Schicksalsmelodie auf singender Säge

Leidkultur / 9. Dezember 2004, "Die Weltwoche"

Symbolbild zum Thema Gewalt

Was treibt Menschen dazu, vors Mikrofon zu treten, um über ihre verwüstete Seelenlandschaft zu reden? Und wieso hängt das Publikum an deren Lippen, als gäbe es kein Morgen? Die Helden der Leidkultur werden gefeiert wie Sieger.

Erfolg erregt Aufsehen. Tennisstar Roger Federer wurde letztes Jahr nicht nur zum Sportler, sondern gleich auch noch zum Schweizer des Jahres erkoren. «Teamlife», die Erfolgsbibel von Eishockey-Nationalcoach Ralph Krueger, der über Jahre als Siegertyp schlechthin galt, ging fast 40000-mal über die Ladentische und schlug alle Verkaufsrekorde. Niemand war überrascht. Jeder ist neugierig auf die Rezepte der Sieger.

Etwas irritierender ist, dass die Lebensbeichten von Verlierern genauso gefragt sind. «Grissini und Alpenbitter», das Buch der abgesägten Bundesrätin Ruth Metzler, wurde über Nacht zum Bestseller. Vom «Sturmflug» des glücklosen Swiss-Kapitäns André Dosé musste die zweite Auflage gedruckt werden, noch ehe die erste ausgeliefert war. Der «Plan B» zum Thema Schuldensanierung des einstigen Boxers Stefan Angehrn wurde sogar in Deutschland zum Verkaufsschlager. «Die weisse Feder» schliesslich, eine Autobiografie der leidgeprüften Transsexuellen Nadia Brönimann, haben inzwischen mehr als 20000 Menschen gelesen. Ganz offensichtlich haben auch Opfer hervorragende Chancen, Karriere zu machen. Die NZZ erkennt darin eine bedenkliche Entwicklung: «Noch haben hierzulande bei den Büchern die Verlierer gute Konjunktur, was für die Verleger gut sein mag», schrieb die Zeitung. Aber für die Schweiz sei das «kein gutes Zeichen».

Opfer vom Dienst

Metzler, Dosé und Angehrn können wenigstens für sich beanspruchen, mit ihren Büchern sich selber und ihre beruflichen Qualitäten in ein vorteilhaftes Licht gerückt zu haben. Sie präsentierten Rechtfertigungsschriften. Nadia Brönimann hingegen hat «nur» gerade ihr tragisches Schicksal in die Waagschale geworfen. Seither tritt sie als Opfer vom Dienst in den Boulevardmedien auf und rollt in jeder Fernsehsendung, zu der sie eingeladen wird, ihren Leidensweg erneut auf.

Brönimann ist bei weitem nicht die Einzige, die erschütternde und genauso oft peinliche Details aus ihrem Privatleben ausbreitet. Die Stimmungskanone Nella Martinetti, das Starlet Gunvor, der Schauspieler Harald Juhnke und andere kannten und kennen ebenfalls keine Grenzen, wenn es um Selbstentblössung geht: Alkoholexzesse, Liebeskummer, berufliche Abstürze, sogenannt unheilbare Krankheiten – alles wurde hemmungslos preisgegeben.

Warum tun sie das? Oftmals aus Eigennutz. Harald Juhnke jedenfalls, der gewiefte Medienfuchs, beichtete einst dem Stern: «Meine medial verbreiteten Abstürze haben mir noch nie geschadet. Meine nächsten Gastspiele waren alle ausverkauft.» Auch Martinetti frohlockte in besseren Tagen: «Je mehr ich in der Zeitung bin, umso mehr Engagements bekomme ich» (Tages-Anzeiger vom 2. Mai 1998).

