"Reden war meine Therapie"

Leukämie / 10. Juli 2014, "Die Zeit"

Symbolbild zum Thema Psychologie und Medizin

Wenn ein Kind an Krebs erkrankt, gerät die Familie ins Wanken. Und einer muss den Karren ziehen.

Um Elin hatte sie gekämpft. Eine Fehlgeburt, eine zweite, dritte, vierte, es war zum Verzweifeln. Doch sie wünschte sich so sehr ein zweites Kind. Michelle war vier, als es endlich klappte und die kleine Elin geboren wurde. Als später noch Jarina dazukam, war Lilian Baumann überglücklich und die Familie komplett.

Elin entwickelte sich zu einem wilden Kind, überall kletterte sie hinauf und holte sich oft blaue Flecken. Das war normal. Nur die Großmutter sorgte sich, fand, die Blutergüsse, die sich das Mädchen bei den Stürzen zuzog, seien auffällig. Lilian versprach, mit der Dreieinhalbjährigen zum Arzt zu gehen.

Doch dann ging plötzlich alles ganz schnell. Auf einer Wanderung legte sich Elin, sonst ein Wildfang, auf jede Bank, wollte ausruhen und aß fast nichts. Das war seltsam. Als sie am Abend auch noch Nasenbluten bekam, beschloss die Mutter, zum Arzt zu gehen. Während sie telefonierte, stand auf einmal Elin im Türrahmen mit einem riesigen Blutfleck auf der Pyjamahose. Sie hatte sich einen Mückenstich aufgekratzt. Als das Mädchen sein Oberteil auszog, war der Arm mit kleinen Punkten übersät. "Ich war froh, dass wir den Arzttermin gleich am nächsten Morgen hatten", sagt die Mutter, die damals noch nicht ahnen konnte, was in den nächsten Monaten alles über sie und ihre Familie hereinbrechen würde. Und dass sie nicht erst am nächsten Morgen, sondern schon Stunden später auf der Notfallaufnahme des Kinderspitals St. Gallen sein würde. Als das Mädchen auch noch starkes Zahnfleischbluten bekam, ließ die Mutter alles stehen und liegen. Im Spital hatte Elin bereits 41 Grad Fieber. Die Kontrolle des Bluts ergab einen diffusen Befund. Klar war nur, dass etwas nicht stimmte. Nach einer dreistündigen Untersuchung eröffnete eine Ärztin der Mutter, dass die Eltern mit einer schlimmen Diagnose rechnen müssen, dass es aber noch einer Knochenmarkpunktion bedürfe, um Gewissheit zu haben.

Das Wort Krebs hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch niemand ausgesprochen. Erst als Lilian Baumann das Besprechungszimmer verließ, realisierte sie, dass sie in der Station B-West war: der Krebsstation für Kinder.

"Warum Elin, um die ich so gerungen habe?"

Elin hatte Leukämie, genauer: akute lymphatische Leukämie, ALL. In der Schweiz erkranken jedes Jahr 250 Kinder daran. Ihre Heilungschancen sind besser als die von Erwachsenen. Doch wie gehen Eltern damit um, wenn ihr Kind ernsthaft erkrankt ist? Und wie seine Geschwister?

Lilian Baumann nahm die Diagnose einigermaßen gefasst auf und fragte sich bloß: Warum Elin, warum das Kind, um das ich dermaßen gerungen habe? Die heute 39-Jährige hat festen Boden unter den Füßen. Sie ist in einem Dorf im St. Galler Rheintal mit sechs Schwestern aufgewachsen. Ihre Eltern, der katholischen Gemeinschaft eng verbunden und ehrenamtlich engagiert, hatten ihr beides vererbt: den Glauben und die Freude an der Freiwilligenarbeit. Ihr soziales Netz war groß und intakt, und sie wusste, dass sie jetzt gefordert war, zuallererst organisatorisch, mit all den Arztterminen und den drei Kindern. Platz für Trauer und Tränen gab es nicht, in jener Zeit auch keine Muße für ein Gebet.

