Zum Beispiel Boris, Franz und Mick

Aidsprävention / 13. September 2001, "Die Weltwoche"

Symbolbild Thema Sexualität

Boris Becker und Franz Beckenbauer machten in der letzten Zeit wenig durch sportliche Höchstleistungen, dafür um so mehr durch sexuelle Aktivitäten von sich reden. Beide Männer, der eine Mitte 30, der andere gut 50, liessen in einem Moment ungestümer Lust jegliche Vernunft fahren und gaben sich ungeschützt einem sogenannten "Gelegenheitskontakt" hin. Becker mit einem dunkelhaarigen Fotomodel in der inzwischen weltberühmen Besenkammer des Londoner Luxushotels Metropolitan, Beckenbauer mit einer blonden Sekretärin anlässlich einer Weihnachtsfeier des FC Bayern München. Beider One Night Stand hatte unübersehbare Folgen namens Anna beziehungsweise Johann. Kurz: Becker und Beckenbauer wurden sehr zu ihrem Leidwesen noch einmal Vater.

Es war ein ungünstiger Augenblick, in dem zwei deutsche Sporthelden, der eine gern Kaiser genannt, der andere Baron, Lichtfiguren, Idole und Vorbilder der Jugend, dermassen fahrlässig handelten und jeglichen Aids-, aber auch Empfängnisschutz in den Wind schlugen, mit anderen Worten das Kondom in der Stunde der Wahrheit nicht überstülpten und abrollten. Ungünstig insbesondere deshalb, weil sich die Aidsprävention in einer äusserst schwierigen Phase ihrer Geschichte befindet, und ihre Verantwortlichen auch ohne derart prominente präventive Ausrutscher genug zu tun haben, um die Glaubwürdigkeit und Nachhaltigkeit ihrer Schutzbotschaften zu sichern.

Das Problem mit den guten Nachrichten

Aids hat in den letzten Jahren seinen Schrecken verloren. Aus einer monströsen Krankheit, die bei ihrem Auftreten mit akuter Todesbedrohung gleichgesetzt wurde, ist inzwischen eine Immunschwäche geworden, die dank der Kombinationstherapien zumindest in unseren Breitengraden behandelbar, gleichwohl aber nicht heilbar geworden ist. Betroffene werden nicht länger als Aussätzige wahrgenommen und weit weniger ausgegrenzt. Der Umgang mit ihnen ist von grösserer Gelassenheit geprägt. Medienberichte zu Aids handeln denn auch nahezu ausschliesslich von Therapieerfolgen oder einer vermeintlich kurz vor dem Durchbruch stehenden Impfung. Ansonsten erfahren wir noch, dass der HIV-Virus vor allem in Afrika, Asien oder Südamerika wütet, auf jeden Fall aber nicht länger bei uns.

Das sind zumindest für den Grossteil der europäischen und US-amerikanischen Menschen unzweifelhaft gute Nachrichten. Und trotzdem, so paradox es klingt, machen sie den Präventionsspezialisten die Arbeit schwer. Die Männer und Frauen der Aids-Hilfen können nämlich nicht länger darauf zählen, dass aus der einstigen Todesangst individuelles Schutzverhalten resultiert. Heute befinden sie sich im Spagat zwischen der erwünschten Tatsache, dass im Umgang mit Aids eine Normalisierung eingetreten ist, und der Gefahr, dass diese zu schnell in Banalisierung und Bagatellisierung umschlägt und die nach wie vor unerlässliche safer sex-Botschaft untergräbt.

Erste Studienergebnisse lassen denn auch aufhorchen. In der Romandie sind bereits 24 Prozent der Befragten der Überzeugung, Aids sei heilbar. Noch mehr Anlass zu Sorge geben der Aids-Hilfe Schweiz die aktuellen Zahlen der HIV-Neuinfektionen, die von Januar bis Juli 2001 verglichen mit dem Vorjahr erstmals seit langem um "markante und alarmierende sechzehn Prozent", so Mediensprecher Mark Bächer, gestiegen sind.

