Die Betriebswirtin von Inge's Palace

Peepshow / Mai 1997, "Die Weltwoche"

Symbolbild Thema Sexualität

Die Sexunternehmerin Inge Keller erobert die Innerschweiz - mit der ersten Live-Peepshow in der Luzerner Altstadt.

Am Montag war die Hölle los. Geschlagene 350 Kilometer bretterte Inge Keller in ihrem anthrazitgrauen Mercedes durch "die halbe Schweiz". Einundvierzigmal piepste ihr Natel. Mit jedem Mal wurde ihre Stimme lauter und ihr "Ja, bitte" schroffer. Wo steckte der Maler? Wann würde der Getränkeautomat geliefert? Welche Reinigungsfirma würde sich nicht zu fein sein, auch Spermaflecken zu beseitigen? Ihr Rücken schmerzte. Nervös trommelte sie mit ihren weisslackierten langen Fingernägeln auf das Lenkrad und zog hektisch an ihrer Philipp Morris. "Da kriegst du doch einen Vogel", beschied sie ihrem mitreisenden Architekten, der an diesem Tag nichts mehr zu lachen hatte.

Kurz vor der Eröffnung ihrer Live-Peepshow an der Luzerner Eisengasse war die Geduld der Sexunternehmerin am Ende. Als sie auch noch erfuhr, dass der Sattelschlepper mit den sündhaft teuren, nagelneuen Videokabinen aus Frankreich während drei Stunden am Zoll versackt war, knallte sie ihrem Architekten die Autotür vor der Nase zu: "Ich glaub', ich spinne, Koni". Den Handwerkern drohte sie mit "Rückschaffung" nach Bosnien, wenn sie nicht termingerecht fertig würden. Dann musste sie noch rasch zu ihrem Treuhänder, zur Bank und zur Post. "Der Depp", murmelte sie nach dem einundvierzigsten Anruf, bevor sie ihr Natel aussteckte. Nach achtzehn Stunden "Action" streifte sie ihre zwölf Zentimeter hohen Pumps von den Füssen, warf ihre schwarze Mähne nach hinten und setzte sich mit Susi, ihrem Yorkshire-Terrier, vor den heimischen Fernsehapparat. Susi legte ihr struppiges Köpfchen auf den Schoss ihres Frauchens, und Frauchen schlief sofort ein. Sendepause.

Seitenwechsel

Inge Keller ist die einzige Frau unter den Grossen im hiesigen Sex-Business. Die Österreicherin, die ursprünglich Betriebswirtschaft studierte und seit fünfzehn Jahren in der Schweiz lebt, ist eine gewiefte Geschäftsfrau. Nachdem sie sich als Domina einen Namen gemacht hatte, wechselte sie die Seiten. Jetzt spielt sie als Besitzerin des 600 Quadratmeter grossen Erotik- und Saunaclubs "Inge's Palace" im luzernischen Agglomerationsdorf Root "in der Bundesliga des Sexmarktes" mit. Um auch künftig am Ball zu bleiben und den rezessionsbedingten Erschütterungen ihrer Branche zu trotzen, entschloss sich die 35jährige zur geschäftlichen Diversifizierung. Sie hatte festgestellt, dass auch ihre zehn "Meitlis" in Root trotz monatlicher Inseratekosten von 15'000 Franken und attraktiver Spezialangebote doppelt so lange wie früher arbeiten müssen und trotzdem nur noch die Hälfte verdienen. "Der heutige Kunde", sagt Inge Keller, "dreht den Franken eben zweimal um".

So entstand die Idee zur Eröffnung eines Etablissements mit Live-Peepshow und zusätzlichen Pornofilm-Kabinen, in dem man(n) bereits für zwei Franken pro Minute dabei ist. Von ihrer österreichischen Freundin und Geschäftspartnerin Manuela Stolz, die in Wien, Innsbruck, Linz und Graz insgesamt acht Peepshows betreibt, wusste sie um die Einträglichkeit dieses Geschäfts. Inge Keller witterte ihre Chance und machte sich mit finanzieller und ideeller Unterstützung aus Österreich an die Arbeit.

