Die Gynäkologinnen kommen

Run auf Frauenpraxen / 4. Oktober 2001, "Facts"

Symbolbild zum Thema Gynäkologie

Gebräunt, grau meliert, Vertrauen erweckend: Der Frauenarzt gilt als Inbegriff der strahlenden Macho-Figur. Doch vielleicht wird es ihn bald nicht mehr geben. Die Männerflucht aus der Frauenheilkunde hat einen neuen Höhepunkt erreicht. An den Universitätskliniken in Zürich und Basel sind in den Abteilungen für Gynäkologie und Geburtshilfe mittlerweile rund 80 Prozent der Stellen von Frauen besetzt. Das Klischee vom unbestrittenen männlichen Repräsentanten des fürstlich entlöhnten Prestigeberufs lebt allenfalls im Kino weiter - wie im Streifen «Dr. T. & the Women» von Robert Altman mit Richard Gere in der Hauptrolle.

Nicht nur für junge Frauen zwischen 18 und 25 ist der Entscheid, zu einer Gynäkologin zu gehen, inzwischen die natürlichste Sache der Welt. Auch ältere und alte Frauen schätzen das steigende Angebot an Gynäkologinnen-Praxen. Die 74-jährige Paulette Biffiger wechselte zu einer Frau, weil sie «mehr Einfühlungsvermögen» suchte. Sie war der «ungeduldigen, oft oberflächlichen Art der Behandlung» überdrüssig, die ihr bei männlichen Ärzten widerfahren war. Zudem waren ihre Hemmungen, sich vor einem Mann zu entkleiden, mit zunehmendem Alter grösser geworden. Heute findet sie es «unnatürlich, zu einem Gynäkologen zu gehen».

Gynäkologinnen sind verständnisvoller

Die Gründe, warum Frauen sich lieber eine Frauenärztin suchen, sind vielfältig. Vor allem tun sie es, weil Gynäkologinnen weit herum als verständnisvoller gelten. «Wie soll denn ein Mann nachvollziehen können», fragen viele Patientinnen, «was Menstruationsbeschwerden oder Presswehen sind?» Frauen schätzen, dass ihre Ärztin auch mal zugeben kann, dass sie etwas nicht weiss oder umstandslos die Konsultation eines Spezialisten empfiehlt. Statt vermeintliche Allwissenheit und Diplome mit Titeln suchen Patientinnen in erster Linie ein vertrauensvolles Gegenüber, das ihnen Zeit und ein offenes Ohr schenkt.

Am Run auf die Frauen-Praxen können nicht einmal einzelne negative Erfahrungen mit Ärztinnen etwas ändern. Violanta von Salis, PR-Beraterin aus Biel, schätzte weder die Behandlungsmethode jener Gynäkologin, die ihr zur Behebung ihrer Bauchschmerzen sofort ein Päckchen Ponstan hinüberschob, noch die Art einer zweiten, die sie innerhalb von Minuten abfertigte. Trotzdem hält die 37-Jährige an ihrem Wunsch fest, doch noch eine «ganzheitlich ausgerichtete, frauenfreundliche Ärztin zu finden».

Auch die 52-jährige Zürcher Künstlerin Mara Mars war vom rüden Umgangston einer Gynäkologin so schockiert, dass sie schon bei der ersten Konsultation den Tränen nahe aus der Praxis lief. Dennoch suchte sie sich wieder eine Ärztin und fühlt sich heute «supergut aufgehoben.»

Jede vierte Praxis in Frauenhand

Anfang der Neunziger jahre noch lag in der Schweiz erst jede zehnte Gynäkologie-Praxis in Frauenhand. Heute ist es bereits jede vierte. Dass deren Zahl weiter ansteigen wird, liegt angesichts der Frauendominanz an den Universitätskliniken auf der Hand. Im Zug dieser Entwicklung verlieh die Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte letztes Jahr mehr Frauen als Männern den FMH-Facharzttitel in Gynäkologie und Geburtshilfe, 23 Frauen standen nur 14 Männern gegenüber.

