Garten der Früste

Sexleben / 28. September 2005, "Annabelle"

Symbolbild Thema Sexualität

Der simple Koitus ist ein Auslaufmodell. Der homosexuelle Sexualwissenschafter Martin Dannecker* sagt, was bei heterosexuellen Paaren wieder Leben ins Sexleben bringen könnte.

Martin Dannecker, Sie behaupteten kürzlich in einem Aufsatz, die Sexualität heterosexueller Paare sei dem Niedergang geweiht. Wie kommen Sie zu dieser Aussage?

Nun, ich beziehe mich auf drei grosse sexualwissenschaftliche Studien aus den USA, Frankreich und England, die nahezu übereinstimmend ergaben, dass der Geschlechtsverkehr in Paarbeziehungen deutlich seltener geworden ist und dass er im psychischen Erleben von Mann und Frau einen geringeren Stellenwert hat als früher. Das sind Fakten, an denen man nicht vorbeikommt.

Worauf führen Sie diese Entwicklung zurück?

Der Koitus hat Konkurrenz bekommen. Sexuelle Spielarten wie Exhibitonismus, Voyeurismus, Sado-Masochismus und Masturbation nehmen inzwischen auch im Leben heterosexueller Frauen und Männer einen Stellenwert ein, den sie früher nicht hatten. Das ist nicht zuletzt eine Folge der umfassenden Pornographisierung unserer Welt, die der Paarsexualität unentwegt Energie abzieht. Da bleibt der Koitus etwas müde zurück.

Wie soll es nun mit dem heterosexuellen Paar weitergehen?

Das heterosexuelle Paar wird sich daran gewöhnen müssen, dass es relativ schnell eine Enttäuschung erlebt, wenn es all seine sexuellen Hoffnungen und Erwartungen an den Koitus knüpft. Stattdessen wird es beispielsweise der Masturbation eine eigene Bedeutung zugestehen müssen. Das passiert ja auch. Studien belegen klar, dass Heterosexuelle früher onanieren und dass der Anteil der Frauen, die sich selber befriedigen, sehr viel grösser geworden ist. Dazu wird die Masturbation nicht länger als Ersatzbefriedigung abgewertet, die nur dann zum Zug kommt, wenn der Partner nicht da ist. Dennoch verheimlichen viele Paare immer noch voreinander, dass sie auch onanieren. Damit hatten homosexuelle Männer nie ein Problem. Für sie war Masturbation immer eine eigenständige und einander zugestandene Sexualität.

Vielleicht würde es sich sowieso lohnen, wenn sexmüde heterosexuelle Paare einmal einen Blick auf die Schwulen und deren gern als lebendiger wahrgenommene Sexualität werfen würden.

Das glaube ich auch. Nehmen wir das Thema Fremdgehen. Heterosexuelle Paare halten ja nach wie vor an dem Dreieick Beziehung - Liebe - Sexualität fest und tabuisieren damit jede Art von Seitensprüngen oder sexuellen Aussenbeziehungen. Sie gehen zwar auch fremd, und zwar gar nicht so selten, aber verheimlichen diese Tatsache konsequent und verhindern damit eine produktive Auseinandersetzung. Kommt es dennoch heraus, steht sofort die Drohung "Ich trenne mich von dir" im Raum. Homosexuelle Männer gehen mit diesem Thema völlig anders um. Sie haben zwar auch langjährige Paarbeziehungen, aber gestehen einander gleichzeitig sexuelle Kontakte nach aussen zu, über die offen gesprochen werden kann.

Wie gelingt es Schwulen, die Angst zu kontrollieren, dass sie den geliebten Partner auf dem Weg verlieren könnten?

Auch schwule Paare brauchen natürlich die Gewissheit, dass sie füreinander die wichtigsten Personen im Leben sind. Aber anders als bei Heterosexuellen läuft das nicht oder nur in einem sehr eingeschränkten Mass über die Sexualität. Und damit ist das sexuelle Fremdgehen keine existentielle Bedrohung für die Beziehung; es ist kein Verrat an der Liebe.

Wie versichern denn Schwule einander, dass sie füreinander die wichtigsten Menschen sind?

Das wird beispielsweise an der Art deutlich, wie man gemeinsam in einer Gesellschaft als Paar auftritt und den Partner vorstellt. Es ist entscheidend, dass man das Possessivpronomen verwendet und sagt: "Mein Freund". Wehe, wenn man hier eine Relativierung vornimmt und den anderen als "einen Freund" präsentiert. Dazu gibt es natürlich auch in schwulen Beziehungen Tabus. Es kann tabu sein, im Rahmen eines flüchtigen sexuellen Kontakts das gemeinsame Bett zu benützen.

Damit ist das Risiko, dass man sich beim Fremdgehen verliebt, aber keineswegs aus der Welt geschafft.

