"Ich zerfleischte mich mit Vorwürfen"

Umgang mit Magersucht / Dezember 1998, "Der Beobachter"

Symbolbild zum Thema Psychologie und Medizin

"Die Erkenntnis, dass meine Tochter magersüchtig ist, war eine Katastrophe für mich. Ich hatte während meiner Ausbildung zur Übersetzerin zwei magersüchtige Kolleginnen erlebt und wusste, dass die Krankheit lebensbedrohliche Formen annehmen und sehr, sehr lange dauern kann. Natürlich hoffte ich, dass meine Tochter dank guter therapeutischer Betreuung möglichst schnell genesen würde. Inzwischen sind acht Jahre vergangen, und sie leidet immer noch vereinzelt unter Essstörungen. Ihre Depression, die dem ganzen Elend zugrundeliegt, muss sie nach wie vor medikamentös behandeln.

Tja, meine Tochter, in die ich so viel Energie und Liebe investiert habe, aus der ich unbedingt eine selbstbewusste junge Frau machen wollte, hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sie hat sich meinen Ansprüchen verweigert. Vielleicht wird sie immer ein Leben am Rande führen, fern von meinen einstigen hochgesteckten Idealen. Dies zu akzeptieren, war schmerzlich für mich.

Angefangen hat ihre Leidensgeschichte wie bei den meisten Anorexie-Patientinnen. In der Mittelschule stand sie unter riesigem Stress. Gleichzeitig bekam sie in der Pubertät Mühe mit ihrem Aussehen, fand sich zu dick und wollte unbedingt abnehmen und eine Diät machen. Dagegen hatte ich gar nichts. Ich bin ja in der Aera von Twiggy und dem Minirock aufgewachsen und kannte das Bedürfnis, möglichst dünn zu sein, aus eigener Erfahrung. Erst als sie richtig zu hungern begann, rapide an Gewicht verlor und gleichzeitig sehr depressiv wurde, realisierte ich, was los war.

Damals hatte ich noch ein sehr starkes Wir-Gefühl. Ich fühlte mich verantwortlich für das Wohlergehen der ganzen Familie und litt unter unsäglichen Schuldgefühlen, als plötzlich alles aus den Fugen geriet. Mein schlechtes Gewissen war auch deshalb so gross, weil ich mich von meinem ersten Mann hatte scheiden lassen und meiner Tochter und meinem Sohn einen Stiefvater aufoktroyiert hatte, der sehr viel älter und autoritärer war als ihr leiblicher Vater. Nun war es also an mir, zu zaubern und das Unmögliche möglich zu machen: Alles musste sofort wieder gut werden. Wir begannen mit einer Familientherapie.

Meine Tochter hungerte trotzdem weiter, wog bei einer Grösse von 1,62 Meter mitunter nur noch 35 Kilogramm und schleppte sich in völlig entkräftetem Zustand durch die Mittelschulzeit. Jedes Essen wurde zum Drama, die Spannungen, der Streit und das Geschrei wurden unerträglich. Es kam mitunter sogar zu physischer Gewalt in unserer Familie.

Ich selber zerfleischte mich mit Vorwürfen: Wäre ich doch geduldiger gegenüber meinem ersten Mann gewesen. Hätte ich doch auf meine beruflichen Ambitionen verzichtet und mich ausschliesslich meinen Kindern gewidmet. Dabei wusste ich genau, dass die Scheidung überfällig gewesen war und dass ich als Nur-Hausfrau überhaupt keine bessere Mutter gewesen wäre. Doch solche Überlegungen nützten mir gar nichts: Alles, was ich machte und dachte, war falsch. Ich wurde selber depressiv, musste Medikamente schlucken, war so erschöpft, dass ich innert Kürze drei schwere Grippen bekam und trotz aller Sorge um meine Tochter in ein Erholungsheim gehen musste.

Nach einem Jahr wechselten wir den Familien-Therapeuten, und meine Tochter begann zusätzlich eine Einzelbehandlung. Das war zwar ein guter Entscheid, doch er konnte nicht verhindern, dass mein Mann vorübergehend aus unserer gemeinsamen Wohnung auszog. Er brauchte Distanz, weil er den ständigen Terror, Kampf und Stress daheim nicht mehr aushielt. Meine Tochter hatte mit schweren Selbstzerstörungen begonnen, schnitt sich mit dem Rüstmesser, brannte sich mit Zigaretten Löcher in die Haut. Ein Zwischenfall war so gravierend, dass sie notfallmässig im Spital operiert werden musste. Es war schrecklich für mich, tatenlos mitansehen zu müssen, wie sie das Leben, das ich ihr geschenkt hatte, mutwillig kaputt machte.

