Sozialarbeiter in der Krise

Nach Letten-Schliessung / April 1996, "Die Weltwoche"

Symbolbild zum Thema Drogen

Identitätskrise bei Zürcher SozialarbeiterInnen nach der Schliessung der offenen Drogenszene Letten.

Wer im Drogenbereich Sozialarbeit verrichtet, braucht eine dicke Haut. Gesprayte Botschaften wie "Hilf dir selbst, sonst hilft dir ein Sozi!" an einer Zürcher Hauswand mochten Humorbegabte ja noch mit einem Lachen quittieren. Sozialschaffende müssen es sich aber insbesondere von politischen Hardlinern auch gefallen lassen, mit der Drogen-Mafia gleichgestellt, als Polit-Agitatoren abgestempelt, zu Komplizen der Junkies und damit zu den wahren Schuldigen am Drogenelend gemacht zu werden. Andere verhöhnen sie als weltfremde Samariter; die nächsten stilisieren Pfarrer Sieber zum Heiligen. Nur als Fachleute bezeichnet sie fast keiner.

Zu guter Letzt kommt noch Monika Stocker, die Vorsteherin des Zürcher Sozialdepartements und selber von Haus aus Sozialarbeiterin, und behauptet frech, dass nach der Schliessung der offenen Drogenszene am Letten vor allem eine Personengruppe einen "Rollenverlust erlitten" habe, nämlich nicht etwa die Drogenkonsumenten, sondern die Drogenfachleute oder "Drogencharismatiker", wie sie sie mit spitzer Zunge nennt.

"Klebrige Belästigung"

Zürcher Drogenkonsumenten klagen zur Zeit tatsächlich über die "klebrige Belästigung" durch hauptsächlich religiös motivierte Helfer und Helferinnen, die "einem das Leben bald schwerer machen als selbst die Polizei." Armin Parpan, der 42jährige Fixer und Szenenkenner, stellt lakonisch fest: "Ich hätte nicht gedacht, dass wir eines Tages so begehrt sind. Am Letten war es ja noch heilig; jetzt machen die Gassenarbeiter regelrecht Jagd auf den letzten Fixer."

Die rund 10'000 in der Schweiz im Drogenbereich tätigen Sozialarbeiter stehen unter Druck wie noch selten. Schon immer bildeten die "Sozis" eine Berufsgruppe, die mit Ambivalenzen zu kämpfen hatte. Gern werden sie als Seide-Wolle-Bast-Fanatiker abqualifiziert, die sich in endlosen Teamsitzungen und Supervisionen mehr um den eigenen Nabel als um die Probleme ihrer Klienten kümmern. Nicht selten werden sie als "Sozialhyänen" gebrandmarkt, die sich am Elend der ihnen Anvertrauten gütlich tun.

Doch heute steht die gesamte Berufsgruppe der - nennen wir sie einmal so - Drogenfachleute an einem neuen Punkt ihrer Berufsgeschichte, der sie zutiefst verunsichert. Die Drogenarbeiter sind in das Zeitalter des Marktgeschehens eingetreten. Erstmals konfrontiert mit den Gesetzmässigkeiten von Angebot und Nachfrage müssen sie ein Bewusstsein für Konkurrenz entwickeln. "Die totale Ökonomisierung der Drogenarbeit hat stattgefunden", konstatiert Thomas Kessler, Drogendelegierter in Basel. Heute reiche es nicht mehr, Gutes tun zu wollen, heute seien vor allem auch Management-Qualitäten gefragt.

Die Betroffenen haben offenbar den Ernst der Stunde erkannt. An hochfrequentierten Tagungen debattieren sie über Qualitätssicherung und Professionalisierung ihrer Arbeit, über Koordination und Planung in einem millionenschweren Marktsegment, wo im Hintergrund Sparmassnahmen, Stellenabbau und Institutionensterben lauern. Der Zürcher Drogenexperte Peter Burkhard hält fest: "Die Zeit, in der Sozialarbeit ein 'Abfallprodukt' unserer Überflussgesellschaft war und sich niemandem gegenüber legitimieren musste, ist vorbei."

Vorbei sind auch die satten Jahre des bequemen Lebens, in denen die Mitarbeitenden in Therapie- und Entzugseinrichtungen ständig am längeren Hebel sassen, da Mangel an Alternativen herrschte und man den Klienten noch drohen konnte: "Vogel, friss oder stirb! Klient, pass dich an oder geh". (Burkhard)

Hilfsangebote wie im Supermarkt

Heute hat der Wind gedreht. Die Drogenkonsumenten stehen vor einem Hilfsangebot, das Supermarkt-Ausmasse angenommen hat. Erstmals sind die Anbieter gezwungen, sich um Klienten zu bemühen; bereits wurden Inserate via Internet geschaltet: "Wir haben noch Plätze frei.".