Weitere Entwicklungen passen ins Bild. So nimmt auch die Zahl anderer sexuell übertragbarer Krankheiten wieder zu. Der deutsche Sexualwissenschafter Martin Dannecker weiss von mehreren "Frankfurter HIV-Schwerpunktpraxen" zu berichten, "die besorgt auf die deutliche Zunahme akuter Syphilisinfektionen unter ihren Patienten hinweisen." Auch in der Schweiz verfolgt man den entsprechenden Trend mit grosser Aufmerksamkeit.

Kondommüdigkeit unter Schwulen

Kondommüdigkeit macht sich seit einiger Zeit auch unter homosexuellen Männern breit. So wird insbesondere via Internet die Praxis des "barebacking" propagiert, eine sexuelle Technik, in der ausdrücklich auf den Gebrauch des Präservativs beim Analverkehr verzichtet wird. Während das Thema für die Aids-Hilfe Schweiz nicht im Vordergrund ihrer Aktivitäten steht, warnt Dannecker davor, "barebacking" nur in irgendwelchen für die HIV-Prävention nicht besonders relevanten Untergruppen homosexueller Männer anzusiedeln. Kurz: Das unverhohlene Anpreisen kondomloser Fleischeslust kann Schwule allüberall, also auch in Zürich, Bern und Genf, zu riskantem Tun animieren.

Die Bedeutung des Internet haben die Präventionsspezialisten gleichwohl erkannt. Seitdem internationale Studien belegen, dass eifrige Internet-User vermehrt zu einem risiskobehafteten Sexualverhalten neigen, wird das Netz intensiv als Aufklärungsplattform genutzt. Warum virtuelle Surfer stärker zu sexueller Fahrlässigkeit tendieren, erklärt sich Bächer unter anderem damit, dass deren häufig auch reger Konsum von - notabene - kondomlosen Cyber-Sex ihre Wünsche und Phantasien dermassen auflädt, dass sie letztlich auch in der realen Welt auf das als störend empfundene Gummi verzichten. Virtueller Sex also weniger als präventionsförderndes Ventil, sondern viel mehr als Stimulans und Animation zur faktischen Grenzüberschreitung.

Dass der Wille zum safer sex und dem Einsatz des "zum König der Prävention erklärten Kondom" (Dannecker) offensichtlich erlahmt, ist fatal, weil Aids zum einen immer noch nicht heilbar ist und weil andererseits ein Leben mit den Präparaten der retroviralen Kombinationstherapien "alles andere", so Dannecker, "als ein Abendspaziergang ist." Die Nebenwirkungen sind erheblich, die Fragen der Resistenzenbildung und Langzeitwirksamkeit und -folgen nicht geklärt. Darüber hinaus, konstatiert AHS-Sprecher Bächer, überleben Jahr für Jahr mehr Menschen, hierzulande momentan rund 20'000, mit HIV, Männer und Frauen, die inzwischen wieder einem (fast) normalen Alltag nachgehen, arbeiten, wohnen, lieben und nicht zuletzt auch sexuelle Beziehungen pflegen.

"I care. Do you?"

Eine Gruppe, deren Anteil an den HIV-Neuinfizierten seit Jahren kontinuierlich wächst, bilden die heterosexuellen Männer ab 35 Jahren. Während 77 Prozent ihrer jüngeren Geschlechtsgenossen bei sexuellen Gelegenheitskontakten ein Kondom benutzen, sind dies bei den älteren nur 56 Prozent. Im Wissen um die Brisanz dieser Zahl, steht der ältere heterosexuelle Mann im Zentrum der Präventionsanstrengungen. Auch der Weltaidstag am ersten Dezember wird sich dieser Bevölkerungsgruppe annehmen. Der Slogan, der bereits kreiert wurde, lautet: "Men make the difference. I care. Do you?"

