Der Reiz des Verbotenen

Sexuelle Fantasien / 17. März 2004, "Annabelle"

Symbolbild Thema Sexualität

Frannie, die Hauptfigur im Film «In the Cut», will bis zur Besinnungslosigkeit genommen werden. Von Malloy, dem mutmasslichen Frauenmörder. Wie wichtig sind Fantasien für guten Sex? Wichtig, sagt die Psychoanalytikerin Monika Gsell. Sie steigern den Genuss.

Monika Gsell, im Film «In the Cut», einem Erotikthriller von Jane Campion, steht eine Frau im Zentrum, die sich in höchstem Mass von einem Mann sexuell angezogen fühlt, von dem sie annimmt, dass er ein brutaler Frauenmörder ist. Wie lässt sich eine solche Leidenschaft erklären?

Um diese Leidenschaft zu verstehen, muss man wissen, dass Sexualität stets eine Mischung aus Libido und Aggression ist, zwei Trieben, die sowohl passiv wie auch aktiv auftreten. Die aktiven Wünsche zielen darauf ab, jemanden zu nehmen, ihn zu packen, in ihn einzudringen; und die passiven bilden das Gegenstück: Man will genommen beziehungsweise penetriert werden. Im neuen Jane-Campion-Film stehen die passiven Wünsche von Frannie, der weiblichen Hauptperson, im Mittelpunkt, und dies in ihrer extremen, aggressiv hoch aufgeladenen Form. Frannie verspürt die heftige Sehnsucht, überwältigt, ja bis zur Besinnungslosigkeit genommen zu werden. Mit Malloy, dem mutmasslichen Frauenmörder, verbindet sie unbewusst die Hoffnung, dass er derjenige sein könnte, der ihre tiefsten sexuellen Wünsche endlich erfüllt.

Malloy erweist sich im Bett aber alles andere als gewalttätig. Er ist ein hochsensibler, zärtlicher und kreativer Liebhaber, mit dem Frannie eine sexuelle Offenbarung erlebt. Ist das nicht widersprüchlich? Erst träumt sie von einem Frauenmörder, und dann tut es ein guter, aber ausgesprochen sanfter Lover.

Nein, das ist kein Widerspruch, im Gegenteil: Wäre er ein Brutalotyp, würde Frannie sofort davonrennen - was sie ja auch tut, im Moment, wo ihre Fantasie Realität zu werden droht. Sie will ja nicht tatsächlich getötet oder auch nur verwundet werden. Was sie will, ist maximale Befriedigung. Malloy verkörpert daher im Grund genommen eine Idealfigur für Frannie: Harmlos in der Realität, aber höchst gefährlich in der Fantasie. Das ist es, was seine Faszination ausmacht und zugleich auch die Intensität des sexuellen Erlebens ermöglicht. Hier zeigt sich auch, wie bedeutsam der Anteil der Fantasien für eine befriedigende Sexualität ist.

Sind passive Sexualwünsche etwas spezifisch Weibliches?

Nein, das sind sie nicht. Beide Geschlechter haben sowohl passive als auch aktive Sexualwünsche und damit eine sehr viel ähnlichere Sexualität, als gemeinhin angenommen wird. Frauen können natürlich auf Grund ihrer Anatomie die passive Position besser befriedigen und Männer die aktive. Daraus resultiert die, ich würde sagen, weltweite Gleichsetzung von weiblich mit passiv und männlich mit aktiv. Eine Gleichsetzung, die auch in den meisten Filmen zu diesem Thema ihren Niederschlag findet.

Ist das wechselseitige Zusammenspiel von aktiven und passiven Wünschen zwischen Männern und Frauen nie dargestellt worden?

Doch, zum Beispiel in Pedro Almodóvars wunderbarem Film «Matador» von 1986. Darin begegnen sich ein Stierkämpfer und eine Rechtsanwältin, die beide die gleiche Leidenschaft haben: Sie wollen töten und getötet werden. Nachdem sie beide je zwei Menschen umgebracht haben, beschliessen sie, diesem Treiben ein Ende zu machen. Sie wollen sich nun gegenseitig töten und damit beide gleichzeitig ihre aktiven und passiven Wünsche befriedigen. Almodóvar inszeniert diesen Tötungsakt wie einen Stierkampf. Rosen werden am Boden verstreut, das Licht ist wunderschön, und am Schluss liegen zwei Leichen da, von denen der eintreffende Kommissar sagt, er habe noch nie in seinem Leben so glückliche Menschen gesehen. Aber die Inszenierung dieser Wechselseitigkeit ist relativ selten, eher noch findet man Filme, in denen ein Rollenwechsel stattfindet, wie zum Beispiel in einem anderen Film von Jane Campion, «Holy Smoke», in dem Harvey Keitel seine passiven Wünsche entdeckt und Kate Winslet den aktiven Part übernimmt.

