Lustvoll schwanger

Sex im Ausnahmezustand / August 2000, "Wir Eltern"

Symbolbild Thema Sexualität

Catherine Z. hat ein unkompliziertes Verhältnis zur Sexualität. Kurz vor ihrer Menstruation schläft sie mitunter mit ihrem Mann, weil sie damit das Einsetzen der Blutung beschleunigen kann. Während den sogenannten "Tagen" hilft ihr die körperliche Liebe dabei, sich zu entspannen und die Schmerzen zu lindern. Die Geburt von zwei ihrer drei Kinder löste das Paar mit einem gezielt vollzogenen Geschlechtsakt aus. Die beiden wussten, dass im Sperma das wehentreibende Prostaglandin enthalten ist, das normalerweise von Gynäkologen und Gynäkologinnen in Form von Zäpfchen oder im Wehentropf verabreicht wird. Darüber hinaus, sagt die 39Jährige schmunzelnd, sei Sexualität natürlich auch mit Lust und Leidenschaft verbunden.

Gerade während ihrer drei Schwangerschaften fühlte sie sich "ausgesprochen sinnlich und begehrenswert: Ich war fit und energiegeladen und brauchte mir keinerlei Sorgen um die Empfängnisverhütung zu machen." So hätte sie mit ihrem Mann eine unbeschwerte Zeit voller Erotik erlebt, in der es nebst grosser Leidenschaft auch viel Platz für Spass und Humor gegeben habe. Beim Experimentieren mit ungewohnten Stellungen, die ihnen den Geschlechtsakt trotz dickem Bauch ermöglichen sollten, sei halt immer wieder etwas schief gegangen und habe sie zum Lachen gebracht. Dessen ungeachtet hätten sie einen neuen Versuch gewagt und seien auch meistens zum Ziel gekommen.

Längst nicht alle Frauen haben während der Schwangerschaft Lust auf Sexualität. Romy S. wollte vor allem vom Geschlechtsverkehr und dem Eindringen des Penis in ihre Vagina nichts wissen. Ganz selten einmal war sie bereit, ihren Partner oral zu befriedigen, aber auch das nur, "um ihn ruhigzustellen." Sex, sagt die 42Jährige, spiele in ihrer Ehe sowieso keine grosse Rolle. Oft komme sie nur dem Drängen ihres Mannes nach und erledige ihre "ehelichen Pflichten." Mit dem Beginn ihrer Schwangerschaft sei sie in einen Zustand völliger Lustlosigkeit geraten und habe sich erstmals das Recht herausgenommen, "nein" zu sagen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben: "Ich stand sozusagen unter Mutterschutz und genoss es, meine Ruhe zu haben."

Unsicherheiten und Ängste

Eine Schwangerschaft ist eine Zeit der vielfältigen Veränderungen, die nicht selten auch Spannungen, Unsicherheiten und Ängste auslösen. Während rund vierzig Wochen befinden sich Frauen in einem körperlichen und psychischen Ausnahmezustand, der nicht zuletzt auch ihre Sexualität und die ihres Mannes beeinflusst. Gemäss verschiedener Studien lassen sich zwei typische Verhaltensmuster während der Schwangerschaft unterscheiden: Entweder nimmt die Zahl der sexuellen Kontakte von Monat zu Monat kontinuierlich ab; oder das Sexualverhalten eines Paares verändert sich mit den Phasen der Schwangerschaft und zeichnet sich insbesondere im mittleren Drittel durch gesteigerte Lust und Aktivität aus, während es in den Anfangs- und Schlussmonaten eher zurückgeht.

Studien bilden den Durchschnitt ab. Die einzelnen Paare aber können individuelle Variationen erleben, die die ganze Bandbreite von Lust und Frust abdecken. Während die einen nur noch sanft kuscheln mögen, verbringen andere "Marathon-Liebesnächte voll von ungeahnter Leidenschaft". Dritte vertragen überhaupt keinen Körperkontakt mehr. Susanne P. war es während ihrer ersten Schwangerschaft ständig übel. Sie mochte weder Kaffee noch Wein und hielt es nur schlecht in Gesellschaft von Rauchern aus. Jeder Anflug eines Parfüms war ihr ein Graus. Regelrechten Brechreiz aber verursachte ihr der Anblick von Tieren, Hunden und Katzen, in denen sie nichts als die "reinste Triebhaftigkeit und Fleischeslust" sah, mit der man ihr damals absolut nicht kommen durfte. Sie wurde jeweils starr vor Schreck, wenn sich ihr Mann nur schon auf ihre Bettkante setzte. Nach kurzer Zeit hatte Rolf eingesehen, dass sich seine sonst sehr sinnliche Frau zu keinerlei sexuellen Handlungen verführen liess. Schade, denn er fühlte sich ganz besonders angezogen von ihren üppigen Brüsten und dem grossen Bauch.

