Die Kraft, die Mut macht

Resilienz / 6. Dezember 2006, "Annabelle"

Symbolbild zum Thema Psychologie und Medizin

Natascha Kampusch oder Lea Saskia Laasner: Manche Menschen überstehen Schicksalsschläge, an denen andere längst zerbrochen wären. Ihre Widerstandskraft hat einen Namen: Resilienz.

Als Natascha Kampusch ihr erstes Fernsehinterview gab, fragten sich viele erstaunt, woher das 18-jährige Entführungsopfer, das gerade eben seinem Peiniger entronnen war, seine Sicherheit und Stärke bezog. Genauso beeindruckt reagierte die Öffentlichkeit, als die junge Schweizerin Lea Saskia Laassner letztes Jahr in verschiedenen Talkshows souverän von ihrer Flucht aus einer Sekte im zentralamerikanischen Belize und den dort erlittenen Torturen berichtete. Bewunderung erntete auch der kürzlich verstorbene Luciano Vassalli, der zeit seines knapp 16-jährigen Lebens mit grossem Mut gegen seine heimtückische Immunschwäche gekämpft hatte.

Diese Menschen ziehen uns in ihren Bann, weil sie offensichtlich über eine Kraft verfügen, dank der sie selbst widrigsten Umständen zu trotzen vermögen. Alle drei haben schier Unmenschliches ertragen und sind dennoch zu Persönlichkeiten gereift, die dem Leben mit Zuversicht begegnen beziehungsweise begegneten.

Biegen, nicht brechen

Die Psychologie nennt dieses Phänomen Resilienz. Der Begriff stammt ursprünglich aus der Physik und charakterisiert Stoffe, die selbst bei grösstem Druck nicht zerbrechen, sondern so geschmeidig sind, dass sie sich nur biegen lassen. Emmy Werner, Psychologin an der University of California, hat den technischen Fachausdruck als Erste auf menschliches Verhalten übertragen. Sie hatte auf der Insel Kauai im hawaiischen Archipel 700 Männer und Frauen von ihrer Geburt 1955 bis zu ihrem vierzigsten Altersjahr regelmässig besucht und deren Entwicklung protokolliert. Rund 200 von ihnen lebten in prekären Verhältnissen, die von Armut, Verwahrlosung, Gewalt, Krankheit oder Scheidung der Eltern überschattet waren.

Emmy Werner wollte wissen, ob diese Risikokinder überhaupt eine Chance hatten, aus dem familiären Teufelskreis auszubrechen und ein sorgenfreies Leben zu führen, oder ob sie zwangsläufig zu «gesellschaftlichen Versagern» werden. Zu ihrer Überraschung nahm ein Drittel der Befragten keinerlei Schaden, sondern war, so Emmy Werner, «erfolgreich in der Schule, gründete eine Familie, war in das soziale Leben eingebunden und setzte sich realistische Ziele». Ein zweites Drittel habe zwischen 20 und 35 persönlich und beruflich Tritt gefasst, und nur eine vergleichsweise kleine Gruppe von rund siebzig Personen habe Verhaltensauffälligkeiten gezeigt und sich gesellschaftlich nicht integrieren können.

Interessanterweise publizierte der Zürcher Psychiater Manfred Bleuler bereits in den Vierzigerjahren eine Fallstudie, in der er die zwölfjährige Vreni beschrieb, die aus einem schwer zerrütteten Elternhaus stammte, der Vater alkoholkrank, die Mutter schizophren, und es dennoch schaffte, ihre Geschwister liebevoll zu betreuen und selbst zu einer stabilen und zufriedenen jungen Frau heranzuwachsen. Manfred Bleuler gebrauchte damals zwar noch nicht den Begriff Resilienz, aber seine Erklärung für die Widerstandsfähigkeit des Mädchens deckt sich in zentralen Punkten mit Emmy Werners Kauai-Studie.

