Wieviel ist Sebastians Leben wert?

Kind im Wachkoma / 18. Januar 1997, "Das Magazin"

Symbolbild zum Thema Psychologie und Medizin

Sebastian, 4, liegt nach einer Herzoperation seit einem Jahr im Koma. Sein Fall wirft die Frage nach dem Wert des Lebens auf - und gibt darauf die Antwort.

Sebastian sitzt auf einem kleinen Stuhl und lacht vergnügt. Temperamentvoll hat er seine Ärmchen ausgestreckt; der Tatendrang steht ihm ins Gesicht geschrieben. Da ist ein Kind mit sich und der Welt in Harmonie. Hinter ihm liegt das Meer, das in der Augustsonne glitzert, unter ihm der weisse Sand, der so rein und klar wirkt, dass man gerade hineinfassen möchte.

Das Foto aus den Ferien in der Toscana zeigt einen glücklichen kleinen Knaben. An den Urlaub im vorletzten Sommer erinnert sich denn auch die ganze Familie voller guter Gefühle. In jener Zeit plapperte ihr Jüngster munter vor sich hin und war drauf und dran, auch laufen zu lernen. Auch daheim in Utzenstorf, der bernischen Gemeinde mit ihren 3500 Einwohnern, hatte die Familie eine Phase von grosser Zufriedenheit erlebt. Im Dorf kannten nahezu alle den kleinen Sebastian. Er gehörte genauso zu Gäumanns wie der elfjährige Marc und die vierzehnjährige Angela. Seine Eltern hatten es geschafft, ihren knapp dreijährigen Nachzüger, ein Trisomie 21- oder sogenannt "mongoloides" Kind, in ihren Alltag zu integrieren.

"Hirnlose Hülle"?

Seither ist mehr als ein Jahr vergangen. Heute lebt Sebastian im Behindertenheim Oberwald im solothurnischen Biberist. Er befindet sich im Zustand des sogenannten Wachkomas. Die einen Experten bezeichnen solche Menschen als "hirnlose Hüllen" und dahinvegetierende Körper, die all dessen beraubt seien, was ein Leben lebenswert mache. Andere glauben, dass komatöse Patienten sehr wohl in der Lage seien, zu empfinden, wahrzunehmen und auf ihre Art zu reagieren. Auch Sebastians Eltern sind überzeugt davon, dass ihr Sohn ein "absolut lebenswertes Leben" führe.

Gäumanns wussten seit langem, dass ihrem Jüngsten eine Herzoperation bevorstand, wie sie bei vielen Trisomie 21-Kindern nötig wird. Da es Sebastian im vorletzten Sommer so gut ging, sahen seine Eltern dem Eingriff mit Zuversicht entgegen. Die verletzende Bemerkung des Berner Arztes, der sich geweigert hatte, ihr Kind zu operieren, hatten sie schon fast vergessen. "Solche Kinder", hatte er gesagt, "verursachen doch nur Kosten und fallen unserer Gesellschaft auch anderweitig nur zur Last". Gäumanns blickten voller Optimismus in die Zukunft; das Universitätsspital Zürich war für sie ein Garant für medizinische Qualität und Zuverlässigkeit.

Da platzte in letzter Minute der seit langem festgelegte Operationstermin. "Bei einem Trisomie 21-Kind", dachten Gäumanns bitter, "kommt es ja nicht so drauf an." Doch statt ins Jammern zu verfallen, pochten sie auf eine Alternative in derselben Woche. Die Vertagung des Eingriffs um Monate, wenn nicht sogar um ein halbes Jahr, mochten sie nicht akzeptieren. Der Zufall wollte es, dass plötzlich ein Termin frei wurde, noch drei Tage vor dem ursprünglich geplanten. Die Eltern sagten zu.

Danach ging alles drunter und drüber. Gäumanns hatten weder mit dem Narkosearzt gesprochen noch wusste dieser am Freitagabend, als er ins Wochenende ging, welches Kind er am Montagmorgen auf dem Operationstisch vorfinden würde.