Ist es nicht so, dass sich die Männer im allgemeinen ausserordentlich schwer tun mit ihren passiven Wünschen?

Sagen wir mal: noch schwerer als die Frauen. Und wenn wir uns Jane Cam-pions «In the Cut» oder Pedro Almodóvars «Matador» vergegenwärtigen, verstehen wir ja auch, weshalb diese Wünsche vom Bewusstsein so schwer zu akzeptieren sind: Weil sie eben in der Fantasie mit höchst bedrohlichen und beängstigenden Bildern verknüpft und dargestellt werden. Für Männer kommt erschwerend hinzu, dass sie die Erfüllung passiver Wünsche unbewusst mit Kastration in Verbindung bringen.

Ist der Mensch in Ihren Augen eine Fehlkonstruktion?

Er ist insofern eine Fehlkonstruktion, als er aktive und passive Wünsche hat, von der Anatomie her aber immer nur die einen oder anderen genital befriedigen kann.

Nun gibt es ja immerhin verschiedene Formen der Ersatzbefriedigung.

Klar, das kann helfen. Dazu können sich Mann und Frau während des Liebesspiels mit ihrem Gegenüber identifizieren, in der Fantasie also in die Haut des anderen schlüpfen, und auf diese Art zu grösserem Genuss kommen. Je aggressiver, sprich leidenschaftlicher dann beispielsweise ein Mann mit seiner Liebespartnerin umgeht, um so befriedigender kann auch ihre Identifikation mit seiner aktiven Rolle ausfallen.

Es fällt auf, wie stark sich unsere Gesellschaft für das Phänomen Androgynität interessiert. Die klaren Geschlechtergrenzen verschwimmen. In Werbung, Mode, Popkultur und Film tauchen immer mehr Figuren auf, die sich nicht mehr eindeutig einem Geschlecht zuordnen lassen.

Dahinter verbirgt sich genau diese Sehnsucht nach der Befriedigung sowohl der aktiven wie auch der passiven Triebwünsche. In diese Kategorie gehört auch David Beckham, der als Fussballer ausgesprochen männlich ist, aber mit der Wahl seiner Kleider, Frisuren und seinem Schmuck auch ausgeprägte weibliche Züge zeigt. Interessant ist ja, dass solche Entwicklungen in Wellen verlaufen. Noch vor zehn Jahren wäre Beckham als Tunte, auf jeden Fall aber als sehr verweiblichte Figur verspottet worden. Heute ist er eine Ikone der Popkultur.

Die Männer legen immer mehr Wert auf ihr Äusseres. Die Zeit, in der ein Mann dick, hässlich und ungepflegt sein konnte und trotzdem noch alle Chancen bei Frauen hatte, ist offenbar vorbei. Müssen sich heute auch Männer als attraktives Sexualobjekt präsentieren, um Begehren auszulösen?

Ich glaube, etliche Männer wollen endlich auch einmal Objekt sein und spüren ihre Sehnsucht nach der Befriedigung ihrer passiven Wünsche. Interessant ist ja, dass sich auch die Frauen seit einiger Zeit wieder ungenierter dazu bekennen, wahre sexuelle Befriedigung zu finden, wenn sie sich hingeben und die Rolle des passiven Sexualobjekts einnehmen./p>

Genau dagegen ist der Feminismus jahrzehntelang angetreten. Eine emanzipierte Frau, hiess es, ist das Subjekt ihrer Handlungen, aber ganz sicher kein Sexualobjekt.

Der Feminismus beziehungsweise die sexuelle Revolution haben tatsächlich sehr viele Fortschritte gebracht. Viele lustfeindliche Tabus wurden beseitigt; wir haben die Entflechtung von Sexualität und Fortpflanzung dank besserer Empfängnisverhütung bekommen. Doch gleichzeitig wurden, wie gesagt, auch neue Verbote verhängt: Frauen durften sich nicht länger zum Objekt machen lassen; der Verzicht auf ihre passiven Wünsche war angesagt.