Als Susanne zum zweitenmal schwanger war, genügte mitunter eine Berührung und sie war erregt: "Ich war richtig unersättlich", erinnert sich die 40Jährige, "und hätte am liebsten die ganze Zeit im Bett verbracht." Sie entdeckte den Reiz von erotischer Literatur, spürte, wie ihr erstmals in ihrem Leben Sexszenen in Filmen unter die Haut gingen: "Es war eine wildbewegte Zeit mit vielen neuen Erfahrungen." Ihr Partner war beglückt. Manchmal fragten sich die beiden irritiert, was wohl der Grund von Susannes unterschiedlicher Empfindungen während der ersten und der zweiten Schwangerschaft sein mochte.

Schwindende Attraktion

Es gibt zahlreiche Ursachen, mit denen sich das veränderte Sexualverhalten eines Paars während der Schwangerschaft erklären lässt. Diese können körperlicher, psychischer und medizinischer Art sein oder in der Beziehung der werdenden Eltern angesiedelt sein. Viele Frauen fühlen sich vor allem in den ersten Monaten müde und erschöpft, leiden unter der berühmten "morgendlichen Übelkeit", die nicht selten den ganzen Tag andauert, und empfinden Berührungen ihrer Brüste nicht länger als lustvoll, sondern äusserst schmerzhaft. Darüber hinaus schieben sich Gedanken an die familiäre, berufliche und materielle Zukunft in den Vordergrund und machen lustvollen Sexualphantasien den Platz streitig. Mit der fortschreitenden Schwangerschaft und dem Grösserwerden des Bauchs treten zudem körperliche Veränderungen ein, denen etliche Frauen, aber auch zahlreiche Männer nichts Attraktives mehr abgewinnen können. Voller Skepsis, ja, sogar Ablehnung verfolgen sie die Verwandlung einer ehemals jungen, begehrenswerten Geliebten in ein schwerfälliges "Muttertier". Auch wenn sich schwangere Frauen heutzutage nicht länger in unförmigen Umstandskleidern mit Puffärmeln und Spitzenkragen verstecken, sondern enge und figurbetonende Röcke und Hosen tragen, entspricht ihr Anblick nicht jedermanns Schönheitsideal.

"Es gibt Männer", konstatiert der Zürcher Sexologe Peter Gehrig, "die angesichts einer werdenden Mutter an das Inzesttabu erinnert werden und damit jegliche Lust auf Sex verlieren." Andere tun sich nach Aussage des Experten schwer mit der Vorstellung, den Liebesakt "sozusagen in Gegenwart einer dritten Person zu vollziehen." Kurt F., der in wenigen Wochen Vater wird, wollte "den ersten Kontakt zu meinem Kind auf keinen Fall via meinen Penis" erleben.

Mit dem männlichen Glied ist das sowieso für etliche seiner Träger eine ambivalente Sache. Gerade eben noch von grossem Wert für den Zeugungsakt, verwandelt es sich in den Phantasien mancher Männer plötzlich in eine "Waffe", die das werdende Leben zu verletzen droht. Sexologe Gehrig kennt aus seiner Praxis Patienten, deren Sexualität dermassen von Schuldgefühlen überschattet ist, dass nur schon der Gedanke an eine von ihnen als aggressiv erlebte Penetration sie mit Impotenz reagieren lässt. Konfrontiert mit der Schwangerschaft ihrer Partnerin, sagt Gehrig, können solche Männer von gesteigerten Ängsten, nicht nur die Frau, sondern auch ihr Kind zu attackieren, befallen werden. Sexuelle Abstinenz sei dann regelmässig die Folge.

Potente Partnerin verunsichert

Eine Schwangerschaft führt immer auch zu Veränderungen in der Struktur einer Partnerschaft. Aus zwei Personen werden drei. Männer werden zu Vätern, Frauen zu Müttern und sind damit gezwungen, die Beziehung zu ihren eigenen Eltern neu auszurichten. Solche Prozesse binden seelische Energien. Nicht zu unterschätzen ist auch die Verunsicherung der männlichen Identität, die werdende Väter angesichts ihrer als ungewohnt potent und machtvoll erlebten Partnerinnen ergreifen kann. Werden solche Gefühle nicht angesprochen, sagt die Zürcher Paartherapeutin Rosmarie Welter-Enderlin, können sich Eheleute in "nahezu unlösbare Teufelskreise verstricken: Er erlebt sie nur noch auf ihren Bauch fixiert, mit dem sie ‚wichtig tut', und zieht sich voller Ressentiments zurück. Sie fühlt sich verschmäht, schmollt und konzentriert sich nun tatsächlich ganz auf ihre Schwangerschaft. Dabei nähert er sich ihr ja nur deshalb nicht an, weil er Angst vor Zurückweisung hat." Wer es schaffe, so Welter-Enderlin, solche Probleme auf den Tisch zu bringen, habe die grosse Chance, nicht nur die Zeit der Schwangerschaft sexuell glücklicher zu gestalten, sondern auch die künftige Beziehung zu bereichern.