Monatelang rannte sie sich "die Hacken ab". Vom Baudepartement ging es zur Feuerpolizei und dann zum Stadtwasseramt. Es sei eine "brutale Lauferei" gewesen, sagt sie, aber heute sei alles - "vom WC-Plättli bis zum Feuerlöscher" - bewilligt, und dem Startschuss stehe nichts mehr im Weg. Sie wusste, dass eine Peepshow mit "richtigen Meitlis" ein Novum in der Geschichte der katholischen Innerschweiz darstellte. Immerhin war ja sogar in Zürich seinerzeit der berühmte "Stützli-Sex" am Limmatquai mit der Begründung, er sei "menschenverachtend", geschlossen worden. Kein Wunder, wollten die Luzerner Amtsstellen die Gesetzestexte gründlich studieren.

Anwohner reagierten heftig

Was Inge Keller viel mehr überraschte, waren die heftigen Reaktionen der Anwohner und Gewerbetreibenden, die ihre Läden in nächster Nähe zu ihrem neuen Unterhaltungslokal haben. Deren Unbehagen gipfelte in der Angst, Frau Keller könne mit ihrer Peepshow aus der einkaufsfreundlichen Fussgängerzone eine Luzerner Reeperbahn machen. Andere befürchteten, dass das Geschäft mit dem Sex auch die Drogenszene wieder an die Eisengasse locken würde. Auf Initiative der Quartiervereins-Präsidentin trafen sich die Betroffenen schliesslich im Rathaus. Mit einer Mischung aus österreichischem Charme und der ihr eigenen Direktheit gelang es Inge Keller im Nu, die Ängste der Anwesenden zu zerstreuen. Ihre Kunden, habe sie betont, hassten nichts mehr als Aufsehen: "Die kommen still und heimlich und verziehen sich auch wieder auf diese Art." Und mit den Fixern, habe sie unmissverständlich dargelegt, verstehe sie schon gar keinen Spass. Da wäre sie selber die erste, die eine neue Szenenbildung bekämpfen würde.

Im Anschluss an dieses Treffen hatte Inge Keller Sympathien und Goodwill gewonnen: "Man wünschte mir viel Erfolg", grinst sie, "und wenn ich heute in der Bäckerei gegenüber Gipfeli 'poschte', sagt man mir sogar 'Guten Tag'".

Am Dienstag kommt 'Helle', der Sex-Grossunternehmer aus dem "heiligen Land Innsbruck", wie er seine Herkunft bezeichnet, nach Zürich geflogen. Kurz vor acht Uhr steht er am Flughafen Kloten: braungebrannt, pechschwarzes schulterlanges Haar, blauer Anzug mit Stehkragen, Cowboy-Stiefel und Brillantschmuck an Fingern, Handgelenk und Ohrläppchen. Ein moderner "Indianer" mit Natel wartet auf seine Geschäftspartnerin.

Punkt acht hastet diese, das eigene Natel schon wieder am Ohr und für einmal ebenfalls mit Wildwest-Stiefeln an den Füssen, in die Empfangshalle. 'Helle' ist da und wird nach dem Rechten schauen. Im Verlauf des chaotischen Montags war in Österreich offenbar der Eindruck entstanden, dass "die Inge" männliche Hilfe brauchte.

Der schweigsame "Halle"

Der Eindruck täuschte. Auch wenn sie am Vorabend "nudelfertig" ins Bett gestiegen ist, sprüht sie am Dienstagmorgen bereits wieder vor Tatendrang. Gelassen chauffiert sie den Mann mit dem Pokerface und dem sparsamen Lachen von Kloten über Land nach Luzern und schildert ihm munter ihren "grauslichen" Montag. Sie schimpft über die Handwerker, die "wie Schildbürger" herumgestanden seien, empört sich über den "geschüttelten" deutschen Techniker, der sie "zum Wahnsinn" treibe.

"Helle" sagt wenig, und wenn er etwas zum Besten gibt, neigt er dazu, laut und heftig zu reagieren. Die Inge aber kennt ihren Partner und weiss, wie er sich wieder besänftigen lässt. Sie erzählt ihm von der ersten Ausfahrt auf ihrer Harley Davidson, vom Boxkampf Angehrn gegen Rocchigiani, den sie live im Zürcher Hallenstadion miterlebt hat ("Geil, wie der Angehrn geboxt hat - und das als Schweizer") und bringt "Helle" sogar zum Lachen, als sie die Geschichte von einem Arbeiter schildert, der sich einen Mercedes 600 SL für 200'000 Franken gekauft hat und nun nur noch "Knacker und Würste" essen kann.