Ganz anders ihr Mann Patrick, der als Projektleiter im Metallbau arbeitet und mit dem sie seit knapp zwanzig Jahren verheiratet ist. Er, der Einzelgänger, der in der Freizeit gern mit dem Mountainbike unterwegs ist, brach im Spital zusammen, als man ihnen die Diagnose eröffnet hatte, und geriet in eine tiefe psychische Krise. "Monatelang ließ er sein Velo stehen und versank in seinem Schmerz", erinnert sich seine Frau, "ich musste den Karren ziehen." Heute mag er nicht mehr öffentlich über die Krankheit von Elin sprechen.

Jarina, das Nesthäkchen, wohnte vorübergehend bei den Großeltern und bekam nicht so viel mit. Die siebenjährige Michelle aber machte sich große Sorgen um die jüngere Schwester, ohne richtig zu verstehen, was genau vor sich ging. Sie war oft traurig und musste auf ihre Mutter verzichten, die in der ersten Zeit ständig zwischen dem Kinderspital St. Gallen und Oberbüren pendelte.

Hohe Dosen Cortison

Am Tag nach der Diagnose hatten die Ärzte mit der Chemotherapie begonnen. Elin musste drei Wochen auf der Station bleiben. Wenn es ihre Blutwerte erlaubten, bekam sie hohe Dosen Cortison. Wenn nicht, erhielt sie zuerst Bluttransfusionen. Elin sei großartig mit der Situation umgegangen, sagt Lilian Baumann. Sie sei eine pflegeleichte und anpassungsfähige Patientin gewesen. Als sie einmal im Spital nicht schlafen konnte, holte die Schwester sie ins Stationszimmer, wo sie bis nach Mitternacht bastelte. Sie freute sich, wenn ihre Tanten oder Großeltern sie besuchten, und ließ die Mutter klaglos gehen, wenn diese nach Hause musste. "Die beiden anderen Mädchen hatten ja auch ein Recht darauf, dass ich mich um sie kümmerte", sagt diese. Ihr großes Netzwerk kam ihr in dieser Zeit zugute. Nachbarinnen hüteten Michelle und Jarina. Ihre Freundin wusch und putzte. Zwei Kolleginnen aus dem Turnverein nahmen sich der Küche an. Eine Frau aus dem Dorf überließ ihr wochenlang das Auto. Viele schickten Briefe und Kärtchen, zündeten Kerzen an und beteten für die Patientin. Und man hatte Zeit, Lilian Baumann zuzuhören. "Ich habe allen alles erzählt", sagt sie, "Reden war meine Therapie."

Ganz anders ihr Mann. Er hüllte sich in Schweigen, benötigte ärztliche Behandlung. Dann verlor er auch noch seine Stelle, die er kurz zuvor angetreten hatte. Sein Arbeitgeber kannte keine Gnade und entließ ihn fristlos. Das traf die Familie hart, war aber angesichts der Umstände nebensächlich. "Wir brauchten all unsere Kräfte für Elin."

Es begann eine neue Behandlungsphase, Elin konnte Chemotabletten nehmen und das Spital verlassen. Doch der Fortschritt hatte seinen Preis. Lilian Baumann gerät regelrecht in Aufruhr, wenn sie erzählt, wie schlimm es gewesen sei, die knapp Vierjährige dazu zu bringen, täglich 15 Tabletten zu schlucken. "Anderen Kindern konnte man die Pillen zermörsern, heimlich in den Quark mischen oder im Sirup auflösen", seufzt sie, "Elin spuckte alles aus." Sie habe jedes Täuschungsmanöver durchschaut und sich radikal gewehrt. Erst mit dem Deal – eine Tablette, ein Smartie – habe das Mädchen eingelenkt. Baumann sagt: "In dieser Phase bin ich das erste und einzige Mal an meine Grenzen gestoßen. Manchmal hatte ich Angst, mir könnte vor lauter Verzweiflung die Hand ausrutschen."