Hier schliesst sich denn auch wieder der Kreis zu unseren frischgebackenen Vätern Boris und Franz, denen besser niemand diese Frage stellt. Beide repräsentieren nahezu perfekt die angepeilte Risikopopulation: männlich, heterosexuell, älter beziehungsweise nicht mehr ganz jung und bereit zu schnellem Sex - ohne Schutz. Susanne Matuschek, Leiterin der Sektion Aids im Bundesamt für Gesundheit, konstatiert: "Es ist ärgerlich, dass hier zwei erwachsene Männer unverantwortlich gegenüber ihren Sexpartnerinnen, Ehefrauen und sich selber gehandelt haben." Mindestens genauso ärgerlich für die Präventionsarbeiter müssen die Reaktionen der Medien gewesen sein, die seitenlang und oft augenzwinkernd über die Seitensprünge der beiden Prominenten berichtet haben, ohne allerdings ein Wort über deren Fehlverhalten zu verlieren.

Dafür sprangen mehrere Leser und Leserinnen des "Spiegel" in die Bresche und schrieben Klartext: "Überall wird safer sex propagiert. Nur Boris Becker, Beckenbauer & Co. scheinen Aids für eine Armeleutekrankheit zu halten." oder "Na prima, das ehemalige Vorbild gibt sich ungeschützt einem Quickie mit einer ihm doch offensichtlich Unbekannten hin. Dummdumm Boris..." (Spiegel 8/2001)

Roger Staub, ehemaliger Zürcher Aidsdelegierter, hält diese Leserbriefreaktionen "für den Ausdruck grosser Sensibilität in Sachen Prävention", fühlt aber dennoch angesichts von Beckers und Beckenbauers Tun "eine ähnliche Ohnmacht, wie sie die Anti-Tabak-Arbeiter beim Anblick ständig in der Öffentlichkeit rauchender Hollywood-Stars empfinden müssen."

Keine moralische Wertung

Staub hätte aus der Not eine Tugend gemacht und offensiv auf Beckers und Beckenbauers Fehlverhalten hingewiesen: "Das wäre doch ein gefundenes Fressen für die Medien gewesen", glaubt er, "und dem Thema Prävention wäre viel Aufmerksamkeit garantiert gewesen." Die Verantwortlichen der hiesigen Stop Aids-Kampagne hatten da mehr Skrupel. Als sie kurz davor standen, den "Fall Becker" in einer der meist provokativ gestalteten, monatlichen Zeitungs-Anzeigen aufzugreifen, besann man sich darauf, dass es bisher nicht kampagnenkonform war, das Verhalten von Prominenten moralisch zu werten. Von "moralischer Wertung" will auch der Zürcher Werbeexperte Walter Bosch nichts wissen. Trotzdem hätte er einen witzigen Zugang zum medienwirksamen Stoff gesucht und beispielsweise in einem "offenen Brief" an den "lieben Franz und den lieben Boris" einerseits zur "beachtlichen Virilität und Stärke" gratuliert, um "in einem zweiten Satz auf das Versäumnis der beiden aufmerksam zu machen, dessen Vermeidung in diesem Fall auch vor anderen unliebsamen Spätfolgen geschützt hätte."

Bei der deutschen Bundesbehörde in Sachen Aidsprävention fällt die Antwort auf die Frage, ob man irgendwelche Reaktionen ins Auge gefasst habe, knapp und zackig aus: "Wir sagen nie etwas zu den unehelichen Kindern und der Sexualität einzelner Prominenter." Den Aidspräventionsorganisationen bleibt vorerst nichts als Aufklärung, zum Beispiel am Weltaidstag, an dem jeweils der amtierende Bundespräsident eine Grussbotschaft verliest. Dieses Jahr besteht zumindest die Hoffnung, dass Moritz Leuenberger sich nicht wie sein Vorgänger Adolf Ogi (beide über 35, männlich, heterosexuell) weigert, mit einem Kondom in der Hand aufzutreten.

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© Barbara Lukesch