Ärzte waren nicht informiert

Am 4. Dezember letzten Jahres wurde der knapp dreijährige Sebastian am Herzen operiert. Bei der Einleitung der Narkose - so teilte man seinen Eltern später mit - habe er einen Kreislaufzusammenbruch erlitten. Er musste reanimiert werden. Während rund zehn Minuten sei Sebastians Gehirn nur mangelhaft mit Sauerstoff versorgt worden. Die Herzoperation wurde dennoch durchgeführt; sie sei gelungen. Als später eine Ärztin zu Gäumanns kam und sie fragte, ob sie denn wüssten, dass sie ein mongoloides Kind hätten, reagierten diese konsterniert. Nun wurde ihnen klar, dass die Ärzte in Unkenntnis von Sebastians Behinderung operiert hatten.

Gäumanns verdrängten die Bemerkung der Ärztin. Sie warteten in der Intensivstation am Bett ihres Sohnes nur darauf, dass er aufwachen würde. Doch auch Stunden und Tage nach dem Eingriff lag Sebastian regungslos da, "flach wie ein Brett", wie sich seine Mutter erinnert. Allerdings hatte eine Kollegin ihr erzählt, dass ihr Kind sieben Tage gebraucht habe, um aus der Narkose aufzuwachen. Das beruhigte sie ein wenig.

Doch dann eröffneten die Ärzte den Eltern die Wahrheit. Sebstian werde nie mehr so sein "wie er einmal war". Der Schock sass, auch wenn sie nicht wussten, was das genau heissen sollte. Urs Gäumann fühlte sich wie betäubt: "Das war ein fürchterlicher Augenblick." Würde Sebastian nie mehr lachen, nie mehr seine Ärmchen nach ihnen ausstrecken? Sollte er, der in seinem kurzen Leben schon genug hatte erdulden müssen, einmal mehr auf der Verliererseite stehen?

Seine Eltern waren erschüttert, und genau wie damals, kurz nach seiner Geburt, begann sich die Spirale der Schuldgefühle wieder zu drehen: Was hatten sie falsch gemacht? Was hatten sie Sebastian angetan? Warum nur hatten sie dermassen auf diesen verhängnisvollen Operationstermin gedrängt?

Die Welt sei schwarz, rabenschwarz für ihn geworden, erzählt Urs Gäumann. "Wenn Sebastian stirbt", sagte er damals zu seiner Frau, "will ich auch nicht mehr leben." Fränzi Gäumann litt ebenso. Nachdem die beiden älteren Kinder bei Freunden untergebracht waren, mieteten sich die Eltern ein Zimmer direkt neben dem Spital. Während eines Monats blieben Gäumanns Tag und Nacht in Zürich.

Das Beatmungsgerät wird abgeschaltet

Sebastian lag im Koma, angeschlossen an Maschinen, künstlich beatmet. Seine Eltern hofften verzweifelt darauf, dass er erwachen würde. Es müsse doch einfach wieder gut werden, beschwor Urs Gäumann das Schicksal. Lachen sollte sein Schatz wieder, fröhlich sein. Er ertrug es schier nicht, dass sein Kind, sein einziges Kind so leiden musste.

Als er nach einer guten Woche immer noch keinerlei Reaktionen zeigte, konfrontierten die Ärzte Gäumanns mit der Frage, ob man allenfalls die Maschinen abstellen solle. "Wir waren bereit", erinnert sich Fränzi Gäumann, "ihn gehen zu lassen." Sie hätten sich gesagt: "Wenn Sebastian sterben möchte, soll er sterben können." Damals sei ihnen sein Körper nur noch wie eine seelenlose Hülle vorgekommen; er selber, hätten sie angenommen, habe sich bereits in einer anderen Welt aufgehalten. Viele Verwandte und Freunde besuchten ihn noch einmal und verabschiedeten sich von ihm.

Urs Gäumann hielt sein bewusstloses Kind in seinen Armen; seine Frau machte die "allerletzten Fotos" - und Sebastian wurde vom Beatmungsgerät getrennt. "Es war ein unvorstellbarer Moment", sagt sein Vater. Sebastian hustete zwei-, dreimal, ruderte mit seinen Ärmchen - und begann selber zu atmen. Die Ärzte hatten Gäumanns vorgängig erklärt, dass es noch einige Tage dauern könne, bis ihr Kind endgültig sterbe. So verbrachten sie die folgende Nacht mit Sebastian im Spitalzimmer und hatten ihn - davon waren sie überzeugt - "das letztemal" bei sich. Doch der Knabe lebte weiter.

