es bei ihr gar nichts gibt, und hofft, dass möglichst bald der nächste Freier auf der Bildfläche erscheint. Als das Geschäft noch richtig gut lief, bediente sie bis zu sechzig Männer pro Nacht. An Weihnachten, wenn die Eheprobleme eskalieren, kamen auch schon achtzig. Da sei es auf der Allmend zu und her gegangen wie im Taubenschlag. Marianne S. erinnert sich gern an diese Zeit. Sie lacht, als sie von diesen Nächten erzählt, in denen «ich gefragt war wie nie». Seitdem die Stadt Bern die Parkplätze auf der Allmend nachts absperrt, ist der Autostrich an den äussersten Rand gedrängt worden, und Marianne S. muss sich oft mit fünf, sechs Freiern begnügen. Stammkunden melden sich per SMS und lassen sich von ihr gegen einen Aufpreis von der Autobahnraststätte Grauholz, wo sie den eigenen Wagen stehen lassen, auf die Allmend chauffieren und bedienen.

Auf der Berner Allmend hat Marianne S. Heimvorteil. Dort kennt sie jeden Winkel und kann sich in brenzligen Situationen auf ihre Kolleginnen verlassen: «Wenn ein Kunde aufdringlich wird, schreie oder hupe ich. Egal, wie gross die Konkurrenz unter uns Frauen auch sein mag, in einem solchen Moment helfen wir einander. Das ist ein eisernes Gesetz und hat sich immer bewährt.»

Darüber hinaus ist der Autostrich auch einer jener Bereiche des Sexgewerbes, in denen eine Frau ihres Alters überhaupt noch Chancen hat, ihren Beruf auszuüben. «Bei uns ist es dunkel oder mindestens so schummrig, dass selbst ich, entsprechend zurechtgemacht, noch als Vierzigjährige durchgehe.» Ausserdem zieht der Autostrich viele Männer an, die «ihre Sache schnell, ja, mechanisch erledigen» wollen und keinen Wert auf Schönheit oder Jugend legen: «Die Frau, die frei ist, wird genommen.» Unter diesen Umständen finde sogar ihre mit 72 Jahren älteste Kollegin immer noch vereinzelt Kundschaft. Im Gegensatz dazu setzen Nachtclubs und Animierlokale ausschliesslich auf die Karte Jugend, und auch in Salons und Bordellen werden vor allem Frauen zwischen zwanzig und dreissig angestellt. «Innerhalb des Sexgewerbes», sagt Martha Wigger, Sozialarbeiterin bei der Berner Beratungsstelle Xenia, «gilt eine Frau mit vierzig gemeinhin als alt, ja, zu alt.» Die Erotikinserate in den Tageszeitungen bestätigen dies. Dort bieten sich in erster Linie «Top-Girls», «Jungsklavinnen» und «blutjunge Teenies» an, die höchstens 25 Lenze zählen. In seltenen Fällen stösst man auf eine Mittvierzigerin, die ihr Alter nicht verhehlt, sondern daraus ein Markenzeichen macht. Diese Frauen preisen sich dann als «reif», «stilvoll» oder «gepflegt» an.

Sich auf dem Markt behaupten

Eine von ihnen inseriert im Zürcher «Tages-Anzeiger» als «Swiss Lady, 45, schlank, ganz privat, will Abwechslung im Leben». Ihr Geschäft läuft gut, sagt sie am Telefon. Zu ihr kommen vor allem ältere Männer bis zu siebzig und mehr, «viele haben Potenzprobleme», wollen in erster Linie gar keinen Sex, sondern ein «bisschen Zärtlichkeit» oder auch einfach nur reden. «Ihnen gefällt es, dass ich anders als die Prostituierten in den Salons nicht im Akkord arbeite, sondern jedem Einzelnen mit Geduld und Verständnis begegne.» Und sie schätzen offensichtlich den privaten Rahmen: «Gerade unter den älteren Männern gibt es einige, die sich nicht ins Bordell trauen und lieber zu mir nach Hause kommen.» Angst vor Übergriffen hat die «Swiss Lady» nicht. «Wer blöd tut», stellt sie mit tiefer Stimme klar, «macht schon an der Wohnungstür kehrt.»