Trotzdem ertrinken die meisten Gynäkologinnen heute noch in der Arbeit. Susanne Baer Altorfer aus Zollikon sagt: «Ich muss jeden Tag zwei, drei Frauen abweisen und könnte problemlos innerhalb Monatsfrist eine zweite Praxis füllen.» Der Versuch, ihre Interessentinnen an männliche Ärzte zu vermitteln, schlage regelmässig fehl: «Viele Frauen wollen einfach nicht mehr zu einem Mann», konstatiert Baer Altorfer, «auch wenn er als sensibel, aufmerksam und kompetent gilt.»

Ähnliche Erfahrungen machen Helene Huldi und Regina Widmer, die beiden Frauenärztinnen der Solothurner Gemeinschaftspraxis Runa. In den vier Jahren des Bestehens ihrer Praxis sahen sie sich gezwungen, Tag für Tag mindestens fünf Anfragen abschlägig zu beantworten.

Forderung nach Männerquoten

«Das Fach liebt die Männer nicht mehr», sagt der Zürcher Gynäkologe Giovanni Bass, der seine Praxis seit kurzem mit seiner Tochter teilt. Er erfahre täglich, wie gesucht seine Tochter sei, derweil bei ihm die Zahl neuer Patientinnen stagniere. Unter diesen Umständen, sagt Bass, würde er einem jungen Kollegen davon abraten, in die freie Praxis zu gehen. «Ich selbst würde nur mit der Garantie auf einen Chefarztposten im Spital nochmals diese Spezialisierung wählen.» Bass hätte womöglich Aussicht auf Erfolg. In der Universitätsfrauenklinik in Zürich meldete sich ein einziger männlicher Bewerber, als es kürzlich darum ging, fünf Stellen zu besetzen. So überrascht es nicht, dass erste Forderungen nach Männerquoten laut werden.

Die Gründe für den Rückzug der Männer aus jener Domäne, der sie jahrzehntelang ihren Stempel aufdrückten, sind in erster Linie «die Angst vor der Frauenkonkurrenz» und die «Befürchtung, auf dem freien Markt weniger gut zu verdienen». Es wird von den Männern als ungerecht empfunden, dass Frauen über einen «klaren Geschlechterbonus» verfügten, währenddem Männer je länger, je mehr auf Misstrauen stiessen. «Es braucht heutzutage tatsächlich ein ganz besonderes Selbstbewusstsein, um als Mann in diesem frauenbeherrschten Fach zu bestehen», räumt die Zürcher Professorin der Frauenheilkunde, Renate Huch, ein.

Vermehrt Teilzeitstellen für Frauen

So verändert sich auch das Klima in den Gynäkologieabteilungen der Spitäler radikal. Junge Assistenzärztinnen mussten früher darum kämpfen, von ihren Kollegen akzeptiert und nicht mit dem geringschätzigen Verweis auf ihre Zukunft am Herd vom Operationstisch verdrängt zu werden. Heute herrschen frauenfreundlichere Arbeitsbedingungen. Sie sind nach Aussage von Runa-Ärztin Helene Huldi «immer noch hart genug, was die zeitliche Belastung betrifft», doch immerhin werden vermehrt Teilzeitstellen und Möglichkeiten zum Job-Sharing geschaffen.

Sibil Tschudin, 42, Oberärztin an der Universitätsfrauenklinik Basel und Mutter zweier Kinder im Schulalter, übt ihren Beruf in einem 60-Prozent-Pensum aus. Die Atmosphäre im Spital habe sich deutlich verbessert, sagt sie: «Despektierliche Bemerkungen über das Aussehen oder Verhalten von Patientinnen» höre man nicht mehr. «Wenn sich die Gynäkologen nichts einfallen lassen», prognostiziert die Kollegin Regina Widmer von der Frauenpraxis Runa, «werden sie noch mehr Patientinnen verlieren.» Die Männer wollen in der Tat das Feld nicht kampflos räumen. Die Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe SGGG, die von Mario Litschgi, Chefarzt am Kantonsspital Schaffhausen, präsidiert wird und mit ihren knapp 1000 männlichen bei rund 150 weiblichen Mitgliedern noch eine Männerbastion darstellt, ist an verschiedenen Fronten tätig. So wurde eine Beratungsfirma für Kommunikation damit beauftragt, eine Umfrage über die Akzeptanz der hiesigen Gynäkologen und Gynäkologinnen zu machen. Deren Ergebnisse seien «sehr positiv», sagt Litschgi.