Er verharrte allerdings im Koma und bot einen erschütternden Anblick. Verkrampft von oben bis unten, mit geballten Fäusten und versteiften Füssen, sogenannten "Spitzfüssen", lag er in seinem Bettchen. Wie ein "mechanisches Baby", sagt Fränzi Gäumann, "das seine Arme hin und wieder spastisch hoch und runter bewegte", sei er ihnen damals vorgekommen. Das Atmen sei ihm nach wie vor sehr schwer gefallen; seine Atemwege seien verschleimt gewesen und hätten regelmässig abgesaugt werden müssen. In dieser Zeit habe er "gekämpft wie verrückt": "Sein Anblick", sagt sie, "hat mir beinahe das Herz abgedrückt."

Viel Leid für Sebastians Geschwister

Auch Marc und Angela, seine Geschwister, mussten sich in jenen Wochen regelrecht überwinden, um ihren kleinen Bruder zu besuchen. Sie empfanden eine Art inneren Widerstand, der sie daran hinderte, ins Spital zu gehen. Zu sehr schmerzte es sie, dem Leiden zuzusehen, dem dieser acht Kilogramm leichte Kinderkörper ausgesetzt war. Marc, damals zehnjährig, geriet in eine Krise, hatte Probleme in der Schule, neigte dazu, sich zu isolieren und mochte mit niemandem über seinen Kummer reden. Angela, die schon dreizehn Jahre alt war, konnte mit ihrer Freundin darüber sprechen, wie sehr ihr Sebastians Not zu schaffen machte. Sie gab die Hoffnung, dass er eines Tages genesen werde, trotzdem nie ganz auf.

Fränzi Gäumann war täglich bei ihrem Jüngsten im Spital. Sie wusch und massierte ihn und steckte ihm die Nasensonde, über die er ernährt wurde. Mit der Zeit spürte sie, dass dieses kleine bewusstlose Bündel, das wie ein Brett in ihren Armen lag, ihr Kraft gab. Daran änderte sich auch nichts, als sich nach zwanzig Tagen ein Auge völlig verzerrt öffnete und sein Mund in eine seltsam schiefe Lage geriet.

Sebastian wurde zum Pflegefall, der weiterhin rund um die Uhr betreut werden musste. Damit war klar, dass er sein Bett im Zürcher Kinderspital über kurz oder lang räumen müsste. Als Alternative bot man Gäumanns das Rehabilitiationszentrum für Kinder in Affoltern am Albis an. Für Fränzi Gäumann, die früher selber im Pflegebereich tätig gewesen war, brach einmal mehr eine Welt zusammen. Die Vorstellung, ihr eigenes Kind "in ein Heim abzuschieben", empfand sie als "brutalen Schlag": "Das macht doch eine Mutter nicht". Den Spitalaufenthalt, sagt sie, hätte sie immer als vorübergehend empfunden. Die Unterbringung in einem Heim hingegen sei ihr wie ein "endgültiger Akt der Resignation" vorgekommen.

Es wurde Zeit, merkten Gäumanns, dass sie sich endlich kundig machten, was denn genau ein Koma sei. Welche Krankheitsverläufe waren bekannt, welche Prognosen stellten die Mediziner?

Koma ist kein eindeutiger Zustand

"Ein Koma", sagt Beat Knecht, Kinderarzt und Leiter des Rehabilitationszentrums in Affoltern, "ist eine Bewusstseinstrübung, die bis zum Bewusstseinsverlust reichen kann." Es sei kein "eindeutiger Zustand", der in Kategorien von "entweder oder" beschrieben werden könne, sondern umfasse verschiedenste Schattierungen und damit auch fliessende Übergänge. Das Stellen von Prognosen sei damit äusserst schwierig. Mit Hilfe der sogenannten "Glasgow Coma Scale" liesse sich der Schweregrad eines Komas ermitteln. Dabei würden die verbalen, motorischen und Pupillen-Reaktionen bestimmt, die ein Patient zeige, wenn er angesprochen oder einem Schmerzreiz ausgesetzt sei.

