"Es gibt Tage, an denen ich staune, dass ich Vater bin"

POS bei Erwachsenen / 15. März 2001, "Die Weltwoche"

Symbolbild zum Thema Psychologie und Medizin

Als Peter Kost 20 Jahre alt war, fühlte er sich nicht wie ein erwachsener Mann, sondern wie ein grosses Kind: "Ich hatte das Selbstbewusstsein, über das normalerweise Zwölfjährige verfügen." Auch mit 23 Jahren habe er noch pausbäckig in die Welt geguckt, und sei weit von einer altersgemässen männlichen Identität entfernt gewesen. Erst dann machte er einen entscheidenden Entwicklungsschritt. Während mehrerer Jahre bereiste er allein verschiedene Länder und lernte, nicht alle gesellschaftlichen Konventionen permanent in Frage zu stellen und damit überall anzuecken. Als er im Alter von 30 Jahren Vater wurde, keimten erstmals Gefühle in ihm, die er einem reifen Mann zuschreibt: Fürsorglichkeit, Verantwortungsbewusstsein und berufliches Stehvermögen. Doch Peter Kost weiss um deren Fragilität: "Es gibt Tage, an denen ich nur staunen kann, dass ich Vater sein soll." Dann findet es der 32Jährige wieder völlig normal, dass erwachsene Menschen ihn duzen, obwohl er sie per Sie anspricht. Offenbar nehmen sie ihn als wesentlich jünger wahr.

Peter Kost ist ein POS-Betroffener, der auch im Erwachsenenalter noch deutliche Symptome seines frühkindlichen psychoorganischen Syndroms aufweist. Die verzögerte Reifung ist eines davon. Sprunghaftigkeit im Denken, mangelnde Impulskontrolle, nicht zu bremsender Redefluss - im Fachjargon auch "Sprechdurchfall" genannt -, und innere Unruhe, die sich im blitzschnellen Wippen eines Fusses äussern kann, sind weitere. Dazu kommen sogenannte Sekundärsymptome, also Reaktionsmuster, die sich in der Folge seiner POS-Geschichte eingestellt haben: Stimmungsschwankungen, vorübergehende Unsicherheit im Umgang mit Menschen und ein tiefsitzendes Minderwertigkeitsgefühl, das nicht zuletzt daraus resultiert, dass der KV-Absolvent, der heute als Hilfsmaler arbeitet, seine intellektuellen Möglichkeiten nie ausschöpfen konnte.

Wie das Amen in der Kirche

Dass ein Psychoorganisches Syndrom auch im Erwachsenenalter Bestand haben kann, ist nach Einschätzung der POS-Spezialistin Lislott Ruf für den allergrössten Teil der hiesigen Psychiater und Psychologinnen "absolut kein Thema". Die Beteuerung, ein POS wachse sich in der Pubertät aus, gehöre zum therapeutischen Repertoire wie das Amen in der Kirche. Dabei zeigen gemäss amerikanischen Fachleuten zwischen 50 und 80 Prozent aller Betroffenen auch im weiteren Verlauf ihres Lebens ein partielles oder gar vollständiges Krankheitsbild. Übertragen auf die erwachsene Gesamtbevölkerung heisst dies, dass rund 5 Prozent unter POS-Symptomen leiden.

In den USA ist dieses Wissen seit etlichen Jahren fest etabliert. Fachpublikationen und Kongresse nehmen sich der Thematik an; zahllose Selbsthilfegruppen, darunter auch solche virtueller Art, wurden ins Leben gerufen. Bereits 1994 widmete das Magazin "Time" den erwachsenen POS-Betroffenen eine Titelgeschichte und führte Winston Churchill, Albert Einstein und Bill Clinton als denkbare Fallbeispiele an.

Tauchen erwachsene POS-Patienten nun allerdings in hiesigen psychiatrischen Praxen auf, halten sich die Experten und Expertinnen an ihren Depressionen, Ängsten, Zwangserkrankungen oder ihrem Burnt-Out-Syndrom auf und übersehen gern, dass dies nur Folgeerscheinungen sind, denen eine bis in die Kindheit zurückreichende POS-Geschichte zugrundeliegt.

Fehlt die korrekte Diagnose, wird diesen Männern und Frauen auch die Linderung bringende Behandlung vorenthalten. Darüber hinaus tappen sie oft jahrelang im Dunkeln, wenn sie ihre zahlreichen Beziehungs- und Arbeitsschwierigkeiten zu verstehen versuchen. Mangels eines klärenden Begriffs gelingt es ihnen oftmals nicht, ihre eigene Identität zu erfassen.