Intelligenz und ein ruhiges Temperament

Beide Forscher halten die Fähigkeit, ausserhalb der Kernfamilie tragende Beziehungen zu einer Nachbarin, einem Lehrer, einer Tante oder dem Grossvater aufzubauen, für einen wichtigen Schutzfaktor resilienter Kinder und Jugendlicher. Auf dem Weg bekämen sie emotionale, aber auch praktische Unterstützung und könnten ihren belastenden Alltag besser bewältigen. Wer dazu früh Verantwortung übernehme wie die kleine Vreni, erlebe sich als tatkräftig und leistungsstark und könne sein Selbstwertgefühl entwickeln. Intelligenz und ein ruhiges Temperament, so Emmy Werner, seien günstige Voraussetzungen, um die eigene Resilienz zu entwickeln. Ebenso positiv wirke es sich aus, wenn ein Kind ein spezielles Talent oder Hobby habe, das es von anderen unterscheide und das ihm Anerkennung eintrage.

Die Zürcher Paar- und Familientherapeutin Rosmarie Welter-Enderlin, eine der versiertesten Kennerinnen der Resilienzforschung, ergänzt, dass resiliente Menschen oft ein gewinnendes Wesen hätten, dank dem ihnen der Kontakt auch zu Fremden leicht falle. Sie seien neugierig, offen und flexibel, wobei Resilienz nicht mit «Anpassungsbereitschaft bis zur Selbstaufgabe» verwechselt werden dürfe. «Resilienz ist der Mut zum eigenen Leben», sagt Rosmarie Welter-Enderlin, «und beinhaltet auch die Kraft, sich mit den eigenen Verletzungen und Niederlagen zu konfrontieren.» Das habe der junge Luciano Vassalli auf beeindruckende Art vorgelebt: Er habe seine schwere Krankheit nie verleugnet und sich stets auch mit seinem Sterben und Tod befasst. Gleichzeitig aber habe er enorme Lebenslust ausgestrahlt, sei kreativ und sehr kommunikativ gewesen. «Genau diese Mischung hat die Menschen so für ihn eingenommen.»

Myrta B. ist eine 56-jährige Frau, deren Kindheit und Jugend schwer belastet war. «Vier Hammerschläge», erzählt sie, «sind nacheinander auf mich niedergeprasselt und haben mich an den Rand des Abgrunds getrieben.» Als Erstes musste sie die Scheidung ihrer Eltern und damit die Trennung von ihrem geliebten Vater verschmerzen. Dann wechselte die Familie den Wohnort, und Myrta B. verlor ihr gesamtes soziales Umfeld. Gleichzeitig begann ihr Stiefvater, sie sexuell zu missbrauchen, und zwar im Ehebett in Gegenwart ihrer Mutter. Das hielt an, bis sie 15 Jahre alt war. Als sie mit 20 Jahren kurz vor ihrer Heirat stand, erfuhr sie, dass ihre Mutter eine Affäre mit ihrem Verlobten hatte. «Dieser Schlag», sagt sie, «verletzte mich am meisten.» Ihre Ehe, die sie dessen ungeachtet einging, zerbrach nach wenigen Jahren.

Wie eine Pflanze auf kargem Boden

Gleichwohl will Myrta B. nichts davon wissen, dass ihr Leben gescheitert sei: «Ich habe einen Kern tief in mir drinnen, der allen Schicksalsschlägen unversehrt widerstanden und mir die Kraft gegeben hat, zu einer letztlich glücklichen Frau, Mutter und Architektin zu werden.» Sie habe schon als Kind über die Fähigkeit verfügt, «sich all das ausserhalb der Familie zu holen», was sie brauchte, «um allen Widrigkeiten zum Trotz zu gedeihen». Wie eine Pflanze auf kargem Boden habe sie Wurzeln in jene Teile des Erdreichs getrieben, in denen es Wasser und Nährstoffe gab. So trat sie einem Chor und dem Turnverein bei, dazu besuchte sie jahrelang jeweils nach dem Schulunterricht eine Nachbarin, von der sie sich ernst genommen und gefördert fühlte. Ein Bildhauer im Dorf, dem sie einen Teil ihrer Sorgen anvertraute, darunter auch die Angst, in der Schule zu versagen, tröstete sie eines Tages mit dem Satz: «Du wirst überhaupt nie in deinem Leben etwas nicht können.» Diese Worte habe sie gehütet wie einen Schatz, den ihr der liebe Gott geschickt habe.