Einem Koma gehe in jedem Fall eine schwere Hirnschädigung voraus, verursacht durch Unfälle, Hirn- oder Hirnhautentzündungen oder Geburtskomplikationen. In ganz seltenen Fällen verharre ein Patient bis zu seinem Tod in einem komatösen oder sogenannt "persistierend vegetativem Zustand". In der Regel aber erwachten die Betroffenen wieder aus dem Koma, wobei einzelne mehrere Jahre dazu benötigten.

Bewusstsein wird - in der medizinischen Definition - mit Wachsein, Ansprechbarkeit, intellektuell angemessener Reaktion und Erinnerungsvermögen gleichgesetzt. Bewusstlosigkeit ist folglich der Mangel all dessen und damit nichts als ein Defizit (1). Doch entgegen dieser naturwissenschaftlichen Grundannahme gehen immer mehr Fachleute insbesondere aus dem pflegerischen Bereich davon aus, dass Komapatienten sehr wohl vieles in ihrer Umgebung wahrnehmen und auf ihre Art auch beantworten würden. Sie würden sowohl Geräusche, Stimmen und Musik hören als auch Berührungen als angenehm oder störend empfinden. Wer über genügend Einfühlungsvermögen verfüge, sei in der Lage, mit diesen Menschen einen speziellen Dialog zu führen.

Gäumanns hatten Glück im Unglück. Im Zürcher Kinderspital trafen sie Sebastians "Schutzengel": Dieter, einen Physiotherapeuten, der einen ganz besonderen Draht zu ihrem Jüngsten entwickelte und sich auf rührende Art seiner annahm. Entgegen ihrer damaligen Überzeugung, dass Sebastian nichts mitbekomme und mehr einer "leblosen Puppe" als einem Menschen gleiche, bestand Dieter darauf, dass er sehr wohl etwas spüre und eines Tages auch aus dem Koma erwachen werde. Verzweifelt wie er war, mochte vor allem Urs Gäumann den Beteuerungen des jungen Mannes keinen Glauben schenken; ja, er nahm ihm die "falschen Versprechungen", für die er seine Aussagen damals hielt, regelrecht übel.

Sebastian reagiert auf Impulse

Doch Dieter ging unbeirrt seinen Weg. Er sprach mit Sebastian, nahm ihn auf seinen Schoss, schnitt ihm mit dem Skalpell ein paar Schuhe zu, in die seine verkrampften Füsse hineinpassten, organisierte einen Wagen, in dem er ihn spazierenfahren konnte. Und siehe da - wurde Sebastian nicht tatsächlich ein wenig lockerer? Nach Dieters ferienbedingter Abwesenheit, in der eine Kollegin ihn vertreten hatte, war der kleine Patient wieder zurückgefallen. Also reagierte er wirklich auf äussere Impulse und Eindrücke, liess sich sogar positiv beeinflussen von Wohlwollen und Zuwendung. Gäumanns schöpften Hoffnung.

Ihr Leben bestand in jenen Wochen aus Warten, Warten, Warten. Geduld war zu ihrem Grundgefühl geworden. Geduld, Ausharren und Hoffen. Obwohl sie inzwischen wussten, dass ein Komapatient nicht von einer Minute auf die andere die Augen öffnet, seine Angehörigen anlacht und dort anknüpft, wo er seinerzeit "weggetaucht" ist, gab es immer wieder Momente, in denen sie sich mit verzweifelter Heftigkeit genau dieser Wunschvorstellung hingaben. Sebastian musste wieder so sein, wie er vor kurzem noch gewesen war. Mit wehmütigen und schmerzvollen Gefühlen betrachteten sie die alten Fotos von ihm; die Frage: Was wäre heute, wenn am 4. Dezember alles gut gegangen wäre, zerriss sie schier.

Stattdessen brachten sie ihn am 15. Januar in das Behindertenheim Oberwald im solothurnischen Biberist, keine zehn Minuten von ihrem Wohnort entfernt. Das Heim mit seinen hellen, freundlich eingerichteten Zimmern, das sie dem weit entfernten Rehabilitationszentrum in Affoltern am Albis vorgezogen hatten, sagte ihnen zu; das Therapie-Angebot für Sebastian war beeindruckend. Allem Kummer zum Trotz konnten sie ihren kleinen Buben hier mit einem guten Gewissen zurücklassen.