Allerdings können sich die wenigsten älteren Prostituierten auf dem Markt so behaupten wie die «Swiss Lady». Manche kommen noch in privaten Studios, Salons und grösseren Etablissements unter und können sich dort über Wasser halten, bis sie das AHV-Alter erreicht haben. Diese Frauen haben vielfach Stammfreier, die mit ihnen gealtert sind und zu denen sie über die Jahre ein Vertrauensverhältnis aufgebaut haben. Ein Typ Freier, darunter überraschend viele junge, sagt Martha Wigger, sucht gezielt die «Mama im Bett» und will nichts lieber als eine reife Fünfzigjährige. Anderen ist das Alter mehr oder weniger egal, wenn die Auserkorene nur blond oder vollbusig oder dunkelhäutig ist. Eine Domina gewinnt für etliche Kunden sogar an Attraktivität, wenn sie über eine gewisse Lebenserfahrung und eine gefestigte Persönlichkeit verfügt.

Ein Kampf ums Überleben ist es allemal, und viele ältere Prostituierte, das erlebt auch Martha Wigger, sind müde und erschöpft. Sie haben über Jahre Nachtarbeit geleistet, stehen bei Wind und Wetter im Freien, verdienen wegen der zunehmenden Konkurrenz aus Osteuropa, Asien und Südamerika immer weniger und gelten bei der Mehrheit der Bevölkerung immer noch als Menschen zweiter Klasse. Neunzig Prozent von ihnen, sagt Martha Wigger, inszenierten deshalb noch heute ein kräftezehrendes Versteckspiel, um ihre Identität zu verheimlichen. Zudem sind Prostituierte gemäss ihrer Erfahrung ähnlich wie Sozialarbeitende besonders stark vom Burnout-Syndrom bedroht. «Die Kunden kommen und laden ungeniert all ihre Probleme ab, und wem es da an der nötigen Fähigkeit zur Abgrenzung fehlt, ist schnell kaputt.»

Mangelnde Alternativen

Dass viele der Frauen angesichts solch widriger Umstände trotzdem den Ausstieg nicht schaffen, hat nachvollziehbare Gründe. Den meisten fehlt es mangels Ausbildung an Alternativen. Und als Fünfzig- oder gar Sechzigjährige sind sie zu alt, um einen beruflichen Neustart zu wagen. Was ihnen bleibt, sind Hilfsarbeiten in Restaurantküchen oder als Putzfrau. Da hängen die meisten lieber noch ein paar Jahre im Rotlichtmilieu dran und bleiben immerhin ihre eigene Herrin und Meisterin.

In dieser Situation bereuen es viele der alten Sexarbeiterinnen bitter, dass sie ihre oft beträchtlichen Einkünfte aus den Glanzzeiten der Prostitution, die bis Ende der Achtzigerjahre währten, nicht angelegt, sondern verjubelt haben. Martha Wigger: «Kaum eine dieser Frauen hat sich um eine Altersvorsorge gekümmert.» Stattdessen haben viele den Stress ihrer gesellschaftlich gering geschätzten Arbeit mit teuren Reisen, einer luxuriösen Garderobe oder exklusiven Autos kompensiert. Dazu sind etliche den Glücksverheissungen der Spielcasinos oder anderer Suchtmittel erlegen.

Auch Marianne S. geriet in diese selbstzerstörerische Spirale. Ihr wurden sowohl ihr Alkoholkonsum wie ihre Spielsucht zum Verhängnis und kosteten sie letztlich ihr gesamtes Erspartes. Heute ist sie clean. Sie versucht verzweifelt, ihre inzwischen bescheidenen Einkünfte aus der Prostitution aufzubessern und verkauft auf privater Basis Kosmetika. Das ist harte Arbeit für die knapp Sechzigjährige, die jetzt nicht nur nachts, sondern auch noch tagsüber auf den Beinen ist.

"Regelrechte Euphorie"

Die 45-jährige Tina Morand gehört zu den wenigen, denen es anders erging. Die Zürcherin stammt aus einfachen Verhältnissen. Ihr Vater war Angestellter, ihre Mutter Hausfrau. Das Leben ihrer Eltern kam ihr trostlos, miefig und verlogen vor, und sie wusste bereits in jungen Jahren, dass sie einen anderen Weg einschlagen würde: «Ab 14 dachte ich daran, Hure zu werden.» Ihrem Vater zuliebe machte sie zwar noch eine KV-Ausbildung und begann, auf einer Bank zu arbeiten. Doch damit hatte sie ihre Schuldigkeit getan. Als sie mit knapp zwanzig durch eine Zufallsbekanntschaft im feinen Zürcher Hotel «Schweizerhof» in die Prostitution geriet, witterte sie Morgenluft. Endlich zeichnete sich das Leben ab, von dem sie immer geträumt hatte: Männer von Welt, teure Restaurants, Champagner - und sie mittendrin, jung, schön und begehrt.