Als erwachsene Frau brach sie den Kontakt zu ihrer Mutter zu deren Entsetzen vollständig ab: «Das war ich mir schuldig», konstatiert sie ungerührt. Der Mut, harte Schnitte zu machen beziehungsweise die Spur zu wechseln, gehört ebenfalls zum Verhaltensrepertoire resilienter Menschen. Natascha Kampusch und Lea Saskia Laasner haben es mit ihrer waghalsigen Flucht aus unerträglichen Verhältnissen vorgemacht.

Myrta B. ist heute eine erfolgreiche Berufsfrau, lebt mit ihrem zweiten Mann zusammen und tut alles für ihre beiden Töchter und ihre sechs Enkelkinder. Zu ihren seelischen Narben steht sie, als «vom Schicksal gebeuteltes Opfer» versteht sie sich aber nicht. Ihre Devise laute stattdessen: «Das Leben ist kein Zuckerschlecken, aber ich weiss, dass ich es bewältigen kann.»

Die Fachwelt zeigt seit einigen Jahren reges Interesse an Menschen wie Myrta B. Als Rosmarie Welter-Enderlin im Februar 2005 in Zürich einen Kongress mit dem Titel «Resilienz. Gedeihen trotz widriger Umstände» veranstaltete, kamen rund 450 Psychologen und Psychotherapeutinnen aus aller Welt, um unter anderem auch den Ausführungen der 76-jährigen Emmy Werner zu folgen. Rosmarie Welter-Enderlin beobachtet ein Umdenken in europäischen Fachkreisen, das auf die bereits fest verankerte Resilienzforschung in den USA zurückgeht: «Statt immer nur von Opfern und den sie vermeintlich lebenslang lähmenden Traumata zu sprechen, schenkt man den Widerstands- und Selbstheilungskräften der Betroffenen zunehmend mehr Beachtung.»

Angeborene Veranlagung?

Welche Menschen zur Resilienz fähig sind, kann die Forschung allerdings noch nicht schlüssig beantworten. Bisher geht sie davon aus, dass resilientes Verhalten das Ergebnis einer angeborenen Veranlagung ist, ergänzt um günstige Prägungen durch die Umwelt. Folglich haben Eltern oder andere Erziehungspersonen es mindestens zum Teil in ihrer Hand, die psychische Widerstandskraft von Kindern zu fördern.

Was können sie tun? Zum einen sollten sie ihren Nachwuchs von klein auf mit anderen Menschen vernetzen, sei dies, indem sie ihn auch in Krippen oder bei Tagesfamilien betreuen lassen, ein offenes Haus mit Gästen führen oder ihm ein Auslandjahr ermöglichen. «Wir sollten unseren Kindern die Türen zu anderen Welten öffnen», fordert Rosmarie Welter-Enderlin, «statt die Frauen zurück an den Herd zu beordern und die damit einhergehende Mutter-Kind-Symbiose zu glorifizieren.»

Zum anderen sollten Kinder und Jugendliche immer wieder zu spüren bekommen, dass sie - unabhängig von Schul- oder Arbeitsleitungen - geliebt und geschätzt werden. Gleichzeitig aber sollten sie mit Anforderungen konfrontiert werden, deren Bewältigung ihr Selbstvertrauen stärkt und ihnen die Gewissheit gibt, dass sie ihr Leben selbst gestalten können und nicht Spielball eines unberechenbaren Schicksals sind. Rosmarie Welter-Enderlin: «Wir müssen wegkommen vom Verhätscheln unseres Nachwuchses. Nur wer früh lernt, dass er etwas bewerkstelligen kann, hat auch Widrigkeiten und Schicksalsschlägen etwas entgegenzusetzen.»