Lähmende Versagensängste

Peter Kosts Leben stand von früh an im Bann von Konzentrationsschwierigkeiten, Hyperaktivität und damit verbundener Schulprobleme. Nur für Neues vermochte sich der Knabe zu begeistern; alles andere langweilte ihn, und er dachte nicht im Traum daran, seine Hausaufgaben zu erledigen. Auch wenn er sich gern mit grossen Sprüchen in Szene setzte, litt er von klein auf unter lähmender Versagensangst. Das überrascht nicht. Schliesslich vermittelten ihm die meisten seiner Lehrer und Lehrerinnen gemäss seiner Erinnerung das Gefühl, "etwas Falsches, Dummes, ja, Dubioses zu sein, jedenfalls nicht ein kleiner liebenswerter Bub, sondern etwas, das es eigentlich gar nicht geben sollte."

Als die Hausärztin Mitte der siebziger Jahre die POS-Diagnose stellte, atmete seine Mutter erleichtert auf: Endlich hatte das Leiden ihres Sohnes einen Namen. Die Familie jedoch wies die Vorstellung, einer der Ihren könne nicht "ganz normal" sein, mit Vehemenz zurück. Mutter und Sohn wurden isoliert und damit gezwungen, die Therapie-Odyssee, die sich nun anschloss, in "absoluter Einsamkeit und beladen mit Schuld- und Schamgefühlen durchzustehen", wie sich Kosts Mutter erinnert. Sollte sie ihrem Bub wirklich das Aufputschmittel Ritalin beziehungsweise den Tranquilizer Seresta geben? Nach einem knappen Jahr entschloss sie sich, beide Medikamente wieder abzusetzen: "Lieber einen wildgewordenen, nervösen Peter", sagte sie sich, "als ein gedämpftes, schlappes Kind, das seine ganze Vitalität, Kreativität und Phantasie einbüsste."

Peter besuchte stattdessen eine Mal-, später dann eine Psychotherapie, spielte Tennis, Fussball, versuchte sich in Judo, ritt, fuhr Ski - die Symptome hielten gleichwohl an. Der Bub kämpfte sich durch einen Alltag voller Kränkungen, Geringschätzung, auch Gewalt von seiten seiner Kollegen und stand immer wieder am Rand zum Selbstmord. Als seine Mutter vor der Frage stand, ob sie den nicht einmal zehnjährigen Knaben bei der Invalidenversicherung anmelden sollte, beschloss sie nach einem langen Gespräch mit ihm, den Primarschüler "nicht zu einem IV-Fall zu stempeln." Sie habe gewusst, dass dieser Entscheid weitreichende Folgen auch für ihr Leben haben würde: "Fortan befanden sich Peter und ich auf einer Gratwanderung auf 10'000 Meter Höhe, allein und ohne Sauerstoff-Masken."

Lustlosigkeit und Langeweile

Als Teenager fasste Peter Kost endlich ein wenig Tritt. Er absolvierte eine Verkäuferlehre und schloss entgegen der Prognosen seines Lehrmeisters das KV ab. Ein Job reihte sich an den nächsten: "Nach gut einem Jahr", so Peter Kost, "löschte es mir jeweils ab." Lustlosigkeit, Langeweile beherrschten sein Leben. Als er 23 Jahre alt war, lösten sich Mutter und Sohn voneinander: "Die Trennung musste sein", sagt die 55jährige Frau, "damit wir beide wieder atmen konnten." Es bestehe zwar nach wie vor eine grosse Innigkeit zwischen ihnen, aber die Angst, immer wieder mit dem grossen Schmerz des eigenen Kindes konfrontiert zu werden, habe die Distanzierung nötig gemacht.

Renate L. bekam erst im Alter von 50 Jahren die für sie stimmige POS-Diagnose gestellt. Ein Leben lang hatte sie unter ihrer Ablenkbarkeit, ihrer Entscheidungsschwäche, ihrem schlechten Selbstwertgefühl und ihren latenten Depressionen gelitten und sich trotzdem immer wieder sagen lassen müssen: Alle Leute hätten hin und wieder solche Beschwerden. Sie sei halt auch nicht mehr die Jüngste. Oder kurz: Sie spinne. Doch Renate K. ahnte schon lange, was mit ihr los war. Als Mutter eines POS-Kindes kannte sie die Symptome sehr genau und wusste, dass ihre Schwierigkeit, sich für eine Sache zu entscheiden und diese dann durchzuziehen, oder ihre Mühe, in ihrem Zimmer Ordnung zu halten, weit über das sogenannte Normalmass hinausgingen. "Das sind Symptome mit Krankheitswert", sagt die 54Jährige.