Auf der Baustelle in Luzern merkt "Helle" schnell, dass die Inge, der Hektik vom Vortag zum Trotz, alles bestens im Griff hat. Dafür hat sie ein Kompliment verdient: "Brave!" Per Natel setzt der Peter, ein Kollege aus Linz, sogar noch eines drauf: "Brav, Püppi, ich muss dich loben." Die Inge zeigt Rührung.

Doch dann ist Schluss mit der Samtpfotigkeit. Jetzt nimmt die Geschäftsfrau das Heft wieder in die eigene Hand und zeigt einem Pornofilm-Grossanbieter den Meister: "Du nennst mir zuerst dein Angebot", blafft sie, "und dann schauen wir, ob wir handelseinig werden." Die dreizehnjährige Tätigkeit im Sex-Milieu, einer durch und durch männlichen Branche, haben Inge Keller abgehärtet. Sie musste lernen, sich gegen Rivalität, Intrigen und Neid zu wappnen, sich aber auch gegen die oft groben und anzüglichen Witze und die rüde Sprache des Alltags abzuschotten. Die Handwerker auf ihrer Baustelle fressen sie schier mit Blicken, und Inge Keller weiss genau, was sie denken: "Ha, geile Hure, die sollte man mal flachlegen!" Sie sei sich bewusst, dass man sie nicht als ernstzunehmende Geschäftspartnerin betrachte. "Was soll's?", gibt sie sich abgeklärt. Als "Helle" den Raum betritt, blicken alle auf und sagen "Grüezi, Chef".

"Du denkst mir zu schnell"

Inge Keller ist eine seltsame Pflanze auf diesem steinigen Boden. Zum einen ist sie berechnend, cool und lässt sich kein X für ein U vormachen. Wenn's sein muss, wird sie auch harsch und macht auf "tough girl": "Denk' nicht! Arbeite' Denken tu ich!" Ein Kollege liess sie einst wissen, dass er zwar gern mit ihr geschäftlich verkehre, sie aber niemals bei sich daheim dulden würde: "Inge", sagte er, "du denkst mir zu schnell."

Dann ist sie wieder sehr herzlich, schmust mit ihrem Hündchen und zeigt auch ihre Verletzlichkeit. Als es ans Fotografieren geht, wünscht sie sich Bilder, "auf denen ich zehn Jahre jünger und zehn Kilogramm leichter aussehe". Das Sexmilieu hat seinen Preis. An Ausgrenzungen ist sie gewohnt. Wenn ihr renommierte Innerschweizer Firmen aus "ethisch-moralischen šberlegungen" immer häufiger ihre Dienstleistungen wie das Verlegen von Bodenplatten oder die Gestaltung ihrer Schaufenster verweigern, reagiert sie gelassen: "Da staune ich doch, dass es sich Firmen in den Zeiten der Arbeitslosigkeit leisten können, Aufträge in der Grössenordnung von zwanzigtausend Franken abzulehnen." Als ihr dann allerdings auch ihre Bank nach zehnjähriger Zusammenarbeit die Konten kündigen wollte, ging sie auf die Barrikaden und setzte sich durch. Die Bank, empört sie sich, treibe ein doppeltes Spiel. Zum einen sei man sich nicht zu fein, bei ihren Kreditkartenkunden im Salon "happige" sechs bis acht Prozent Kommission "abzuzocken". Zum anderen tue man ihr gegenüber plötzlich so vornehm und berufe sich auf Ethik und Moral: "Das ist doch alles bla, bla, bla".

Nach dem Mittagessen mit "Helle" und ihrem Architekten wird sie müde. Jetzt werden ihre Züge weich, ihr Make-Up ist in Auflösung begriffen und sie verabschiedet sich mit einem zuckersüssen "Servus". Der "Helle" und der Koni sollen sich um die "Pornofülme" kümmern. Sie fährt nach Root und gönnt sich eine Verschnaufpause in ihrem Club. In der Folterkammer, die gerade frei ist, legt sie sich für ein Stündchen auf`s Ohr und tankt frische Energie. Derweil saust Susi durch den Partyraum ihres Sexsalons und spielt mit den "Meitlis" der Nachmittagsschicht.

Am Abend fliegt "Helle" zurück nach Linz und kann nur Gutes berichten: "Die Inge schmeisst den Luzerner Laden."

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© Barbara Lukesch