Heiliger Heiko auf Zeit

Vom Aidspfarrer zum Mieterschreck / 16. März 2002, "Das Magazin"

Symbolbild zum Thema Aids

«Wie viel Tod verkraftet ein Mensch? Wie viel Tod verkrafte eigentlich ich?» (Heiko Sobel, 1994)

Als Aids vor knapp zwanzig Jahren auftrat, galt die Krankheit vielen Menschen als gerechte Strafe Gottes für Homosexualität, Promiskuität und Drogensucht. Zyniker prägten eine vernichtende Formel: Aids bekommt man nicht, Aids holt man sich. Angehörige von Aidsopfern machten in Todesanzeigen einen grossen Bogen um die bittere Wahrheit. Einzig die grosse Zahl jung verstorbener Flight Attendants liess die Öffentlichkeit ahnen, in welchem Ausmass das unheimliche Phänomen unter Homosexuellen wütete. In Spitälern versah man die Zimmer der Aidspatienten mit dem Seuchenpunkt, um das Personal vor Ansteckung zu warnen. Aids bedeutete Angst, Tabu und Moral. HIV-Positive litten nicht nur unter ihrer tödlichen Krankheit, ebenso sehr unter sozialer Ächtung.

Da wirkte Aidspfarrer Heiko Sobel wie ein Segen. Dass es ausgerechnet ein Mann der Kirche war, der 1987 wie aus dem Nichts auftauchte und sich um jene Menschen kümmerte, deren Sexual- und Suchtverhalten vielen als unbotmässig galt, grenzte fast an ein Wunder. Und wie sich der 47-jährige Deutsche für sie ins Zeug legte: Er war Tag und Nacht unterwegs, forderte sich bis an die Grenzen seiner Möglichkeiten und zeigte sich gleichgültig gegenüber der gesellschaftlichen Ablehnung, die ihm als Pionier entgegenschlug. Die Kraft dazu gab ihm, wie er Ende 1987 dem «Tages-Anzeiger» verriet, «die Hoffnung, dass letztendlich ein gütiges Lächeln Gottes die Welt umspannt - über alle Gräben, Wunden, Risse und Schmerzen hinweg, und dieses Lächeln versuche ich durch mein Lächeln zu vermitteln». Da war der Stellvertreter eines wohlwollenden Gottes am Werk, der es sich zum Ziel gesetzt hatte, einer unmenschlichen Krankheit ein menschliches Antlitz zu verleihen.

Sobel, der sensible, grosszügige Aidspfarrer

In der Regel hatten Sobels Klienten und Klientinnen keine Beziehung zur Kirche. Was sie suchten, waren Trost und Akzeptanz. Der Pfarrer schenkte ihnen beides. Das Buch «Aidszeit. Ich kann nicht mehr leben wie Ihr Negativen», das 1990 erschien, zeigt bewegende Szenen des Aidspfarrers mit Todgeweihten: Sobel hört sich die Ängste der Betroffenen an, hält unheilbar Kranken die Hand am Bett, streichelt zärtlich über den Kopf, streichelt auch gleich noch die Katze am Krankenbett mit, küsst die Wange eines Verzweifelten, reicht Gläser bei letzter Geselligkeit, und immer wieder ist er an Abdankungen zu sehen.

Sobel war nicht nur ein sensibler, sondern auch ein grosszügiger, unternehmungslustiger Pfarrer. Mal spendierte er einem Kranken eine letzte Ferienreise, mal einen Wintermantel. Er begleitete eine Selbsthilfegruppe nach Rom, feierte Feste mit den Todgeweihten und deren Freunden. Unvergesslich bleibt sein Engagement für den ehemaligen Zürcher Drogenkonsumenten Sacha, der sich, bereits von Aids gezeichnet, verliebte und von ihm auf der idyllischen Zürichseeinsel Ufenau trauen liess. Eindrücklich auch die Aidsgottesdienste, für die Sobel lange Zeit vergeblich einen Raum gesucht hatte, bis er ihn in der St.-Peter-Kirche mitten in Zürich fand.

In jenen Jahren war dieser aussergewöhnliche Pfarrer eine Art Held, ein Rebell aber auch, der den Kranken und Gekränkten mitunter zum ersten Mal in ihrem Leben zu Würde und ein wenig Respekt verhalf. Seine «Schäfchen», viele von ihnen auch ohne Aids randständig und ausgegrenzt, waren ihm in grosser Dankbarkeit verbunden. Schliesslich liess sich auch die so genannt bessere Gesellschaft von Sobels «genuinem Charisma», das ihm ein langjähriger Wegbegleiter attestiert, und seinen starken Taten berühren. Dieser Mann verdiente finanzielle Unterstützung.

