"Die weibliche Genitalverstümmelung ist ein Verbrechen"

Beschneidung / 9. März 2005, "Annabelle"

Symbolbild zum Thema Gewalt

Weltweit sind 130 Millionen Frauen beschnitten. Jahr für Jahr kommen zwei Millionen dazu. Mit der Veränderung der Flüchtlingsströme wird auch die Schweiz zunehmend mit dem grausamen Ritual der weiblichen Genitalverstümmelung konfrontiert.

Unicef Schweiz erhob bereits 2001 in einer Umfrage unter Gynäkologen, dass hierzulande rund 7000 beschnittene Frauen und Mädchen leben. 2004 wiederholte die Hilfsorganisation die Befragung und bezog zusätzlich Hebammen, Kinderärzte und Sozialstellen ein. Das Ergebnis ist alarmierend: Mindestens jeder siebte Gynäkologe und jede siebte Hebamme berichten, in ihrer Berufspraxis von einer beschnittenen Migrantin kontaktiert worden zu sein. Zwei der befragten Hebammen, drei Gynäkologen und ein Kinderarzt gaben an, dass sie gebeten wurden, eine Beschneidung durchzuführen. Darüber hinaus haben mehr als zweihundert Umfrageteilnehmer schon von Fällen gehört, in welchen ein Mädchen in der Schweiz beschnitten worden sein soll. Die grosse Mehrheit stammt aus Somalia, Äthiopien und Eritrea, jenen Ländern also, in denen die weibliche Genitalverstümmelung am weitesten verbreitet ist.

Unicef Schweiz hat diese Befunde zum Anlass für eine Kampagne genommen. In deren Rahmen ist erstmals ein Rechtsgutachten publiziert worden, das der Frage der strafrechtlichen Relevanz von Mädchenbeschneidungen in der Schweiz nachgeht. Verfasst wurde dieses Gutachten vom Zürcher Strafrechtsprofessor Stefan Trechsel und der Juristin Regula Schlauri. Schlauri erläutert in einem Gespräch mit der "Annabelle" die Hintergründe.

Regula Schlauri, welche Formen der weiblichen Genitalverstümmelung stehen in Ihrem Rechtsgutachten im Zentrum?

Regula Schlauri: Für unser Gutachten sind all die Formen von Bedeutung, bei denen die Klitoris weggeschnitten wird. Das sind die Exzision, bei der zusätzlich die inneren Schamlippen entfernt werden, und die Infibulation, bei der man dazu noch die äusseren Schamlippen auskratzt und die Scheide bis auf ein schilfrohrgrosses Loch zusammennäht.

In welchem Rahmen ist man in der Schweiz mit diesen Formen der Genitalverstümmelung konfrontiert?

Gemäss der beiden Unicef-Studien wenden sich vor allem infibulierte Frauen im Verlauf einer Schwangerschaft an hiesige Gynäkologen und wünschen eine sogenannte Deinfibulation, das Aufschneiden der Scheide, oder eine Reinfibulation, das neuerliche Zunähen nach der Geburt. Neu für mich ist, dass gemäss der Studie von 2004 offenbar auch der Wunsch nach einer Beschneidung in der Schweiz zugenommen hat. 28 Hebammen, acht Gynäkologen und vier Sozialstellen wurden um entsprechende Adressen gebeten. Das zeigt deutlich, dass das Thema Genitalverstümmelung auch in der Schweiz ein Problem darstellt.

Werden denn hierzulande Beschneidungen durchgeführt?

Dazu gibt es bisher nur Mutmassungen. Im Zuge der Recherche für unser Rechtsgutachten hörte ich von verschiedener Seite, dass Beschneiderinnen oder Medizinalpersonen aus dem Ausland eingeflogen würden, um hier eine Genitalverstümmelung durchzuführen. Das sind aber, wie gesagt, nur Gerüchte. Mehr Informationen zu dem Thema soll das neue Buch der somalischen UNO-Sonderbotschafterin Waris Dirie, dem ehemaligen Fotomodell, enthalten. Sie hat in Österreich verdeckt recherchiert und festgestellt, dass inzwischen ganze Clans von Medizinalpersonen aus den Ursprungsländern der Genitalverstümmelung nach Europa reisen und die Eingriffe vornehmen.

Wie lautet das Ergebnis Ihres Rechtsgutachtens?

Die weibliche Genitalverstümmelung stellt eine vorsätzliche schwere Körperverletzung und damit ein Verbrechen dar, weil mit der Entfernung der Klitoris ein wichtiges Organ irreversibel verstümmelt beziehungsweise unbrauchbar gemacht wird. Die Täter müssen mit einer Strafe von sechs Monaten Gefängnis bis zu zehn Jahren Zuchthaus rechnen. Dazu gilt die Genitalverstümmelung als unmenschliche Behandlung und verletzt damit die Menschenrechte.

Machen sich nur die Beschneiderinnen strafbar oder auch die Eltern, die den Eingriff an ihren Töchtern planen und veranlassen?