Das ist völlig richtig. Man kann sich über sexuelle Kontakte verlieben, und zwar meistens deshalb, weil die Sexualität in diesem Moment wieder ein Stück der in einer festen Partnerschaft verlorengegangenen Anfangslebendigkeit hat, die man so gern auf Dauer hätte. Aber das gibt es nicht. Wer dieser Hoffnung verfällt, erliegt einer Täuschung und tappt in die Liebesfalle. Dann trennt man sich vielleicht wirklich vom Partner. Aber - und das ist das Interessante - man kann sich ja auch verlieben und trotzdem beschliessen, dass man dort bleibt, wo für einen der wichtigste Mensch ist. Und das kann man diesem Menschen auch kommunizieren.

Das scheint eine hochkomplexe Angelegenheit zu sein und klingt ziemlich anstrengend. Lässt sich diese Beziehungskultur eins zu eins auf die Heterosexuellen übertragen?

Nein, das glaube ich nicht. Heterosexuelle Paare sind sich diese Art anstrengender und oft auch schmerzhafter Partnerschafts- und Sexualitätsarbeit nicht gewohnt beziehungsweise noch nicht gewohnt. Denn meine Zukunftsprognose lautet, dass es mit der Zeit zu einer Homosexualisierung der heterosexuellen Sexualität kommen wird. Das Arrangement heterosexueller Paare, das bei jedem Seitensprung den Abbruch der Beziehung vorsieht, ist emotional einfach nicht sehr ökonomisch.

Wie könnte der sexuelle Wandlungsprozess heterosexueller Paare vor sich gehen?

Die Frauen werden die Initiative ergreifen müssen...

...ausgerechnet die Frauen, die sich mit dem Thema Fremdgehen emotional sehr viel schwerer tun als die Männer?

Täuschen Sie sich nicht. Schon heute machen Frauen und Männer annähernd gleich viele Seitensprünge.

Trotzdem: Warum bleibt wieder die stressige Beziehungsarbeit an den Frauen hängen?

Weil sie bereits jetzt diejenigen sind, die das Thema Sexualität, wenn überhaupt, zur Sprache bringen. Die meisten heterosexuellen Männer hingegen leben immer noch mit der Überzeugung: Alles, was sie an Sexualität mitbringen, sei das Non-Plus-Ultra, und damit basta. Das ist natürlich ein Abwehrverhalten. In Wirklichkeit sind diese Männer nämlich hochempfindlich, wenn das, was sie im Bett machen, in Frage gestellt wird, weil sie befürchten, ihre Potenz einzubüssen. Inzwischen aber bemerke ich vor allem unter jüngeren Männern eine grössere Bereitschaft, ihre Sexualität zur Diskussion zu stellen. Das ist, denke ich, eine Folge der Frauenbewegung, die ausgehend von dem sehr eng geführten Thema der sexuellen Gewalt das Bewusstsein dafür geschärft hat, dass alle Männer sensibler mit ihrer Sexualität umgehen müssen...

...und zum Softie werden?

Nein, das wäre ein Missverständnis. Mit mehr Sensibilität meine ich eine grössere Bereitschaft der Männer, über die eigene Sexualität zu reflektieren. Aber nicht, dass sie ihre Männlichkeit an der Tür zur Paarbeziehung abgeben müssten. Das wäre Unsinn.

Bleiben wir noch ein wenig bei den homosexuellen Männern. Sind sie sexuell mutiger?

Davon bin ich überzeugt. Das hat unter anderem damit zu tun, dass sie mehr sexuelle Erfahrungen mit fremden, unvertrauten Partnern haben, denen gegenüber sie sich weniger Hemmungen auferlegen. Entsprechend hoch ist auch die Zahl jener, die mit sexuellen Formen wie Sado-Masochismus und allen anderen sogenannten Perversionen experimentieren.

Sind Schwule auch deshalb sexuell freier, weil sie eine Randgruppe bilden, die lange Zeit ausserhalb der gesellschaftlichen Normalität angesiedelt waren und eine Institution wie die Ehe erst seit kurzem kennen?

Das hat sicherlich einen Einfluss. Ein Beziehungsmodell wie die Ehe ist immer mit Erwartungen und oft unartikulierten, aber gleichwohl latent vorhandenen Ansprüchen verbunden. Da geschieht ein Stück weit Normierung, da werden Energien, auch sexuelle Energien, in vorgespurte Bahnen gezwängt. Der Wunsch einiger Schwuler, jetzt endlich zu heiraten, stellt einen Anschluss an die Normalität dar und ist in jedem Fall auch mit Einschränkungen verbunden. So überrascht es nicht, dass die homosexuellen Männer keineswegs in Scharen zum Standesamt strömen, und wenn, dann nur aus sehr pragmatischen Gründen. Man will zum Beispiel einem ausländischen Partner den Aufenthalt sichern.

Müssen die Heterosexuellen hemmungsloser werden, um ihre Sexualität aufzuwerten und genussvoller zu erleben?

Die Heterosexuellen sollten tatsächlich versuchen, ihre sexuellen Wünsche und Phantasien vermehrt in die Tat umzusetzen. Stattdessen scheinen sie immer noch von der Angst beherrscht, dass das Ausleben solcher Wünsche zu einem Dammbruch führen könnte, ja, dass ihre Sexualität regelrecht ausarten könnte. Der sexuell hemmungslose Mann wird in diesem angstbesetzten Denken dann zum Don Juan und die Frau zur Hure. Als Therapeut könnte man da paradox intervenieren und sagen: "Das hätten Sie wohl gern, das wird Ihnen aber nicht passieren."