Dank der an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich gestellten Diagnose fühlt sie sich erstmals ernstgenommen: "Das war eine enorme Erleichterung für mich." Seither kann sie ihre Probleme gezielter angehen und auch Fachleute zu Rate ziehen. Via Internet verfolgt sie die amerikanischen Fachdebatten und bringt sich jeweils auf den neuesten Stand des Wissens. Sie arbeitet am Aufbau einer Selbsthilfegruppe mit, von deren Mitgliedern sie sich verstanden und unterstützt fühlt. Dazu nimmt sie psychologische Hilfe in Anspruch und schluckt seit kurzem Ritalin, ein Stimulanz, das ihr den Alltag erleichtert, aber in weiten Teilen der Bevölkerung und unter Fachleuten höchst umstritten ist. Der Glaubenskrieg entzündet sich an der Frage des Suchtpotenzials und ist zahlreichen Studien zum Trotz bis heute nicht entschieden.

Erstmals ein Sinn im Leben

Peter Kost würde weder Ritalin schlucken noch einen Psychiater konsultieren: "Ich hätte Angst", sagt er, "bei einer Person zu landen, die mich nicht wirklich versteht." Der 32Jährige ist sich seiner Probleme allerdings durchaus bewusst und nimmt, je älter er wird, sehr schmerzlich wahr, dass ihn seine Krankheit daran gehindert hat, seinen Berufswunsch, Lehrer zu werden, in die Tat umzusetzen. Seine Menschenkenntnis, ausgeprägte Intuition und sein starkes soziales Gerechtigkeitsgefühl hätten ihn gemäss seiner Einschätzung für diese Tätigkeit prädestiniert. Seine Unfähigkeit, eine mehrjährige, mitunter auch monotone Ausbildung durchzustehen, machte ihm aber bisher einen Strich durch die Rechnung.

Doch Kost hat noch nicht aufgegeben. Die Beziehung zu seiner Partnerin, deren zehnjähriger Tochter und ihrer gemeinsamen zweijährigen Tochter habe seinem Leben erstmals Sinn gegeben. Er spüre gut, dass er sowohl beruflich wie auch innerhalb seiner Familie "dranbleiben"und nicht wie früher alles bei der kleinsten Umstimmigkeit über den Haufen werfen wolle. Es solle endlich auch einmal bei ihm vorwärts gehen und er sei bereit, auf Dauer etwas zu leisten: "Ich will nichts anderes als ein ganz normales Leben führen", sagt er und fügt grinsend hinzu: "Vielleicht rette ich ja eines Tages die Welt." Grössenphantasien, konstatiert ein Experte, gehören genauso zum POS wie Minderwertigkeitsgefühle.


"Der Zappelphilipp" - eine Normvariante der menschlichen Entwicklung

Das frühkindliche psychoorganische Syndrom POS ist eine neurobiologisch bedingte psychische Erkrankung. Nach Aussagen der Basler Kinderärztin Lislott Ruf stellt es "eine Normvariante der menschlichen Entwicklung" dar, "bei der gewisse Hirnstrukturen langsamer reifen." Andere Fachleute, darunter der amerikanische Forscher Russel Barkley, legen grösseres Gewicht auf die dem POS zugrundeliegende "Stoffwechselproblematik". Das POS, das innerhalb der Fachwelt immer häufiger als Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ADHS bezeichnet wird, gilt als genetisch verursacht, was sein gehäuftes Auftreten innerhalb einer Familie erklärt. Seltener wird Sauerstoffmangel vor, während oder nach der Geburt als Ursache ausgemacht.

Die Symptome siedeln in der Regel in den Bereichen Wahrnehmung, psychosoziale Reifung und Motorik. Die Intelligenz von Menschen mit einem POS ist nicht beeinträchtigt. Sechs bis zehn Prozent aller Kinder leiden nach Schätzung der Experten und Expertinnen unter einem POS. Während bis anhin von einem deutlichen Mehr (ca. zwei Drittel) unter den Buben ausgegangen wurde, tendiert ein Teil der Fachleute immer stärker zur Annahme, dass beide Geschlechter gleichermassen betroffen sind.

Ein dem POS vergleichbares Störungsbild wurde bereits Mitte des neunzehnten Jahrhunderts von dem deutschen Arzt und Schriftsteller Heinrich Hoffmann in seinem Bilderbuch "Struwwelpeter" beschrieben. In der Folge sprach man gern vom "Zappelphilipp-Syndrom".

Seit den achtziger Jahren ist das Verständnis für die Betroffenen und deren Familien in der Schweiz gewachsen. Eine auch von der IV anerkannte Diagnose setzt sich mosaikartig aus neuropsychologischen Tests, standardisierten Fragebögen, der Krankengeschichte und Schilderungen der Umgebung der Betroffenen zusammen.

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© Barbara Lukesch