Tatsächlich ist momentan ein Grossteil der Entzugs- und Therapiestationen unterbelegt. Auf dem Land werden auch Tagesstrukturen wie Gassenzimmer nur schlecht genutzt. Selbst die staatlichen Heroinabgabeprogramme sind nach wie vor nicht voll ausgelastet.

Konkret: Das traditionsreiche Berner Aebi-Hus, das die klassische abstinenzorientierte Langzeittherapie anbietet, steht zur Hälfte leer. Im Zürcher Frankental ist die Entzugsabteilung nur noch zu 50 bis 70 Prozent besetzt. Der Ulmenhof im zürcherischen Ottenbach hat - gemäss Leiter Peter Burkhard - "einen massiven Rückgang" der Nachfrage zu verzeichnen: "Die 'schönen' Zeiten, in denen auf eine Aufnahme zwölf Nachfragen kamen, gibt es nicht mehr."

Nach der Schliessung der offenen Drogenszenen in Bern, Zürich, Solothurn, Olten sind Gassenarbeiter - so ein Insider - mitunter "verzweifelt auf der Suche nach Klienten". Der neue Trend, so wird berichtet, ziele denn auch eindeutig in Richtung allgemeine Jugendarbeit, weg von der ausschliesslichen Fokussierung auf Drogenkonsumenten.

Eine Institution, die sich mangels Nachfrage praktisch vor dem Aus befand und damit auch zu einer umfassenden Änderung ihres Angebots gezwungen sah, ist die Basler Entzugsklinik Cikade. Der Erfolg gibt den Verantwortlichen recht.

Der Markt hat sich verändert

Gerade an diesem Beispiel wird die aktuelle Problematik eines Berufsstandes deutlich, der vor einer tiefgreifenden Neuorientierung steht. Konnte man sich in den achtziger Jahren auch in der Cikade noch locker zurücklehnen und darauf vertrauen, dass das hauseigene Angebot des zweiwöchigen kalten Opiatentzugs mehr als ausreichte, um die Betten zu füllen, so merkte man anfangs neunziger Jahre, dass die Nachfrage zusehends zurückging. Auf einmal hiess das Zauberwort in der Drogenhilfe "Orientierung an den Klientenbedürfnissen".

Umdenken war angesagt, und damit tat sich eine Branche, die unter monopol-ähnlichen Bedingungen gearbeitet hatte und damit einen Hang zur Bequemlichkeit und Unbeweglichkeit entwickelt hatte, natürlich schwer. Dennoch galt es, zur Kenntnis zu nehmen, dass sich die Klientel drastisch verändert hatte. Der klassische Heroinkonsument ist vom Politoxikomanen abgelöst worden, der "alles schluckt, was Gott verboten hat" (Parpan). Das heisst insbesondere auch Kokain und Rohypnol. Unter Jugendlichen gilt Heroin bereits als "die Droge der Alten"; sie bevorzugen Cannabis, Ecstasy und in für Suchtexperten alarmierendem Ausmass Alkohol. Hinzu kommt, dass heutzutage nahezu jeder zweite Drogenkonsument einem Methadonprogramm angeschlossen ist.

In der Cikade hat man der veränderten Situation Rechnung getragen, indem neu Entzüge von variabler Dauer und der schrittweise Methadonabbau angeboten werden. Zudem wurden erlebnispädagogische Elemente wie Gleitschirmfliegen und Abseilen am Felsen in die Arbeit integriert; statt von Entzug", jener Abwehr und Angst auslösenden Erfahrung, spricht man in der Cikade lieber von "Besinnungsaufenthalt".

Insbesondere auf solche Anpassungen reagieren die Fachleute sehr unterschiedlich. Die einen loben das flexible, marktgerechte Handeln der Basler; Peter Burkhard hingegen taxiert diese Angebote als "Anbiederung, mit der zwar Klienten angelockt würden, die andererseits aber auch ein souveränes therapeutisches Wirken verunmöglichen würde."

Notwendige Flurbereinigung

Die Szene - soviel ist sicher - ist aus ihrem Dornröschenschlaf aufgewacht, ja aufgeschreckt worden. Insbesondere die Anbieter von stationären Therapien befinden sich in einer besonders schwierigen Situation. Mangels Planung und Koordination sind solche Einrichtungen wie Pilze aus dem Boden geschossen, darunter viele, die von Experten als "dubiose Billigst- und Schnellheilungskurse" abqualifiziert werden. Von "Wildwuchs" ist die Rede, und diejenigen, die den Ruf ihrer Branche wiederherstellen wollen, wünschen sich eine "Flurbereinigung".

