"Kinder und Erwachsene sitzen in verschiedenen Kinos"

Grenzen ziehen / Mai 1999, "Sonntags-Zeitung"

Symbolbild Thema Sexualität

Interview zu Kindersexualität mit Gunter Schmidt, Professor für Sexualforschung an der Universität Hamburg.

Herr Professor Schmidt, welche Wissenschaftler haben sich am intensivsten mit der kindlichen Sexualität befasst?

Gunter Schmidt: Die ausgefeilteste Theorie über die sexuelle Entwicklung stammt sicher immer noch von Sigmund Freud. Seine zentrale Erkenntnis - aus heutiger Sicht - war, dass sexuelle Entwicklung nicht vorrangig durch sexuelle Ereignisse bestimmt wird.

Das klingt paradox.

Schmidt: Lassen Sie es mich erklären. Nicht der Klaps auf den Po wegen genitaler Spielereien ist so wichtig. Wichtig sind unsere Erfahrungen, die wir von früh auf mit Bedürfnissen nach Versorgung und Zuneigung machen, mit Beziehungen und Bindungen zu den Eltern und Geschwistern, und unsere Erfahrungen damit, was es heisst, in unserer Gesellschaft ein Junge oder Mädchen zu sein.

Wer hat sich, abgesehen von Freud, der Erforschung der kindlichen Sexualität gewidmet?

Schmidt: Kinsey. Er hatte ein sehr einfaches Konzept. Für ihn war das Kind ein Wesen mit rudimentärer Erwachsenensexualität, bei dem man alle Formen von sexuellen Reaktionen wie Erregung, Erektionen, Feuchtwerden, Orgasmen, sogar multiple Orgasmen mit den dazugehörigen physiologischen Kennzeichen wie Muskelanspannung, Atembeschleunigung und dem glasigen, verlorenen Blick vorfindet. Allerdings weniger häufig und weniger zielgerichtet als bei den Erwachsenen. Dass es diese Reaktionen gibt, ist unbestritten. Aber Kinsey hat übersehen, dass Kinder zwar gleiche oder ähnliche sexuelle Reaktionen wie Erwachsene haben, dass sie ihnen aber andere Bedeutungen zuschreiben. Die kindlichen Skripte von dem, was da passiert, unterscheiden sich entscheidend von denen der Erwachsenen.

Was heisst das konkret?

Schmidt: Ein Kind weiss nicht, wozu es sich an die Genitalien fasst, oder noch grundlegender, was sein Tun bedeutet. Genau hier liegt ja auch das zentrale Problem der Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern. Die sitzen sozusagen in verschiedenen Kinos, da stimmt überhaupt nichts überein. Nehmen wir ein Beispiel: Der Vater sitzt mit seinem Sohn in der Badewanne, fühlt sich wohl, es ist schön warm und er bekommt eine Erektion. Einfach so, ohne dass er die angestrebt hätte. Dieses Ereignis hat für Vater und Sohn eine völlig andere Bedeutung. Für den Vater ist es in der Regel ein Warnzeichen, er denkt sich: Oh, Gott, das darf nicht sein. Für den Sohn aber ist es etwas Interessantes, das seine sexuelle Neugier entfacht. Aufregend, dass da ein Körperteil plötzlich so gross wird. Dass für den Vater damit so etwas wie sexuelle Erregung verbunden sein kann, weiss das Kind noch gar nicht. Vor dem inneren Auge von Vater und Sohn laufen also zwei verschiedene Filme ab. Würde der Vater jetzt die kindliche Neugier ausnutzen und sich zum Beispiel von seinem Sohn am Penis berühren lassen, um seine Erregung zu steigern, wären wir beim Uebergriff.

Zurück zur kindlichen Sexualität, zu Masturbation und Doktorspielen...

Schmidt: ...die Kinder mit grossem Vergnügen ausüben.

Was motiviert Kinder zu diesen sexuellen Handlungen?

Schmidt: Die Suche nach Lustgewinn. Es macht ihnen einfach Spass, sich an den Genitalien oder Schleimhäuten zu berühren oder Hautkontakt zu haben. Hinzu kommt der kindliche Forscherdrang, die Neugierde. Darüber hinaus spielt heute etwas Drittes eine grosse Rolle, und zwar die diebische Freude der Kinder an der Provokation der Erwachsenen. Ich denke nämlich, dass die kindliche Sexualität heute zumindest in der Mittelschicht so provokativ, ja, drastisch und unverfroren daherkommt, dass viele Eltern und Erzieherinnen ratlos davorstehen.

Das müssen Sie etwas genauer ausführen.

Schmidt: Im Rahmen eines Seminars an der Uni haben wir letzthin Erkundungen zur Sexualität von bis zu zehnjährigen Kindern in Kindergärten, Grundschule und Familien gemacht. Das Ergebnis zeigte übereinstimmend, dass Kinder ihre sexuelle Neugier und ihre sexuellen Handlungen an allen drei Orten sehr offen ausleben. Kindergärtnerinnen erzählten von Mädchen, die vor dem Mittagsschlaf deutlich masturbierten. Von Kindern wurde berichtet, die sich kichernd, aber laut und vernehmlich aufforderten: Steck doch mal deinen Pimmel in meine Möse. Oder von einem Jungen war die Rede, der mit seiner Mutter schmuste und plötzlich lachend sagt: Willste nicht auch mal meinen Schwanz küssen? Ich glaube gar nicht, dass sich Kinder mehr als frühere Generationen für Sex interessieren; sie gehen aber insbesondere an jenen Orten wie Familie oder Schule, an denen Sex früher absolut tabu war, sehr viel offensiver damit um. Und die Erwachsenen reagieren verblüfft, amüsiert und auch voller Unsicherheit und Verlegenheit.