Junge Patientinnen haben andere Ansprüche

Darüber hinaus bietet die SGGG ihren Mitgliedern das Instrument des Benchmarkings an. Das ist «ein freiwilliger Praxisvergleich», sagt Litschgi, «der dazu dient, Schwachpunkte herauszufinden und auszumerzen». Fragen, die dabei untersucht werden, sind unter anderem: Wie spreche ich junge Patientinnen an? Wie style ich mein Untersuchungszimmer? Ist Musik im Wartezimmer gewünscht? Wie umfassend muss die Beratung sein? Zudem wurde der Weiterbildungskatalog, der zum Erreichen des Facharzttitels erforderlich ist, um Angebote in Psychosomatik und Gesprächsführung erweitert.

Ihre jungen Kollegen, weiss Oberärztin Tschudin, hätten die neuen Anforderungen zur Kenntnis genommen. Unter den älteren Vertretern der Zunft findet man gleichwohl Einzelne, die auf dem überkommenen männlichen Standpunkt beharren.

So kontert Chefarzt Litschgi die Aussage, dass die neu eröffneten Praxen von Gynäkologinnen innert Kürze voll ausgelastet seien, mit der Gegenfrage: «Und? Bleiben sie auch voll? Zwei X-Chromosomen», sagt er, «stellen nämlich noch lange keine Qualität an sich dar.» Sein Zürcher Kollege Bass sieht im Sturm auf die Frauenpraxen allenfalls eine Mode: «Es ist halt in, zu einer Ärztin zu gehen», sagt Bass, «auch wenn es dafür keine plausiblen und rational fassbaren Gründe gibt.»

Gynäkologen spezialisieren sich

Diejenigen unter den männlichen Gynäkologen, die mitten im Berufsleben stehen, versuchen, die Situation mit verschiedensten Strategien zu entschärfen. Die einen erweitern ihr Angebot um Dienstleistungen im Bereich Kosmetik, Diät, Schönheit und Anti-Aging, - eine Entwicklung, die insbesondere von Gynäkologinnen als «teilweise grenzwertig» kritisiert wird. Einer von ihnen ist der Zürcher Frauenarzt Hans Baumann, der gemeinsam mit einer Kosmetikerin und einer Masseurin ein «medizinisch-kosmetisches Kompetenzzentrum für körperbewusste Frauen» betreibt. Der interessierten Patientin wird ein bunter Mix an Flyern zugeschickt, die über «Cellulite», «Fettansatz am Bauch» und «Hormone & Kosmetik» informieren.

Einen anderen Weg gehen jene Gynäkologen, die Spezialsprechstunden zu Fachgebieten wie Menopause oder Inkontinenz einrichten. «Männer», heisst es, «müssen heute etwas Besonderes vorzuweisen haben, um auf dem Markt zu bestehen.» Geschätzt werden sie nach wie vor wegen ihrer Fähigkeiten als Operateur, gelobt werden aber auch Spezialisten innerhalb der Pränataldiagnostik oder Reproduktionsmedizin.

Gynäkologinnen wollen nicht forschen

Doch selbst Frauen erkennen in der Feminisierung der Gynäkologie auch eine Gefahr. Die ersten Kritiker und Kritikerinnen schlagen bereits Alarm. Renate Huch, Professorin der Frauenheilkunde in Zürich, warnt davor, dass die Frauendominanz letztlich zu einem «Risiko für die akademische Medizin» wird. «Frauen», sagt Huch, die selbst Forscherin ist, «ziehen die Tätigkeit in der freien Praxis vor, weil sie wirtschaftlich frei von Risiken ist und ihnen grössere Chancen auf Familienverträglichkeit verspricht.» Eine fatale Entwicklung: «Eine Disziplin, die ohne Forschung auszukommen glaubt, bleibt ohne Fortschritt und verkommt in der Reputation.» Schlechtere Gehälter und das Nachlassen der gesundheitspolitischen Durchschlagskraft seien weitere Folgen, unter denen die von Frauen beherrschte Gynäkologie in den USA längst zu leiden habe.