Doch Kritiker wie der Drogenfachmann Beat Kraushaar werfen auch den "alteingesessenen" Anbietern vor, "die Entwicklung verschlafen zu haben: "Rösslireiten auf einem Biobauernhof weit draussen auf dem Land ist heute nicht mehr zeitgemäss." Stattdessen wünschte er sich "moderne Angebote, in denen zum Beispiel Computerkurse auf dem Programm stehen." Kraushaar moniert zudem, dass zu wenig Häuser oder Wohngemeinschaften existieren, die "auf die riesige Zahl von insgesamt 14 000 Methadonkonsumenten zugeschnitten sind."

Nun lässt sich allerdings das aktuelle Malaise der stationären Anbieter nicht allein unter fachlichen Gesichtspunkten erklären. Eine abstinenzorientierte Langzeittherapie von rund zwei Jahren Dauer ist vielen Kostenträgern in der Zeit von Finanzknappheit und Sparanstrengungen schlicht zu teuer. "Der abstinente Weg", konstatiert Drogenfachmann Burkhard, "kostet achtmal mehr als andere Hilfsangebote." In dieser Situation würden vor allem kleinere, finanzschwache Gemeinden die einzelnen Interventionen gegeneinander aufrechnen: "Ein Tag Methadonabgabe von 30 Franken gegen einen Tag in einer stationären Einrichtung von 200 bis 300 Franken. Man rechne." Inzwischen hat das Spardiktat auch den Kanton Zürich erreicht: Regierungsrätin Verena Diener hat angekündigt, dass zwei Millionen Franken im Drogenbereich gespart werden müssen.

Überforderte Sozialarbeiter

Um in dieser verfahrenen Situation Abhilfe zu schaffen, wurde im Oktober letzten Jahres die "Koordinationsstelle für stationäre Therapieangebote im Drogenbereich" (Koste) eingerichtet. Die Stelle, die vom Bundesamt für Gesundheitswesen BAG und der Konferenz der kantonalen Fürsorgedirektoren getragen wird, dient zum einen der nationalen Koordination und Information, zum anderen aber auch der Qualitätskontrolle und Unterstützung neuer innovativer Projekte mit Starthilfebeiträgen. Sie stellt ein Novum in der Geschichte der Drogenhilfe dar, das von den Experten begrüsst wird.

Soviel zum aktuellen Stand der Drogenarbeit. "Schon heute", sagt Thomas Kessler, Drogendelegierter in Basel, "müssen die ärmsten Sozialarbeiter viel aufs Mal verkraften und reagieren teilweise überfordert." Es stellt sich die Frage, wie sie ihre berufliche Zukunft meistern, die möglicherweise die Entkrimininalisierung des Drogenkonsums und damit eine gewisse Normalisierung im Umgang mit den bisher illegalen Suchtstoffen bringt.

Dann ist es nämlich vorbei mit der heimlichen Faszination und dem bizarren Kitzel, der sich im Kontakt mit den kriminalisierten Drogenkonsumenten heute noch bei vielen einstellt. Egal, ob sie das zugeben oder nicht. Dann lässt sich auch aus dem Mythos, der den Heroinkonsumenten oder die Kokainkonsumentin umgibt, jene outlaws ausserhalb aller bürgerlicher Normen, nicht länger Kapital zur Steigerung des eigenen Stellenwerts schlagen. Auf einmal ist der Drogenarbeiter nicht mehr und nicht weniger als der Alkoholfachmann - kaum beachtet, selten in den Schlagzeilen. Auch das will verkraftet sein.

Kommt hinzu, dass das Pflichtenheft des Gassenarbeiters genauso wie dasjenige einer Drop-In-Mitarbeiterin, das heute zu einem Grossteil daraus besteht, die Folgen der Kriminalisierung des Drogenkonsums aufzufangen, neu geschrieben werden muss. Schlagen sie sich heute mit Problemen wie Schuldensanierung und Gerichtsverfahren herum, so müssten ihre Aufgaben in Zukunft neu definiert werden.

Dann würden - gemäss Einschätzung verschiedener Experten - nochmals Stellen überflüssig und weitere Arbeitsplätze gestrichen. "Mindestens jeder dritte Job im Drogenbereich", schätzt Beat Kraushaar, "wird verlorengehen".

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© Barbara Lukesch