Wie erklären Sie das? Schliesslich sind wir doch alle so liberal.

Schmidt: Es ist wirklich merkwürdig. Einerseits wollen wir die kindliche Sexualität auf keinen Fall unterdrücken, denn wir glauben, das gibt schlimme Sachen. Andererseits fehlen uns die Reaktionsmuster, wenn wir mit den sexuellen Aeusserungen der Jungen und Mädchen konfrontiert sind. Was tun? Was sagen? Sich schnell und unauffällig zurückziehen? Das Kind ablenken und vorschlagen, wieder einmal ein tolles Legohaus zu bauen? Wir Erwachsenen sind on defense. In der Hilflosigkeit kommt es dann zu skurilen Kompromissen. Da bat eine Mutter ihren Sohn, der am Tisch mehrfach das Wort "ficken" brauchte, doch stattdessen hin und wieder "bumsen" zu sagen.

Warum sind die heutigen Kinder denn so viel unverfrorener und freizügiger im Ausleben ihrer sexuellen Interessen?

Schmidt: Das ist eine Folge der sexuellen Liberalisierung, die ja unter anderem den Kindern auch ihre Sexualität zugesteht. Sexualität generell ist heute viel öffentlicher und wird deshalb auch stärker an Kinder herangetragen. Sei es, dass sie in Vorabendserien sehen, wie sich zwei Menschen küssen - und nicht nur das, und, zum Glück, nicht nur Mann und Frau, sei es, dass sie auf Plakaten der Aidshilfe lesen "Manche mögen's heiss - aber nur mit Kondomen" und dann natürlich Mutter und Vater in eine Diskussion verstricken.

Welche Rolle für den Umgang mit kindlicher Sexualität spielt die Debatte über den sexuellen Missbrauch?

Schmidt: Sie hat zweifellos einen Einfluss und verunsichert sehr viele Erwachsene. Vielleicht hätte ja unser Vater in der Badewanne früher gelassener auf seine Erektion reagiert und seinem Sohn, frei von sexuellen Hintergedanken, gesagt: Na, guck dir meinen Penis ruhig einmal an. Das würde er heute nicht mehr machen, was ja vielleicht auch besser so ist.

Aber viele Männer fühlen sich ja heute schon in wesentlich unverfänglicheren Situationen unwohl und wagen kaum noch, einem kleinen Mädchen über den Kopf zu streichen.

Schmidt: Das kenne ich aus eigener Erfahrung und aus der Schilderung zahlreicher anderer Männer. Als meine Tochter drei war und mal eine gleichaltrige Freundin mit nach Hause gebracht hat, hatte ich Mühe, als dieses Mädchen mich bat, ihr beim Gang auf die Toilette zu helfen. Ich denke aber, dass wir uns unbedingt von dieser Einschüchterung freimachen müssen. Sonst gerät man ja in eine furchtbar bigotte und für die Kinder ganz und gar abträgliche Haltung, und es zerfällt jeglicher wünschenswerte intime Kontakt Wenn wir nicht mehr wagen, unsere Kinder zu knuddeln, zu herzen, zu streicheln und auf den Schoss zu nehmen, errichten wir Körper- und Kontaktschranken an den falschen Stellen, machen auch eine ganz schlechte Sexualerziehung und schaden der sexuellen Entwicklung unserer Kinder.

Braucht es gemäss Ihrer Einschätzung Regeln, um das kindliche Sexualverhalten in gesellschaftskonforme Bahnen zu lenken?

Schmidt: Ich halte zwei für wichtig. Erstens muss ein Kind wissen, dass die Befriedigung der eigenen Sexualität nicht an die Oeffentlichkeit gehört, weil sich andere Leute dadurch behelligt fühlen können. Und zweitens soll ein Kind möglichst früh lernen, dass es im körperlichen und sexuellen Bereich die Grenzen anderer zu respektieren hat.

Gibt es ein Zuviel an Onanie oder ein übersteigertes Interesse an sexuellen Fragen unter Kindern?

Schmidt: Extrem selten. Aber es kommt vor, wir sprechen dann auch von sogenannt sexualisierten Kindern. Wenn ein Kind tatsächlich auf jede Frustration mit Onanie reagiert, muss man sich schon mal fragen, was das zu bedeuten hat. Wobei es wenig Sinn hat, Verbote auszusprechen. Vielleicht ist ja die Selbstbefriedigung sein letzter Trost. Ich warne allerdings davor, alle herzhafte Freude an der Sexualität oder grosse kindliche Sexualneugier sofort als Sexualisierung zu brandmarken. So wird man den Kindern nicht gerecht.

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© Barbara Lukesch