Unsensibler Arzt

Doch kurze Zeit später bekamen sie einen neuerlichen Dämpfer. Ausgerechnet jener Arzt, der Sebastian im Heim medizinisch betreuen sollte, kanzelte Fränzi Gäumann rüde ab, als sie ihren Sohn liebevoll streichelte und mit ihm redete: "Meinen Sie etwa, der hört und sieht Sie? Der spürt sowieso nichts mehr. Das ist ein typisches 'coma vigile'; Ihr Kind ist vom Kopf aufwärts blockiert." Fränzi Gäumann brach in Tränen aus; ihr Mann war sprachlos und fühlte sich "am Boden zerstört".

Dieser Arzt repräsentierte genau jene Denkart, gemäss der Menschen im Koma nicht viel mehr als vegetierende Körper ohne (Lebens-)Sinn und Verstand seien. Im Sinne von Descartes'"cogito ergo sum"/"ich denke, also bin ich" ist für die Vertreter dieser Denkrichtung nur der rational funktionierende Mensch letztendlich überhaupt ein Mensch. Doch Gäumanns besannen sich mehr und mehr auf ihre eigenen Wahrnehmungen und Gefühle. Selbst wenn Sebastians Pupillen immer noch keine Reaktion zeigten, merkten sie, dass er auf ihm vertraute Stimmen ansprach, dass er sich entspannte, wenn seine Mutter ihm Kinderlieder vorsang oder ihn streichelte und im Arm wiegte. Sebastian war keine "lebendige Leiche". Punkt. Er würde aus dem Koma erwachen. Basta. Das jedenfalls hofften Gäumanns inbrünstig.

Der Aufenthalt im Behindertenheim Oberwald brachte denn auch weitere beachtliche Veränderungen. Die Betreuerinnen liebten Sebastian, den herzigen, kleinen "Knopf", der eindeutig vom Bonus des Kleinkindes profitierte. Er war im Gegensatz zu den anderen teils schwerstbehinderten Kindern und Jugendlichen derjenige, der Fortschritte machte, winzige zwar, aber unübersehbare. Irgendwann begann er wieder zu lächeln; eines Tages stieg gar ein kehliges Lachen aus seinem Hals, als ihn seine Mutter durchkitzelte. Mit der Zeit lernte er wieder zu schlucken und konnte gefüttert statt über die Nasensonde ernährt werden. Erste Bewegungen mit den Armen und Beinen folgten.

Das Pflegepersonal nahm sich seiner mit besonderem Eifer an. Auch für sie war der Umgang mit einem sogenannt komatösen Kind neu. Zwölf Betreuer und Betreuerinnen pilgerten denn auch gemeinsam nach Affoltern a. Albis und liessen sich von den Spezialisten in der fachgerechten Behandlung eines solchen Patienten unterweisen.

Intensives Stimulationsprogramm

Mit Hilfe des Koma-Stimulationsprogramms wurden fortan Reize auf all seine Sinnesorgane ausgeübt, um ihn nach und nach aufzuwecken. Mit Wattestäbchen, Schmiergelpapier oder einem Plüschtier wurden seine Körperteile berührt; Wechselbäder in warmem und kaltem Wasser sollten die Sensibilität für Temperaturunterschiede wecken; das Klopfen auf die Wangen oder Drücken auf das Nagelbett diente dazu, seine Schmerzempfindlichkeit zu ermitteln. Geruch- und Geschmackreize liessen erkennen, dass er bereits wieder Unterschiede zwischen für ihn angenehmen beziehungsweise unangenehmen Gerüchen und Geschmacksnoten machte. Nelkenpulver und Essig mag Sebastian nicht, auf Süsses hingegen spricht er gut an.

Die Heilpädagogin Edith Bieri betreut Sebastian nun bereits seit einem knappen Dreivierteljahr. Sie empfindet die Arbeit mit ihm "als anstrengend und fordernd, aber auch sehr bereichernd". Insbesondere in den ersten Monaten habe sie sich mitunter schon gefragt, ob Sebastian mit seinen eingeschränkten Möglichkeiten überhaupt noch ein Mensch sei, ob es sich lohne, täglich knapp vierhundert Franken in die Betreuung eines solchen Patienten zu stecken. Wäre es für seine Familie, überlegte sie sich, nicht einfacher gewesen, wenn er gestorben wäre. Diese Gedanken seien sehr belastend für sie gewesen, aber sie hätten sich ihr damals aufgedrängt.