Welchen Gewinn aber trägt eine Person wie Nadia Brönimann davon, wenn sie geradezu obsessiv und auf drastische Weise jede Facette ihrer missglückten Geschlechtsumwandlung schildert? Wenn sie alle Psychopharmaka, die sie je geschluckt hat, beim Namen nennt und so intime Details aus ihrer zerstörten Sexualität offenbart, dass einem elend wird. «Ich spüre nichts beim Geschlechtsverkehr», klagt sie etwa in die Mikrofone. «Meine Vagina ist völlig vernarbt und kaputt. Richtiger Sex tut weh.» Warum nur stülpt sie erst in einem Buch, dann in einem einstündigen Dokumentarfilm und darüber hinaus in inzwischen rund hundert Interviews immer wieder ihr Innerstes nach aussen?

"Ich bin nun mal knallehrlich"

Sie seufzt: «Puh. Ja, warum eigentlich?» Ratlos schaut sie einen mit ihren freundlichen Augen an, lacht entschuldigend, weil ihr nicht sofort eine Antwort einfällt, nimmt hastig einen Schluck Kaffee und erklärt plötzlich mit Nachdruck: «Ich bin nun mal knallehrlich, authentisch, eine kämpferische Person und gehe unbeirrt den Weg der Wahrheit.» Immerhin räumt sie ein, dass es ihr schwer falle, Grenzen zu ziehen und sich selber zu schützen. Aber sie betont auch, sie sei «anders als der Durchschnitt, speziell und damit auch spannend». Ihr besonderes Profil und ihre beachtliche Prominenz, so ihre Überzeugung, hätten ihr eigentlich längst einen lukrativen Werbevertrag einbringen müssen: «Jede Miss Schweiz kriegt einen, nur ich bin bislang leer ausgegangen.»

Wieder und wieder und mit hemmungsloser Detailversessenheit gab auch Missbrauchsopfer Sabine B. seine Leidensgeschichte preis. Sie schilderte detailliert die Übergriffe des Turnlehrers Köbi F. während ihrer Kindheit, jede Berührung, und präzisierte vor laufenden Kameras, was dieser alles mit ihr angestellt hatte: Zungenküsse, Penetrationsversuche, Samenerguss. Die junge Frau mit dem Gesicht und dem Körper eines Kindes wurde zur Symbolfigur für die Opfer sexueller Gewalt und erlangte in dieser Rolle nationale Berühmtheit. Sie trat im Hauptabendprogramm von SF DRS auf, wurde in der Weltwoche, in Facts und auch im Spiegel porträtiert. Als sich die beiden Fernsehstationen RTL und ZDF einst gleichzeitig um ein Interview mit ihr bemühten, fühlte sie sich geschmeichelt und schon fast wie ein Star, der ganz gut einen Manager hätte gebrauchen können.

Dabei wollte sie ursprünglich nur Gerechtigkeit und Rache. Dafür gab sie ihren Namen her, ihr Gesicht, ihre Geschichte. Der Einsatz wurde belohnt, der Täter verurteilt. Gleichzeitig erfuhr Sabine B. öffentliche Anteilnahme, wurde von den Medienschaffenden – anders als von der Polizei – von Anfang an ernst genommen, glaubte, neue Freunde und Freundinnen gewonnen zu haben. Riefen Journalisten an, stand sie sofort zur Verfügung, egal, wie schlecht es ihr gerade ging. Mitunter hatte sie sogar ein Geschenk dabei, einige Farbstifte oder ein Buch, das sie sorgfältig für ihr Gegenüber ausgewählt hatte. Inzwischen weiss sie, dass Opfer sexuellen Missbrauchs für ein bisschen Aufmerksamkeit alles tun, weil die Täter sie lehren, dass Zuwendung immer ihren Preis hat. Wer nichts hat als sein Elend, ergreift die Gelegenheit, wenigstens zu einem Helden oder einer Heldin des Leidens zu werden. Damit ist die Hoffnung verbunden, das Elend sei letztlich nicht völlig sinnlos gewesen.