Sobel zauberte mit blossen Worten, Sätzen und Symbolen. Seine gemeinnützigen Stiftungen tragen Namen wie «Bluemehuus» oder «Stunde des Herzens». Von einer seiner Amerikareisen brachte er den Aids-Teddy mit, ein Plüschtier, das für Geborgenheit und Mitgefühl stand. Als er den Teddy zum Zweck des Fund Raising in Tausenderauflagen zu verkaufen begann, bald auch über die Landesgrenzen hinaus, ertrank Sobel alias «Mister Bärli», wie man ihn fortan in der Szene nannte, fast im Geld. Dieser Geldsegen trug dazu bei, den Mythos um seine Person wach zu halten. Dazu kamen kernige Sätze wie dieser: «Die Wahrscheinlichkeit, dass sich Menschen, die in Ausübung ihres Berufs mit Aidspatienten zu tun haben, mit dem HIV-Virus infizieren, ist unendlich viel kleiner als diejenige, dass sie von einem Blitz erschlagen werden.» Sobels Ausspruch wurde makabre Realität, als wenig später Markus Oertle, Geschäftsführer der Zürcher Aidshilfe, tatsächlich von einem tödlichen Blitz getroffen wurde.

Sobel genoss Heiligenstatus

Die Medien publizierten, was er zu sagen hatte. Auch im «Magazin» gab Sobel seinem Groll auf Stadt und Kanton Zürich mehrfach Ausdruck. Er beschuldigte Behördenvertreter, sie seien gegenüber den Aidskranken hartherzig und knauserig. Viele Journalistinnen und Journalisten machten die Sache des Aidspfarrers zur ihrer und verschmolzen mit ihm im Wunsch, Gutes zu tun.

So genoss Sobel Anfang der Neunzigerjahre beinahe Heiligenstatus. Kritik war tabu, Zweifel an seinem Tun drangen nicht an die Öffentlichkeit. Einzig innerhalb der Schwulenszene, in der man aus dem «ersten Aidspfarrer Europas» flugs «unseren Weltaidspfarrer» gemacht hatte, wurde nebst Bewunderung vereinzelt Skepsis und Argwohn geäussert. Das musste noch nichts heissen. Wer dermassen im Rampenlicht steht, bekommt zwangsläufig Neid und Missgunst zu spüren. Dagegen sind selbst Heilige nicht gefeit.

Heute, zwölf Jahre später, führt Sobel ein ganz anderes Leben. Aus Gottes Stellvertreter auf Erden ist ein umtriebiger Geschäftsmann geworden, der mehrere Immobilien besitzt oder verwaltet, darunter ein Haus im Zürcher Rotlichtmilieu, und in Firmen mitmischt, deren Zweck sich nur schwer definieren lässt. Die Zimpel AG im zugerischen Baar beispielsweise (Motto: «Alles simpel - dank Zimpel») betreibt «Handel mit materiellen und immateriellen Gütern aller Art». Die Rouffson AG, Zürich, widmet sich gemäss Handelsregister der «Entwicklung von inhaltlichen Konzeptionen für alle Bereiche der medialen Auswertung». Sobel arbeitet im Liegenschaftenbereich eng zusammen mit Michael Meier, einem 33-jährigen Rechtskonsulenten aus Wald ZH. Meier zählt zu den 200 Verwaltungsräten mit den meisten Mandaten in der Schweiz. Meier und Sobel teilen sich gemeinsam die Hausverwaltungen; der Rechtskonsulent kümmert sich ums Administrative, der Pfarrer um die Mieter.

Neu ist nicht die Geschäftstüchtigkeit Sobels. Neu und irritierend sind die Methoden, derer er sich bedient.