Wollen sich denn die modernen jungen Frauen - die Karriere machen, sich nehmen, was sie wollen, und selbstbestimmt ihren Alltag gestalten - im Bett wirklich wieder zum passiven Objekt machen?

Hinter dieser Frage steckt ein Missverständnis. Passiv ist im hier verwendeten Sinn nicht das Gegenteil von aktiv: Sich hingeben, sich dem Gegenüber öffnen, den Partner aufnehmen - das ist etwas Aktives. Passiv bedeutet lediglich, dass man - im grammatikalischen Sinn - Objekt einer Handlung ist. Die eigene Subjektivität gibt man damit nicht auf. So gesehen warne ich davor, den Begriff Objekt ausschliesslich negativ zu besetzen. Sexualität ist nur zu haben, wenn sich Menschen auch zum Objekt des anderen machen. Mit Handlungsunfähigkeit hat das nichts zu tun. Das heisst, letztlich ist die Frau, die sowohl ihre passiven wie ihre aktiven Wünsche leben kann, emanzipierter als jene, die nur eine Seite verwirklicht. Ich zitiere immer gern den schönen Satz der französischen Regisseurin Catherine Breillat: «Frauen müssen lernen, Männer genauso zum Objekt zu machen, wie Männer das mit Frauen seit je tun.»

Können Sie das etwas konkreter ausführen?

In meiner Praxis begegnen mir viele Frauen, Zwanzig-, Dreissig-, Fünfzigjährige, das Alter spielt überhaupt keine Rolle, die mir klipp und klar sagen, dass sie sich im Bett eigentlich einen Mann wünschen, der sie - salopp gesagt - nimmt. Gleichzeitig aber haben sie Angst, damit definitiv in die Position des passiven Objekts gedrängt zu werden und auch in allen anderen Lebensbereichen, Beruf, Sozialkontakte, Familie, darin zu verharren. Als ob man sich für die eine oder andere Position entscheiden müsste, als ob man nur das eine oder andere haben könnte.

Aller Aufgeklärtheit zum Trotz klagen die Menschen je länger, je mehr über Lustlosigkeit und Sexmüdigkeit. Wie erklären Sie sich das?

Es gibt natürlich verschiedene Gründe für dieses Phänomen. Was sich sicher sagen lässt: Eine Gesellschaft mit starken sexuellen Tabus und Regeln eröffnet immer auch Fantasieräume, in denen das Unmögliche als möglich erscheint. Deshalb ist das Verbotene ja so reizvoll, weil man sich dort die Erfüllung des Unerfüllbaren erhofft. Wenn nun aber - wie das bei uns heute der Fall ist - eine Anything-Goes-Mentalität herrscht, kann die eigene sexuelle Unbefriedigtheit nicht mehr der Gesellschaft angelastet werden, und man versteht immer weniger, was man eigentlich will. Das führt zu tiefer Resignation und Hoffnungslosigkeit.

Was lässt sich dagegen unternehmen?

Nutzlos sind all die Geschichten in Zeitungen und Zeitschriften, in denen versucht wird, das Sexualleben der Leserschaft mit zahlreichen Tipps anzuheizen: «Verkleiden Sie sich einmal als Hure!» Das kann zur Abwechslung ganz lustig sein, aber wenn diese Idee nicht einer Fantasie entspricht, die im eigenen Unbewussten ruht, bringts nicht viel. Stattdessen sollte man sich hartnäckig fragen: Was will ich eigentlich? Was sind meine ureigenen Wünsche? Das klingt einfacher, als es ist, und hat übrigens nicht nur für die Sexualität Gültigkeit, sondern auch für alle anderen Wünsche nach Selbstverwirklichung, die im Geheimen schlummern oder die man sich nicht recht ernst zu nehmen getraut.

Monika Gsell (42) ist Psychoanalytikerin. Ihre Dissertation hat sie über abendländische Vulvadarstellungen geschrieben. Zurzeit arbeitet sie an einem Forschungsprojekt zum Thema «Weibliche Erfolgsphobie und Aggressionshemmung». Sie hat einen neunjährigen Sohn und lebt in Zürich.

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© Barbara Lukesch