Damit sind die Ängste allerdings noch nicht aus der Welt.

Die bringt man auch nur über Erfahrungen weg. Man muss tatsächlich einmal versuchen, eine Phantasie zu realisieren, um auf dem Weg zu merken, dass sich die Ängste vor dem sexuellen Dammbruch als unbegründet erweisen. Das erfordert natürlich einen gewissen Mut und die Bereitschaft zum Risiko, unter Umständen beim Gegenüber anzuecken. Vielleicht macht man sich bei seiner Partnerin mit einem ausgefallenen Wunsch unmöglich, das kann passieren, aber vielleicht erlebt sie diesen Wunsch auch als Geschenk, das der gemeinsamen Sexualität gut tut.

Wo orten Sie darüber hinaus noch Spielräume, dank denen die die heterosexuelle Sexualität reichhaltiger und lebendiger werden könnte?

Wir hatten bisher eine unglaublich strikt vollzogene Spaltung der Geschlechter in den sexuell aktiven Mann und die sexuell passive Frau. Lange Zeit stand ein Mann, der sich auch seine passiven Wünsche erlaubte, in Gefahr, als unmännlich, weiblich oder dann auch schwul abqualifiziert zu werden. Und eine Frau, die im Bett aktiv wurde, galt prompt als Mannweib.

Diesbezüglich hat sich doch einiges getan. Die Geschlechtergrenzen sind ja dermassen durchlässig geworden, dass man in der Werbung oft nicht mehr klar zwischen Mann und Frau unterscheiden kann.

Genau. Vor allem jüngere heterosexuelle Männer legen inzwischen so viel Wert auf ihre äussere Erscheinung und zeigen sich so gepflegt und attraktiv, dass sie den gern als eitel und narzisstisch verschrieenen Schwulen in nichts nachstehen. Darin kommt ein bedeutsamer Wandel zum Ausdruck: Der heterosexuelle Mann lässt vermehrt seine passiven Wünsche zu, er gesteht es sich auch zu, zum Objekt für das weibliche Begehren zu werden. Diese Entwicklung wird der Sexualität heterosexueller Paare mit Sicherheit Auftrieb geben.

Was ist für Sie guter Sex?

Eine Voraussetzung für guten Sex ist Emotionalität. Das muss nicht unbedingt Liebe sein, aber selbst flüchtige sexuelle Kontakte müssen mindestens in der Phantasie emotional aufgeladen sein, sonst bleiben sie leer und kalt. Die beste Sexualität, die ich in verschiedenen Perioden meines Lebens hatte, hat sich jeweils im ersten Jahr einer Beziehung zugetragen. Da ist die Sexualität, was ja viele Menschen erfahren, ganz ausserordentlich. Sie ist ausserordentlich lebendig und deutlich weniger gehemmt. Es gelingt einem gut, sogenannt perverse Wünsche in die Paarsexualität zu integrieren, was später offensichtlich schwerer fällt. Es ist, als ob die tiefere Liebe der Sexualität etwas von ihrer Lebendigkeit raubt.

Was ist der grösste Verlust, den Paare erleiden, die keinen Sex mehr miteinander haben?

Sie büssen eine elementare Erfahrung von Gemeinsamkeit ein, die es im glücklichsten Fall erlaubt, die Grenzen zwischen dem Ich und dem Anderen aufzulösen. Damit fehlt ihnen unter anderem auch ein wertvolles Mittel, um sich in Spannungssituationen zu versöhnen.

Können Menschen auch ohne gemeinsam praktizierte Sexualität ein Liebespaar bleiben?

Ja. Davon bin ich überzeugt. Paare, die einmal eine erfüllte Sexualität hatten, können auch durch die Erinnerung an gemeinsame Erlebnisse verbunden bleiben. Der Mensch ist ein Erinnerungstier.

Haben Sie eine bessere Sexualität, weil Sie schwul sind?

Nein. Aber weil ich schwul bin, weiss ich mehr über meine Sexualität als der durchschnittliche heterosexuelle Mann.

Sind Sie denn ein besonders guter Liebhaber, weil Sie Sexualwissenschafter sind?

Ich bin, glaub' ich, von Haus aus ganz begabt. (Lacht) Was tatsächlich einen Einfluss auf meine Qualitäten als Liebhaber hat, ist nicht das professionelle Know How - das muss man im Bett schleunigst vergessen-, sondern mein Interesse an Sexualität, meine Neugier auf Sexualität. Beides hatte wahrscheinlich auch einen Einfluss auf meine Entscheidung, Sexualwissenschafter zu werden.

* Martin Dannecker, 62, ist Professor für Sexualwissenschaft an der Universität Frankfurt. Der bekennende Homosexuelle schrieb seine Habilitation zum Thema "Aids und Homosexualität".
Der eingangs zitierte Aufsatz Danneckers trägt den Titel "Die Apotheose der Paarsexualität - Notate zur Veränderung des Begehrens".

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© Barbara Lukesch