Innerhalb weniger Jahre erwarb sie sich den Ruf einer Edelhure, die sich ihre Kunden aussuchen konnte. Wenn sie zehn oder noch mehr Freier an einem Tag hatte, geriet sie in eine regelrechte Euphorie. «Ich war immer schon geil auf Geld», sagt sie ungeniert, «und allein der Gedanke an die vielen Scheine, die ich an solchen Tagen verdiente, machte mich high wie Menschen, die auf Drogen sind.» Solange die Kasse stimmte, war ihr alles andere «piepegal». Sie kannte keine Skrupel, hatte «null Hemmungen», erfüllte nahezu jeden Kundenwunsch und verteilte sogar Zungenküsse, was jahrzehntelang unter Huren tabu war. Alles in allem bediente sie mindestens 10 000 Freier. «Wahrscheinlich waren es noch viel mehr», lacht sie fröhlich.

Je mehr, auf jeden Fall, desto besser, denn schliesslich begriff sie sich gemäss eigenen Worten als «Managerin» ihres Körpers und betrieb ihren Beruf «nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten». Konkret: «Ich verkaufte meine Muschi, mein Po-Loch, meinen Mund an den Mann, der dafür bezahlte, mich für wenige Minuten oder Stunden exklusiv benutzen zu dürfen.» Ihre Rechnung ging auf. Heute ist sie millionenschwere Besitzerin verschiedener Mehrfamilienhäuser, schafft selbst nicht mehr an, führt aber nach wie vor das Bordell Saphir im Zürcher Kreis 3 und einen Escort-Service. Dazu ist sie Mutter eines zwölfjährigen Buben und eines zehnjährigen Mädchens und wohnt mit ihren Kindern und ihrem Partner im Zürcher Oberland. Als sie schwanger wurde, stieg sie aus der Prostitution aus. Sie war 32 Jahre alt und hatte ihren beruflichen Zenit sowieso überschritten. Ihrer Zukunft schaut sie getrost entgegen: «Ich bin finanziell unabhängig.» Altersbedingten Ermüdungserscheinungen ihres Körpers rückt sie mit Hilfe der Schönheitschirurgie zu Leibe. «Dazu ist sie ja da», sagt sie und strahlt zufrieden.

150 Angestellte

Auch Inge Keller (44) blickt auf eine eigentlich erfolgreiche Karriere im Sexgewerbe zurück. Mit 19 stieg sie wegen des Geldes in die Prostitution ein. «Das bisschen Fickerei», konstatiert sie lapidar, «fand ich nicht schlimm. Ich hatte es lustig, habe nette Männer kennen gelernt und bin zwischen Ibiza und Kalifornien hin- und hergejettet.»

Als sie nicht mehr selbst anschaffen mochte, eröffnete sie ihren eigenen Salon. Vier weitere Geschäfte kamen dazu. Zuletzt beschäftigte sie 150 Angestellte und war damit als einzige Frau hier zu Lande in die «Spitzenklasse des Sexgewerbes» vorgedrungen. «Ich war auf einem Egotrip», sagt sie, «und konnte meinen Geltungsdrang herrlich ausleben. Wenn ich in einen meiner Läden hineinlief, setzten sich Kunden und Personal aufrecht hin. Das gab mir einen Kick.»

Doch das Geschäft wurde härter. Jeder gestrauchelte Taxifahrer, höhnt sie heute, habe bald sein Puff eröffnet, und jede Frau, die ein Nail-Studio betrieb, habe noch husch, husch zwei, drei Kunden pro Tag gemacht. Dadurch sei der Markt kaputtgegangen. «Die Preise sind im Keller und die Freier so unverschämt und respektlos wie nie.» Inge Keller musste ihre Geschäfte bis auf ihr 2000 Quadratmeter grosses Etablissement Club Palace in Root bei Luzern verkaufen. Der Konkurrenzkampf hat sie ausgebrannt, bitter gemacht. Mit einer ruckartigen Geste wirft sie ihre schwarze Mähne über die Schulter und blitzt herausfordernd mit den Augen: «Was solls. Du wirst allein geboren und stirbst allein, alles zwischendrin ist nur die Mittelstation zum Himalaja.»

Eigentlich würde sie sich gern aus dem Rotlichtmilieu zurückziehen und einen Neubeginn wagen. «Nur, was soll ich machen?», fragt sie ratlos. «Will ich etwas Seriöses aufziehen, kriege ich ja nicht einmal einen Kredit von der Bank.»

Fantasien solcher Art hat sich Marianne S. gar nie erlaubt. Sie denkt nur an das nahe Liegende, daran, dass sie wohl bis ins hohe Alter auf der Berner Allmend anschaffen muss. Und hat deshalb nur einen Wunsch: «Die Stadt soll endlich unsere Parkplätze nachts wieder freigeben.»

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© Barbara Lukesch