Einspruch gegen so viel Schwarzmalerei erhebt Judit Pok, Frauenärztin und Vorstandsmitglied der Vereinigung Schweizer Ärztinnen: «Dass die Feminisierung unseres Fachs zu einer generellen Entwertung führt, bestreite ich.» Das Sozialprestige des Berufs werde jedenfalls nicht leiden, und auch die klinische Arbeit werde so kompetent fortgesetzt wie bisher. Ob man innerhalb der Forschung tatsächlich Einbussen hinnehmen müsse, sagt die Klinikerin, werde die Zukunft zeigen.


«Viele Frauen beklagen sich über Gynäkologen»

Ruth Dual,Präsidentin des Dachverbands Schweizerischer Patientenstellen, über den Umgang der Ärzte und Ärztinnen mit Patientinnen.

Frau Dual, hören Sie als Patientenvertreterin häufig Klagen über Gynäkologen und Gynäkologinnen?

Bei uns landen tatsächlich sehr viele Klagen über Gynäkologen, einzelne auch über Gynäkologinnen.

Worüber beklagen sich die Patientinnen?

Den männlichen Gynäkologen werden in erster Linie Kommunikationsstörungen und Unsensibilität vorgeworfen. Die Patientinnen fühlen sich nicht ernst genommen. Die Ärzte hören nicht auf sie oder verharmlosen ihre Bedenken.

Können Sie Beispiele nennen?

Da erzählt eine Frau von Beschwerden und unguten Gefühlen, der Frauenarzt wiegelt ab: «Alles in Ordnung», und prompt hat sie dann doch eine Fehlgeburt. In solchen Situationen kommen sich die Frauen schlecht behandelt vor. Wir kennen einen Fall, da hat die Betroffene einen regelrecht pathologischen Hass auf ihren Gynäkologen entwickelt, nachdem sie mehrmals ihr Baby verloren hatte. Sie wirft ihm vor, sie nie über allfällige Risiken aufgeklärt zu haben.

Kommen Ihnen auch Beschwerden über Gynäkologinnen zu Ohren?

Wenn Klagen kommen, dann meistens über eine harte, manuell grobe Untersuchungstechnik.

Kann es auch sein, dass Gynäkologie-Patientinnen besonders sensibel reagieren?

Die Frauenheilkunde ist ein sehr heikles und intimes Gebiet, in dem Fehlleistungen der Ärzte oft zu grösseren Traumata führen als in anderen Disziplinen.

Gibt es auch Frauen, die ausdrücklich von einer Gynäkologin untersucht werden möchten?

Wir bekommen enorm viele Anrufe, in denen um Adressen frei praktizierender Frauenärztinnen gebeten wird. Auch wenn sich die Situation in den letzten Jahren verbessert hat, mangelt es immer noch an Frauenärztinnen.

Innerhalb der Gynäkologen-Szene kursiert offenbar der Witz, wonach jeder Mann, der Frauenarzt werden will, ein psychiatrisches Gutachten von sich erstellen lassen muss, um seine Unbedenklichkeit zu belegen. Wie bewerten Sie eine solche Aussage?

Der Spruch ist mit Sicherheit eine Reaktion auf die vielen Fälle von sexueller Gewalt in Gynäkologenpraxen, die eine Katastrophe für die männlichen Vertreter des Berufs darstellen. Wobei sich heute ganz abgesehen von diesen Fällen immer mehr Frauen die Frage stellen, was eigentlich die Motivation eines Mannes ist, der Frauenarzt werden will.

Spielt womöglich nicht allein das Interesse an medizinischen Fragen eine Rolle?

Dass die Lust an der Macht über Frauen bei einigen eine Rolle spielt und bei anderen auch eine gewisse sexuelle Motiviertheit, darf ja inzwischen offen ausgesprochen werden. Wenn man bedenkt, dass die Urologie mit nur zwei Fachärztinnen nach wie vor fast ausschliesslich in Männerhand liegt, wird klar, dass hier eindeutige Unterschiede im Verhalten der Geschlechter bestehen.

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© Barbara Lukesch