Die 80-jährige Hedy D. trauerte noch, als Sobel sie mit subtiler Beharrlichkeit dazu brachte, ihm das Haus ihres erst wenige Wochen zuvor an Aids gestorbenen Sohnes Alain an der Zürcher Mattengasse zu verkaufen. «Ich fühlte mich schwach und hatte gar kein Interesse an Geld», erinnert sie sich, «und Herrn Sobel habe ich blind vertraut, schliesslich war er ja Pfarrer.» Sie hatte Sobel an Alains Krankenbett kennen gelernt und seine liebenswürdige Art sehr zu schätzen gewusst. Nun erzählte er ihr, dass seine eigene Wohnung an einer lauten Strasse liege und dass er gerne an die Mattengasse ziehen würde. Weil Sobel versprach, dem Haus, das ihrem Sohn so viel bedeutet hatte, Sorge zu tragen, willigte die Frau schliesslich in den Verkauf ein. Dabei hatte sie ein Mitarbeiter ihrer Bank darauf aufmerksam gemacht, dass sie das Haus mit 525'000 Franken unter dem Wert hergab: «Ich hoffte, dass ich den Kranken damit helfen konnte. Schliesslich erwartet man ja von einem Pfarrer, dass er Gutes tut.»

Die dubiosen Methoden des Heiko S.

Entgegen seinen Beteuerungen verkaufte Sobel das Haus bereits ein halbes Jahr später an einen Freund, einen Zürcher Arzt. Er sagt heute, er sei froh, dieses Objekt, dessen Treppenhaus von Holzwürmern befallen gewesen sei, überhaupt losgeworden zu sein - er habe damit keinen Gewinn gemacht. Für Hedy D. war es schlicht Vertrauensbruch.

Doch damit war die Sache noch nicht ausgestanden. Ende Mai vergangenen Jahres erhielt Hedy D. einen eingeschriebenen Brief von der Unternehmens- und Wirtschaftsberatung Fritschi, Meier + Co., einer der Firmen von Sobels Geschäftspartner Michael Meier. Darin forderte man sie auf, einen Schuldbrief im Wert von 50'000 Franken, der auf ihrem Wohnsitz in der Westschweiz laste, innerhalb von sechs Wochen an einen nicht näher bezeichneten ausländischen Klienten zu begleichen. Das Haus hatte sie von ihrem verstorbenen Sohn geerbt.

Die 80-Jährige fiel aus allen Wolken. Wer steckte hinter dieser Unternehmens- und Wirtschaftsberatung? Wer war dieser ausländische Klient? Und vor allem: Warum hatte ihr Sohn ihr nie etwas von diesem ominösen 50'000-Franken-Schuldbrief erzählt? Sie bat einen Bekannten, dem sie vertraute, die Firma Fritschi, Meier + Co. zu kontaktieren vergeblich. Auch ihre Bank drang nicht durch und fand keinen Schuldbrief, der Mutter oder Sohn belastet hätte. Letztlich verlief die Geschichte im Sand, und Hedy D., die nicht zahlte, wurde in Ruhe gelassen. Erst als der «Beobachter» über Heiko Sobel und seine berufliche Entwicklung berichtete, begriff die alte Frau die Geschäftspartnerschaft zwischen Meier und Sobel, und da beschlich sie ein Verdacht: Hatte der Pfarrer versucht, aus der Not einer hilflosen, allein stehenden Frau Kapital zu schlagen?

Sobel bestreitet diesen Vorwurf energisch und betont, nichts von jenem Schuldbrief über 50'000 Franken zu wissen. Unternehmensberater Meier teilt nach internen Abklärungen mit, «dass sich unsere Klientin (weibliche Person) auf Grund und nach unseren Inkassomassnahmen mit der Schuldnerschaft direkt geeinigt hat und eine Saldozahlung erreicht wurde». Einen schriftlichen Beleg für die «erreichte Saldozahlung» will er nicht zeigen. Hedy D. sagt, sie habe in dieser Sache nie auch nur einen Franken gezahlt. Hätte sie es getan, gibt D. zu bedenken, müsste sie doch im Besitz jenes Schuldbriefs sein, den Meier ihr bei Begleichen der 50'000 Franken versprochen hatte. Meier kontert lapidar: «Damit steht nun also Aussage gegen Aussage.»

Arroganter Auftritt

Nicht nur gegenüber Hedy D., auch anderen gegenüber zieht Sobel völlig neue Saiten auf. Verschiedenen Mietern und Mieterinnen, deren Wohnungen er verwaltet oder besitzt, begegnet er oft sehr forsch. Anna H.* erlebte Sobel bei einer ersten Begegnung im Treppenhaus als «dermassen arrogant», dass später noch eine ungeheure Wut in ihr hochgestiegen sei. Sie habe den Mann höflich und anständig um ein paar Auskünfte gebeten, worauf dieser sie einfach stehen gelassen habe. Im Nachhinein kann sich Anna H. sein Verhalten nur so erklären, dass er sie aus der Wohnung haben wollte. Sie zog denn auch innert Kürze aus.