Ihre eigene Mutter bot der Therapeutin dazu überzeugenden Anschauungsunterricht: Als Tochter einer schweren Alkoholikerin, die wiederholt in Kliniken untergebracht war, musste sie bereits als Zwölfjährige die Verantwortung für ihre Geschwister und den Haushalt übernehmen. «Sie hat diese Aufgabe grossartig gelöst, war stolz auf sich und ist trotz schwierigster Startbedingungen zu einer glücklichen Frau geworden.»

Sich selber helfen

Lea Saskia Laasner, die fast zehn Jahre ihres Lebens in einer Sekte gefangen gehalten und sexuell ausgebeutet wurde, dazu die Beziehung zu ihren Eltern verlor, die sich ganz dem Guru und dessen Zielen überlassen hatten, hat sich in den drei Jahren seit ihrer Flucht ihren Weg zurück in die Normalität erkämpft. Sie hat gemeinsam mit dem Zürcher Sektenspezialisten Hugo Stamm ein Buch geschrieben, das ihr dabei helfen sollte, Distanz zu den bedrückenden Erlebnissen zu gewinnen. «Allein gegen die Seelenfänger» wurde zum Bestseller und bescherte ihr zunächst einmal alles andere als Normalität. «Doch Lea», so Hugo Stamm, «hat den Medienansturm bravourös gemeistert». Jetzt steht die 25-Jährige kurz vor dem Abschluss einer Handelsschule, ist verliebt und hat neue Freundschaften geknüpft.

Interviews gibt sie zurzeit keine, weil der Prozess kurz bevorsteht, den sie mit ihrer Anzeige gegen den Guru ausgelöst hat. So fragen wir Hugo Stamm, der ihre Geschichte so genau wie kein anderer kennt, woher Lea Saskia Laasner wohl die Kraft zum Aufbegehren und zum Aufbau ihres neuen Lebens bezieht. Sie sei auf eine eindrückliche Art selbstbewusst, zäh und hartnäckig, sagt Hugo Stamm, und habe sich auch in den Sektenjahren, so jung und abhängig sie war, mental nie ganz vereinnahmen lassen: «Da ist eine Stärke in ihr, die sie nie verlassen hat.» So habe sie sich auf dem Tiefpunkt des Leidens gesagt, wer, wenn nicht sie selbst, könne ihr jetzt noch helfen - und die Flucht gewagt.

Albert Camus beschrieb dieses Phänomen einst mit den feinsinnigen Worten des Schriftstellers: «Mitten im Winter habe ich erfahren, dass es in mir einen unbesiegbaren Sommer gibt.»


Weiterführende Literatur:
* Rosmarie Welter-Enderlin, Bruno Hildenbrand: Resilienz. Gedeihen trotz widriger Umstände. Carl-Auer-Systeme, Heidelberg 2006, 271 Seiten, 52 Fr.
* Boris Cyrulnik: Warum die Liebe Wunden heilt. Beltz-Verlag, Weinheim 2006, 232 Seiten, 34.90 Fr.

Resilienz kann man lernen
In ihrer Broschüre «The Road to Resilience» empfiehlt die Amerikanische Psychologenvereinigung folgende Schritte auf dem Weg zur psychischen Widerstandsfähigkeit:
- Begegnen Sie dem Leben mit der Zuversicht, dass Krisen vorübergehen und von positiven Erlebnissen abgelöst werden.
- Gestehen Sie sich das Recht auf Krisen und Gefühle wie Angst, Trauer und Zorn zu.
- Entwickeln Sie Ziele, die Ihnen auch in schwierigen Lebensphasen als Perspektive dienen können.
- Pflegen Sie Freundschaften und gute Kontakte zu Familienmitgliedern. Dann können Sie auch in Krisenzeiten über Ihre Nöte sprechen.
- Versuchen Sie, sich in schweren Zeiten nicht als Opfer zu fühlen. So ziehen Sie sich nur tiefer hinab.
- Vertrauen Sie Ihrer eigenen Kraft. Viele Menschen in Schwierigkeiten wachsen über sich hinaus.

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© Barbara Lukesch