In der täglichen Arbeit mit ihrem kleinen Patienten musste sie feststellen, dass sie als Erwachsene Mühe hatte, "seine Welt zu erfassen, mitzuerleben und zu erobern". Mangels sprachlicher Kommunikationsmittel war sie darauf angewiesen, neue Sensorien zu entwickeln, dank derer sie seine Signale und Botschaften entschlüsseln konnte. So hat Edith Bieri gelernt, seine gerötete oder bleiche Hautfarbe, aber auch seinen Atemrhythmus und seine Muskelspannung als Ausdrucksmittel seiner Stimmungen zu lesen. Sie hat inzwischen auch gemerkt, dass Sebastian nicht nur "Lieb- und Nettsein" braucht, sondern dass auch zu seinem Leben die ganze Gefühlspalette gehört. Und das heisse, dass man auch mit ihm manchmal schimpfen, auch ihn hin und wieder grob anpacken und mit ihm an Grenzen gehen dürfe.

Sebastian will alles oder nichts

Sebastian, sagt Edith Bieri, komme ihr oftmals wie ein "Querschläger" zu den gängigen Werten und Normen unserer Gesellschaft vor. Statt Tempo, Fortschritt, Leistung, Effizienz, Funktionalität und Nützlichkeit zwinge er seiner Umgebung Langsamkeit, Intensität, Individualität, Konzentration und das Sein im Moment auf. Während der Begegnungen mit ihm erfahre sie einen "völlig neuen Zeitbegriff: Die Zeit dehnt sich, und ich gerate in einen reduzierten Bewegungs- und Sprachrhythmus." Gleichzeitig verlange er hundertprozentige Aufmerksamkeit und konzentrierte Kontaktaufnahme unter Einbezug des Körpers: "Er will", sagt Edith Bieri, "alles oder nichts". Mit "halbpatzigem Wischi-Waschi", so die Heilpädagogin, komme sie bei ihm keinen Schritt weiter. Sebastian habe sie auch gelehrt, den Weg statt das Resultat ins Zentrum ihrer Arbeit zu stellen.

Wohin die therapeutische Arbeit mit dem nun knapp Vierjährigen geführt hat, lässt sich tatsächlich nur schwer in mess- und beweisbare Begriffe fassen. Rein medizinisch gesehen befindet sich Sebastian nun im sogenannten "Wachkoma". Nach wie vor zeigt er keine regelmässigen Pupillenreaktionen und kann höchstens Hell-Dunkel unterscheiden. Er kann weder seine Zunge noch seine Kopfhaltung kontrollieren. Das selbständige Sitzen und Drehbewegungen mit seinem Körper fallen ihm noch schwer. Noch ist unklar, inwieweit diese Einschränkungen auf seine Bewusstseinstrübung beziehungsweise auf die während der Narkose erlittene Hirnschädigung zurückzuführen sind. Ende Jahr wird erneut sein medizinischer Status unter Einbezug von Ärzten und Therapeutinnen erhoben.

Gäumanns stehen den Medizinern mehr als skeptisch gegenüber. Deren Resultate, Zahlen und Fakten sagen ihnen nicht mehr viel. Sie selber haben inzwischen gelernt, ihren kleinen Liebling so zu nehmen, wie er sich im Moment präsentiert. "Wir haben wieder ein Baby", sagt Fränzi Gäumann, "das wir neu kennenlernen müssen." Natürlich wünschten auch sie sich ihren "alten fröhlichen Sebastian" zurück. Doch erprobt im Umgang mit einem behinderten Kind, seien sie auch jetzt in der Lage, ihre Erfolgserwartungen zu kontrollieren. "Das Schönste", so Fränzi Gäumann, "wäre, wenn wir ihn bald zu uns nach Hause nehmen könnten." Egal, ob er dann noch komatös sei oder nicht: "Hauptsache - er ist wieder bei uns."

Christel Bienstein, Andreas Fröhlich (Hrsg.), Bewusstlos. Eine Herausforderung für Angehörige, Pflegende und Ärzte.

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© Barbara Lukesch