So leicht macht es ihm die Hausgemeinschaft am Zürcher Schöneggplatz 1 nicht. Mit den meist jungen Mietern liefern sich Sobel und Meier seit mehr als einem Jahr einen wahren Kleinkrieg, der inzwischen auch mit juristischen Mitteln ausgefochten wird. Dabei agiert meist Sobel vor Ort, während Meier den Briefverkehr übernimmt. Tobias Siegfried, einer der Mieter, sagt: «Es ist ausserirdisch, wie sich Sobel uns gegenüber aufführt.» Er stolziere im Stechschritt durchs Haus, und sein bevorzugter Umgangston sei der eines Kommandanten. Einmal sei es eine Topfpflanze im Hausflur, die seinen Zorn errege, ein anderes Mal ein Ölkännchen, eine Flasche mit Lösungsmittel oder eine abgebrochene Teppichleiste, und jeder Einzelne der angemahnten Gegenstände werde mit einem signalroten Kleber versehen, auf dem gedruckt steht: «Wird entsorgt». Sobel sagt, er sei als Hauseigentümer dafür verantwortlich, dass die feuerpolizeilichen Auflagen erfüllt werden. Seit einem Brand, den er in einem Hotel in Montreal erlebt habe, habe er einen regelrechten Horror vor Treppenhausfeuern.

Auch gegenüber den Bewohnern des Hauses Hohlstrasse 48 zeigt sich der ehemalige Seelsorger wenig zimperlich. Als er unangemeldet mit einer ganzen Gruppe von Interessenten vor der Tür einer Wohnung erschien, die nicht gekündigt war, sei er ausgerastet, als ihm der Zugang verweigert wurde. Sobel habe gedroht, eine Umtriebsentschädigung von 120 Franken pro Stunde plus 80 Franken für jeden nicht ordnungsgemäss auf der Strasse deponierten Müllsack einzufordern.

Ein Immobilienfachmann, der beruflich mit ihm zu tun hat, ist empört über die Art, wie er immer wieder kleinen Leuten, Ausländerinnen und Prostituierten die Mietzinsen erhöht, in der Hoffnung, sie würden stillhalten: «Es ist alles andere als christlich, was er heute mit seinen Mitmenschen anstellt.» Sobel sagt, er habe Prostituierte, die bei ihm gemietet hatten, keineswegs ausgenutzt, im Gegenteil, Einzelnen gar den Mietzins für die Absteige gesenkt, als er zwei Problemhäuser für vier Monate vom Konkursamt übernahm.

Was, zum Teufel, ist mit Sobel passiert?

Im Übrigen will sich Sobel gegenüber den Medien nicht äussern. Er, der früher aus Zeitmangel schon mal ein Interview beim Coiffeur gewährte und im Umgang mit Journalisten geschmeidig war, gibt sich heute medienscheu. Es sei ihm völlig gleichgültig, lässt er das «Magazin» wissen, ob ein Artikel über ihn erscheine. Das gebe allenfalls seinem Anwalt Futter. Erst als er schriftlich mit Fragen und Vorwürfen konfrontiert wird, ist er bereit, sich mit dem Chefredaktor, nicht aber der Autorin, zu einem Gespräch zu treffen.

Sobel bringt zum Treffen verschiedene Dokumente mit. Darunter auch das Schreiben einer Mieterin des Hauses am Schöneggplatz 1, in dem sie sich bei ihm entschuldigt. Er sei kein Mieterschreck, sagt Sobel, sondern ein ausgeglichener Mensch, Sternzeichen Waage. Er wolle Frieden mit den Mietern und werde erst dann laut, wenn jemand seine Miete vier Monate lang nicht zahle.