1992 hatte ich genug von den ewigen Schuld- und Schamgefühlen. Gemeinsam mit einer anderen betroffenen Mutter gründete ich die Selbsthilfegruppe für Angehörige von jungen Menschen mit Essstörungen. Ich wollte wissen, wie andere Eltern mit ihren Sorgen und Nöten fertigwerden. In vielen Gesprächen merkte ich bald, dass wir nicht einfach Ungeheuer sind, sondern ganz normale Mütter und Väter, die Fehler machen und ihren Kindern mitunter auch wehtun. Aber wer macht das nicht? Ein Prozess der schrittweisen Loslösung setzte ein.

Wenig später begann sich dann die Magersucht meiner Tochter in eine Ess-Brechsucht, auch Bulimie genannt, zu verwandeln. Das war der nächste Horror für unsere Familie. Wir mussten die Vorräte vor ihr wegsperren, weil sie sonst alles, aber auch wirklich alles verschlungen hätte. An schlimmen Tagen hat sie Nahrungsmittel im Wert von bis zu zweihundert Franken gegessen und wieder erbrochen. Für mich als Mutter war es einfacher, mit ihrer Bulimie umzugehen. Jetzt nahm sie erstmals wieder etwas an Gewicht zu und war auch nicht mehr so bleich und zerbrechlich wie in den Magersucht-Tagen. Endlich konnte ich es mir erlauben, ihr auch einmal meine Wut und Ablehnung zu zeigen.

Nachdem sie die Matura mit Ach und Krach geschafft hatte und über keinerlei Strukturen mehr in ihrem Leben verfügte, beschloss sie von sich aus, in die Psychiatrische Klinik Hohenegg in Meilen am Zürichsee einzutreten. Ohne mein Wissen hatte sie mit der Krankenkasse verhandelt und sich diese Klinik unter verschiedenen anderen ausgesucht. Es fiel mir nicht leicht zu realisieren, wie selbständig sie plötzlich handelte. Ich musste mich regelrecht dazu zwingen, ihr diese Freiheit zuzugestehen: Nur wenn ich sie in die Selbstverantwortung entlasse, hämmerte ich mir wieder und wieder ein, wird sie eines Tages genesen können.

In der Hohenegg erlitt sie zunächst einen schweren depressiven Zusammenbruch. Sie wurde auf hohe Dosen Anti-Depressiva gesetzt, bekam Schlaf- und Beruhigungstabletten und lebte während insgesamt drei Jahren ihr ganzes Elend, ihren Schmerz und ihre Trauer aus. Während etlicher Monate brach sie jeden Kontakt zu mir ab. Wenn sie mich wieder sah, war sie schroff und aggressiv zu mir. Gnadenlos warf sie mir die Trennung von ihrem leiblichen Vater vor. Inzwischen aber hatte ich genug Distanz gewonnen und wusste, dass ich mein Schicksal nicht von der Art, wie mich meine Tochter behandelte, abhängig machen durfte. Mein Mann und ich hatten eine Ehetherapie absolviert und neue Stabilität als Paar gewonnen. Das ist der einzige positive Aspekt der ganzen Misere.

Heute sehe ich meine Tochter nur noch einmal pro Monat; daneben telefonieren wir ein- bis zweimal. Ich halte es inzwischen sogar aus, auf einen Anruf von ihr zu warten, und greife nicht jedesmal ungeduldig als erste zum Hörer. Sie hat mir deutlich zu verstehen gegeben, dass sie momentan keinen intensiveren Kontakt verträgt.

Es war sehr schwierig für mich zu realisieren, dass ich einst mit einem grossen Machtanspruch an meine Kinder herangetreten bin: Sie hatten den Beweis zu erbringen, dass ich eine erfolgreiche Frau und Mutter bin. Erst von dem Moment an, in dem ich - unabhängig von ihnen - meinen eigenen Wert erkannte, konnte ich mich auch gefühlsmässig besser von ihnen abgrenzen und sie ihr eigenes Leben führen lassen. Meine Tochter ist immerhin schon 24 Jahre alt und wohnt seit kurzem mit ihrem Freund zusammen. Höchste Zeit also, sich als Mutter zurückzuziehen."

* Dominique Naegeli, 50, lebt in Zürich. Sie ist Leiterin des Übersetzungsdienstes der Pro Infirmis, Mutter eines 26jährigen Sohnes und einer 24jährigen Tochter und Mitbegründerin der Selbsthilfegruppe für Angehörige junger Menschen mit Essstörungen.

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© Barbara Lukesch