Weil es sich bei den Mädchen in der Regel um unmündige, noch nicht urteilsfähige Personen handelt, spielen die Eltern bei der Vorbereitung der Tat eine entscheidende Rolle. Unter Umständen werden sie tatsächlich als Mittäter angeschaut, die sich ebenfalls wegen schwerer Körperverletzung strafbar gemacht haben.

Wie beurteilen Sie die Situation hiesiger Gynäkologen, die eine erwachsene Frau de- beziehungsweise reinfibulieren?

Diese Ärzte machen sich eindeutig nicht strafbar, wenn die Frauen diese Eingriffe selber wünschen. Das Aufschneiden beziehungsweise Wiederzunähen der Scheide stellen juristisch nur einfache Körperverletzungen vergleichbar einem Piercing dar und lassen sich zudem rückgängig machen.

Der grösste Teil der Beschneidungen, die in der Schweiz lebende ausländische Mädchen erleiden, wird nicht hier, sondern in ihren Herkunftsländern ausgeführt. Die Eltern reisen mit ihren Töchtern in den Ferien nach Somalia, Äthiopien oder Eritrea und kehren dann in die Schweiz zurück. Hat die Schweizer Justiz überhaupt eine Handhabe, um solche Fälle zu verfolgen?

Dabei handelt es sich tatsächlich um eine zentrale Fragestellung. Grundsätzlich gilt ja das Schweizerische Strafrecht nur für Taten, die in der Schweiz begangen werden. Weil wir nun aber zur Ansicht gelangt sind, dass die Beschneidung der Töchter, juristisch die "Tatausführung", bereits damit beginnt, dass ein Elternpaar hierzulande ein Ticket kauft und mit seiner Tochter ein Flugzeug besteigt, sollten die beteiligten Mütter und Väter nach ihrer Rückkehr in die Schweiz bestraft werden können. Bisher hat noch kein Gericht dazu ein Urteil gesprochen. Ich wäre froh, wir hätten endlich einen solchen Präzedenzfall, der sich auch präventiv auswirken würde.

Es könnte also passieren, dass die Eltern in einem Schweizer Gefängnis landen und die minderjährige Tochter ihre wichtigsten Bezugspersonen verliert.

Das ist zweifellos ein grosses Problem. Trotzdem ist Mitleid fehl am Platz. Hier handelt es sich um ein Verbrechen, und das muss bestraft werden. Nur auf diese Art lässt sich die Genitalverstümmelung endlich verbannen. Ausserdem bietet das Vormundschaftsrecht Möglichkeiten, um den Mädchen zu helfen.

Unabhängig davon geraten die betroffenen Mädchen doch zwischen alle Stühle. Wer nicht beschnitten ist, wird in seiner Heimat und im familiären Umfeld zur Unperson. Beschnittene Mädchen werden spätestens mit den ersten sexuellen Kontakten in der Schweiz irritierende und schwierige Erfahrungen machen.

Dieses Dilemma lässt sich nicht vermeiden. Nun haben wir allerdings junge Ausländerinnen im Auge, von denen wir annehmen, dass sie langfristig in der Schweiz bleiben. Ich bin überzeugt, dass ihnen eine Integration um vieles leichter fällt, wenn es gelingt, sie vor einer Genitalverstümmelung zu bewahren.

Wie beurteilen Sie die Argumentation eines hiesigen Arztes, der sagt: Besser ich führe eine Beschneidung steril, schmerzfrei und sicher durch als dass ein junges Mädchen in seiner Heimat unberechenbaren Risiken ausgesetzt wird?

Diese Argumentation lehne ich ganz klar ab. Letztlich erinnert sie an die Aussagen von Ärzten im zweiten Weltkrieg, die sogenannt lebensunwertem Leben in psychiatrischen Kliniken ein Ende gesetzt haben mit der Begründung, sie hätten die Betroffenen auf diese Art vor grösserem Leiden bewahren wollen.

Ihr Rechtsgutachten stellt ein Ritual unter Strafe, das in seinen Ursprungsländern einen hohen, positiv besetzten Stellenwert geniesst. Was gibt uns das Recht, Menschen aus anderen Kulturen unsere europäischen Wertvorstellungen aufzuzwingen?

Es gibt einen Kern von unantastbaren universell gültigen Menschenrechten, und dazu gehört zweifellos auch das Recht jedes einzelnen, vor unmenschlichen entwürdigenden Behandlungen wie einer Genitalverstümmelung geschützt zu werden. Vor diesem Hintergrund ist Kulturrelativismus schlicht nicht angebracht. Trotzdem ist es wichtig, dass wir die Bedeutung dieses Rituals in den verschiedenen afrikanischen Ländern sehr ernst nehmen und die Menschen zu überzeugen versuchen, dass sie statt der grausamen Beschneidung mildere Formen wie die sogenannte Klitoris-Waschung praktizieren.

*Dr. iur. Regula Schlauri, 35, ist Untersuchungsrichterin im Kanton Zug. Die gebürtige St.Gallerin lebt in Zürich.

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© Barbara Lukesch