Da steht also wiederum Aussage gegen Aussage. Die Wandlung der einstigen Lichtgestalt zum streitbaren Hausverwalter ist jedoch unübersehbar. Was, zum Teufel, ist mit Pfarrer Sobel bloss passiert? Warum, fragt man sich im Nachhinein irritiert, wurde er zum unanfechtbaren Gutmenschen stilisiert? Verlangte die Not der ersten Generation von Aidskranken nach Helden, die über jeden Zweifel erhaben waren? Dabei gab es schon damals durchaus Anzeichen, dass der Aidspfarrer weniger heilig und uneigennützig war, als sein öffentliches Image vermuten liess. Das damalige Bild war eine geniale PR-Leistung in eigener Sache. Sobel hielt sich in der Anfangszeit bedeckt und liess sich nicht fotografieren. Das sei eine Schutzmassnahme zu Gunsten seiner Klienten, erklärte er, weil diese durch sein Erscheinen an ihrer Wohnungstür nicht als Aidskranke geoutet werden sollten. Die Medien zeigten sich beeindruckt und respektierten den Entscheid. Ein PR-Experte schmunzelt heute darüber: «Da schlich also der Aidspfarrer im Verborgenen von Tür zu Tür und rettete verlorene Seelen. Das steigerte das Interesse an seiner Person ganz beträchtlich.»

Das "Heiligenscheinbuch"

Als die Idee entstand, ein Buch über den Aidspfarrer und seine Klienten zu publizieren, liess Heiko Sobel seine Diskretion fallen. Nun wollte er Aids plötzlich ein Gesicht geben und liess sich dafür monatelang von einem Fotografen begleiten. Im Buch trat der Pfarrer auf knapp vierzig von neunzig Bildern selber in Erscheinung. Innerhalb der Szene, so erfährt man heute, nannte man das Werk umgehend das «Heiligenscheinbuch». Aus dem unbekannten Gemeindepfarrer von Thalwil, einem gewöhnlichen Vertreter des Berufsstandes, war innert Kürze ein Medienstar geworden.

Anfang der Neunzigerjahre wurde Sobel Direktor des Lighthouse, dem Zürcher Sterbehospiz für Aidskranke, von dessen Realisierung er stets geträumt hatte. Doch diese Tätigkeit brachte ihm nicht die gewünschte Erfüllung. Aus dem gütigen Seelsorger wurde, wie sich Betroffene erinnern, ein gehetzter Manager. Als er von einem schwer kranken Klienten und dessen Angehörigen, die er aus Aidspfarramtszeiten kannte, um einen Besuch gebeten wurde, kam er zwar auf einen Sprung vorbei. Doch zur Überraschung der Anwesenden wurde er begleitet von einer mehrköpfigen Equipe des Schweizer Fernsehens, die einen Beitrag zum Weltaidstag drehte. Kaum war die Szene gefilmt, brach der Tross wieder auf. Sobel nahm sich nicht einmal die Zeit, dem Kranken Trost und Zuspruch zu spenden. Er hatte auch keine Zeit, als der Patient wenig später im Lighthouse starb und blieb sogar der Beerdigung fern, obwohl er den Verstorbenen einst intensiv betreut hatte.

Spricht man Sobel direkt auf seine Wandlung an, beschreibt er die damalige Zeit als «absolute Extremerfahrung»: Irgendwann habe er das Leid einfach nicht mehr ausgehalten. Ins Lighthouse seien ausschliesslich Todgeweihte gekommen; einige seien noch am Tag ihrer Einlieferung gestorben, andere nach wenigen Wochen. Die meisten seien einen sehr qualvollen Tod gestorben, weil sich ihre Lunge langsam mit Wasser gefüllt habe. Es sei vom Team erwartet worden, 24 Stunden lang zur Verfügung zu stehen. Wenn etwa jemand nachts um elf noch ein Spiegelei gewünscht habe, habe man ihm das gebracht, schliesslich seien diese Menschen kurz vor ihrem Tod gestanden.

Zoff im Dreamteam

Weil Sobel während dieser «Extremerfahrung» Einzelkämpfer blieb, wurden die Konflikte im Lighthouse immer grösser. Man bezichtigte ihn der Günstlingswirtschaft, etliche Mitarbeiter kündigten ihre Stelle. Seine Beziehung zum Aidsspezialisten Professor Ruedi Lüthy, damals ärztlicher Leiter des Lighthouse, kühlte sich schnell ab. Im einstigen Dreamteam zwischen dem Mediziner und dem Theologen kam es zu Meinungsverschiedenheiten über die Führung des Hauses, was am Ende zum Ausscheiden Sobels führte. Wer Sobel über Lüthy reden hörte, war schockiert. Dieser Zorn! Lüthy fragt sich noch heute, ob Missgunst und Konkurrenz mit im Spiel waren: «Als Heiko nach seinem Ausscheiden aus dem Lighthouse realisieren musste, dass die Einrichtung auch unter meiner Leitung weiterbestand, mag er sich in seiner Eitelkeit und seinem beruflichen Stolz verletzt gefühlt haben.»