Das Cortison machte Elin müde und depressiv. Es gab Wochen, in denen sie einfach auf ihrem Maträtzchen in der Stube lag und nicht einmal mit der Mutter sprechen mochte, im Mund den Nuggi, von dem sie längst entwöhnt war. Sie trug wieder Windeln. Als dem Mädchen die Haare ausfielen, machte die Mutter kurzen Prozess und ließ ihr eine Glatze rasieren. Was folgte, rührte die Mutter zutiefst: "Als Elin sich im Spiegel sah, begann sie zu tanzen. Sie gefiel sich offenbar. Es gab folglich keinen Grund, ihr ein Tuch um den Kopf zu binden oder eine Mütze aufzusetzen."

"Gäll Mama, ich hätte sterben können?"

Was für die Patientin kein Problem war, belastete die ältere Schwester. Michelle wurde ständig gefragt, warum ihre Schwester keine Haare mehr habe. Ihre Noten sackten ab, immer öfter war sie in Streitereien verwickelt. Und als Elin einige Monate nach der Diagnose alle Medikamente absetzen konnte, fiel es Michelle von allen Familienmitgliedern am schwersten, zur Normalität zurückzukehren. Der Vater hatte sich gefangen, auch dank einer neuen Stelle. Lilian Baumann war glücklich, dass Elin kräftiger wurde, in den Kindergarten und später in die Schule konnte und wieder für Ausflüge zu begeistern war. Bis heute staunt sie, wie entspannt die inzwischen Zehnjährige von der Krankheit spricht. Sätze wie "Gäll, Mama, ich war mal so krank, dass ich hätte sterben können" kämen genauso locker wie Erinnerungen an den Spitalaufenthalt und den Arzt, den sie heute noch gern besucht.

Heute gilt Elin als geheilt. So wie alle, die fünf Jahre nach der letzten Chemotherapie keinen Rückfall hatten. Noch einmal im Jahr muss sie zur Kontrolle.

Die Krankheit ist ein Teil der Familie geblieben. Lilian Baumann engagiert sich im Vorstand der Kinderkrebshilfe Schweiz und möchte etwas von dem zurückgeben, was sie an Hilfe erfahren hat. So konnte sie sich an einem Wellness-Wochenende für Mütter aus dem belasteten Alltag ausklinken und neue Energie tanken. Bereichernd seien auch die begleiteten Ferien für Familien mit einem krebskranken Kind gewesen. Und Michelle half mit, einen Film zu drehen, in dem gezeigt wird, was es heißt, selber gesund zu sein aber ein krankes Geschwister zu haben. Das habe ihr wirklich gut getan.

Manchmal, sagt Lilian Baumann, reagiere die Familie empfindlich, wenn die Kinderkrebshilfe zu viel Platz beanspruche: "Ich bin mir bewusst, dass ich mich dem Thema stark aussetze und auch mit Geschichten nach Hause komme, die an alte Wunden rühren." So wie im Februar, als in Belgien die Sterbehilfe für schwerstkranke Kinder bewilligt wurde und sie von Schweizer Medien auf das Thema angesprochen wurde. Richtig schlimm sei es gewesen, als Michelle erfuhr, dass ein Jugendlicher siebeneinhalb Jahre nach dem Absetzen der Chemotherapie einen Rückfall erlitten habe. Sie war schockiert, weil ihre Eltern ihr versichert hatten, es sei alles gut, wenn man fünf Jahre überstanden habe. Baumann seufzt: "Da bleibt mir nichts anderes übrig, als ihr zu sagen, dass jeder Mensch jederzeit an Krebs erkranken kann. Sie, ich oder auch wieder Elin."

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© Barbara Lukesch