Nun gibt es bei weitem nicht nur lustlose beziehungsweise sexuell abstinente Paare, sondern auch solche, die sich frei von Ängsten vor ungewollter Schwangerschaft oder unbelastet vom Zwang, endlich ein Kind zeugen zu müssen, ihrer Leidenschaft unbeschwert hingeben können. Zahlreiche Frauen erleben sich als "unbeschreiblich weiblich", geniessen ihren grossen Busen und ihre weichen, voluminösen Rundungen und kosten das Gefühl, sich als vollwertige und fruchtbare Frau erwiesen zu haben, voll aus. Sie nehmen auch die zärtliche Fürsorge und Aufmerksamkeit ihrer Partner gern entgegen, lassen sich ausgiebig streicheln und massieren und damit in ungeahnte erotische Höhen tragen. Ein Teil der Männer, weiss Welter-Enderlin, beziehe nämlich aus dem sichtbaren Beweis ihrer Zeugungskraft sexuell Auftrieb und fühle sich "als toller Hirsch", der seiner Frau so liebevoll begegne wie selten zuvor.

Grünes Licht von den Medizinern

Ärztinnen und Ärzte, Sexualwissenschaftler und Hebammen geben heute weitherum grünes Licht für Sexualität während der Schwangerschaft. Die Zeiten, in denen die zwei Monate vor und nach der Geburt zur sexuellen Tabuzone erklärt wurden, sind fast überall vorbei. Susanne Baer Altorfer, Gynäkologin in Zollikon, riet gerade kürzlich einer Patientin, die sich in der 39. Schwangerschaftswoche befand und nichts mehr wünschte als das Einsetzen der Wehen, sie möge nach Hause gehen und mit ihrem Mann "Liebe machen". Sex, sagt Baer Altorfer, tue allen gut, der werdenden Mutter, dem Vater und dem Kind. Auch Ruth Riggenbach von der Hebammenpraxis Bubikon bestärkt Paare, die während der Schwangerschaft, ja, sogar während der Geburt Lust auf Sex haben, darin, diese auszuleben. Gerade weil sie sich in einer besonderen Situation befänden, sagt Riggenbach, hätten Männer und Frauen eine grosse Chance, nicht nur neue Stellungen und Praktiken zu erproben, sondern auch einen ehrlicheren Umgang mit den eigenen erotischen Wünschen, aber auch Abneigungen zu wagen.

Darüber hinaus hält sie Geschlechtsverkehr während der Schwangerschaft auch für eine "gute physische und psychische Vorbereitung auf die Geburt". Ein Orgasmus, so Riggenbach, rege die Durchblutung der Gebärmutter, Plazenta und Scheide an; und das Loslassen, sich Öffnen und Hingeben während dem Liebesspiel sei genau die Haltung, die eine Frau auch während der Geburt einnehmen müsse.

Lutz Götzmann, Mitarbeiter der Sexualmedizinischen Sprechstunde am Universitätsspital Zürich, weist darauf hin, dass es bestimmte Stellungen gebe, die medizinisch an sich unbedenklich seien, von schwangeren Frauen aber als unangenehm empfunden würden. Dazu gehöre, so Götzmann, vor allem die sogenannte "Missionarsstellung", bei welcher die Frau unter dem Mann liege. In dieser Position werde der Druck auf den weiblichen Bauch als störend erlebt. Als unangenehm könne auch das tiefe Eindringen des Penis in die Vagina erfahren werden. Alternativen seien zum Beispiel jene Stellungen, bei denen die Frau auf ihrem Partner sitze oder beide auf der Seite lägen. "Jedes Paar", empfiehlt Götzmann, "sollte ausprobieren, was ihm am besten entspricht."

Erlaubt ist, was beiden gefällt

Ängste vor Verletzungen des Fötus, vor Früh- oder Fehlgeburten zerstreuen die Fachleute mit Nachdruck - "immer vorausgesetzt", so die Gynäkologin Baer Altorfer, "dass die Schwangerschaft komplikationslos verläuft." Was sorgfältig abgeklärt werden müsse und je nach Ursache tatsächlich gegen den Vollzug des Geschlechtsverkehrs sprechen könne, seien Schmerzen im Unterleib, Blutungen, Infektionen, vorzeitige Wehen, der Blasensprung und insbesondere die sogenannte "Plazenta Praevia", eine besondere Lage der Plazenta, die bei Manipulationen zu lebensgefährlichen Blutungen führen könne. In allen anderen Fällen laute das Motto: "Erlaubt ist, was beiden gefällt." Entscheidend sei, dass Paare im Gespräch blieben, ihre Bedürfnisse artikulierten und bei Zurückweisungen des Gegenübers klarstellten: "Ich mag zwar momentan keinen Sex, habe aber nichts gegen dich."

Nicht selten können die während der Schwangerschaft gesammelten Erfahrungen auch dabei helfen, Weichen zu stellen für einen besseren Umgang mit der Sexualität in jener Zeit, die häufig eine noch viel grössere Herausforderung für ein Paar bedeutet: Die ersten Monate nach der Geburt des kleinen Schreihalses, in denen oft entgegen der weitverbreiteten Annahme, dass jetzt wieder Normalität in die Partnerschaft und ihr Liebesleben einkehre, erst recht alles drunter und drüber geht und der glücklichen Zweisamkeit im Wege steht.

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© Barbara Lukesch