Wollte Sobel in der Folge als Liegenschaftsverwalter einfach mehr Geld verdienen und verabschiedete sich deswegen von seiner Rolle des Gutmenschen? Roger Staub, der damalige Delegierte für Aidsfragen des Kantons Zürich, erinnert sich an eine Diskussion im Stiftungsrat des Lighthouse, in der es um das Gehalt des Direktors ging: «Im Unterschied zu Heimleitern vergleichbarer Institutionen bestand Sobel auf einem Gehalt von rund 140'000 Franken.» Staub erhob Einspruch, wurde aber überstimmt - und künftig nicht mehr an die Sitzungen des Stiftungsrats eingeladen. Seiner Salärforderungen zum Trotz präsentierte sich Sobel öffentlich weiterhin als Mann der salbungsvollen Bescheidenheit: «Ich fühle mich wohler auf Holzbänken oder im Zelt als in gemachten Nestern.» («Tages-Anzeiger», 7. Juli 1997)

Mitarbeiter der Zürcher Aidshilfe erfuhren damals mehr als einmal von ihren Klienten oder deren Angehörigen, dass Sobel gegenüber Schwerkranken oder Sterbenden deren Nachlass thematisierte. Doch wagte ihn niemand auf dieses heikle Vorgehen anzusprechen. Sobel bestätigt, dass er in rund zehn Prozent der Fälle über Erbangelegenheiten der von ihm seelsorgerisch betreuten Menschen gesprochen habe: Die Regelung des Nachlasses sei eine der Voraussetzungen, damit jemand beruhigt sterben könne. Nie aber sei es ihm um eine persönliche Bereicherung gegangen.

Unkontrollierte Geldströme

In den Neunzigerjahren geriet das Lighthouse wegen des Themas Spenden wiederholt in die Schlagzeilen. So sollen nach Aussagen verschiedener freiwilliger Helferinnen auch bei den jeweiligen Weihnachtsaktionen im Hauptbahnhof, wo die Aids-Teddys weggingen wie heisse Weggli, unkontrollierte Geldströme geflossen sein. Andreas Baumann, damaliger Leiter des Sterbehospizes, reichte im Januar 2000 unter Protest seine Kündigung ein, weil der Stiftungsrat seine unmissverständliche Kritik an Sobels Finanzgebaren negierte und nicht bereit war, echte Transparenz bei den Bärenverkäufen herzustellen.

Sobels Haupttätigkeit besteht heute im Marketing von gemeinnützigen Teddybärenverkaufsaktionen, die es inzwischen in 91 Städten gibt. Daneben widmet er sich der Immobilienverwaltung, ist aber nach wie vor auch seelsorgerisch tätig. Für viele im Rotlichtviertel gilt Sobel als eine Art Vaterfigur. Die letzte Weihnacht hat er mit achtzehn Prostituierten gefeiert. Eigentlich, meint er, unterscheide sich sein heutiges Tun nicht sonderlich von seinem früheren. Nur erlebe er jetzt auch Erfolge, sehe auch mal, dass ein Salatkopf wachse.

Der ehemalige Aidspfarrer war immer eine schillernde Figur und hat zweifellos viel Gutes getan. Doch eines Tages, so scheint es, hatte er die Rolle des ewigen Wohltäters satt, war er es leid, stellvertretend für die Gesellschaft Güte und Mitleid am Laufmeter zu produzieren. Wie viele Sozialhelfer war Sobel irgendwann ausgebrannt. Doch das allein reicht als Erklärung für seinen Wandel nicht. Er hat sich wohl auch am Widerspruch zwischen dem von ihm veröffentlichten Idealbild und seiner Realität aufgerieben. Vielleicht hat aller Altruismus seine Wurzel im Egoismus. Und Sobel kam der Wahrheit am 10. Juli 1992 in einem Interview mit dem «Magazin» am nächsten: «Man muss aber auch sagen, dass unser Beruf nichts Selbstloses hat, oftmals wird damit ein eigenes tiefes Manko überbrückt».

* Name der Redaktion bekannt

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© Barbara Lukesch