Endlich im Mittelpunkt

Die Helden des Leidens erhalten tatsächlich einiges, von dem Normalbürger nicht einmal zu träumen wagen. Sie sind plötzlich jemand, erregen öffentliche Aufmerksamkeit, stehen im Mittelpunkt, bekommen Applaus, Komplimente und so viele Anrufe und Mails wie noch nie in ihrem Leben, dazu Blumen und Geschenke. Brönimann führt inzwischen das Leben einer VIP – nach Schweizer Art. Sie tourt durch hiesige Vernissagen, Zirkusvorstellungen und Filmpremieren. Hektik und Betrieb lassen sie, zumindest in diesen Momenten, ihren von Depressionen und Angstzuständen überschatteten Alltag vergessen.

Das Grösste, sagt sie, sei, wenn sie ins Fernsehstudio dürfe: «Dort geniesse ich unbeschwerte Momente und fühle mich unter den vielen erfolgreichen Menschen selber auch erfolgreich.» Schluckte sie früher Ecstasy, um sich «erleuchtet» zu fühlen, tun es heute die Studioscheinwerfer. Sie lässt sich liebend gern schminken und frisieren, ist an einem solchen Abend gut gekleidet und fühlt sich so unglaublich attraktiv, dass sie fast euphorisch wird. Wenn sie in diesem aufgekratzten Zustand von ihrem geschundenen Körper oder der letzten gescheiterten Beziehung erzählt, hat sie kein Gefühl mehr für die Bitterkeit ihres Elends. Legitimiert durch die öffentliche Neugier, muss sie ihr privates Leiden nicht länger schamvoll verbergen, sondern kann es wie eine Trophäe zur Schau stellen, einer Auszeichnung gleich, welche die Besitzerin adelt. «Nadias täglicher Kampf ist eindrücklich, ihre Identitätssuche von einer griechisch-epischen Tragweite», fabulierte Alain Godet, Regisseur von «Sex Change», dem Dokumentarfilm über Brönimanns Geschlechtsumwandlung.

Auf einem solchen Boden gedeihen schnell unrealistische Hoffnungen, aber auch vermessene Ansprüche. Wer so leidet, muss sich Brönimann gesagt haben, hat ein Recht auf Wiedergutmachung. Ihre persönlichen Erwartungen reichen von einer tollen Loft über einen attraktiven Mann bis hin zu viel Geld und grossen Reisen. Sie sieht sich als Moderatorin eines eigenen Radio-Late-Night-Talks, einfach, weil sie Lust darauf hat und denkt, es genüge, dass sie gern redet und jede Art von Elend aus eigener Anschauung kennt: «Das ist meine Kernkompetenz, die mich dazu befähigt, mit allen Menschen ein Gespräch zu führen», bestätigt sie mit einem Selbstbewusstsein, von dem man sonst nur wenig bei ihr spürt. Aus der Not ist längst eine Tugend geworden. Brönimann ist mittlerweile Opfer von Beruf.

Identität: Vollzeitopfer

Auch Sabine B. verschmolz zusehends mit ihrer öffentlichen Rolle. Weil sie wegen gesundheitlicher Probleme keiner Erwerbsarbeit nachgehen konnte, war ihre Identität die eines Vollzeitopfers. Umso enttäuschter war sie, als der Beobachter nicht ihr den Prix Courage 1998 verlieh, sondern der früheren Möriker Schulpflegerin Ruth Ramstein, die die Aufklärung des Falls Köbi F. entscheidend vorangetrieben hatte. Sabine B. war überzeugt, dieser Preis gebühre ihr: Wer, wenn nicht sie, das leidgeprüfte Opfer, hatte ihn verdient?

Opfer sind bedauernswerte, aber deswegen nicht gleich bessere Menschen. Sie führen sich mit Verweis auf ihr schweres Schicksal oftmals ziemlich egoistisch auf, sind unbescheiden, ja aufsässig und notorisch nörglerisch. Bei andern Menschen würde man mit Unmut reagieren. Opfer hingegen geniessen, was ihre Ungeniessbarkeit angeht, ein hohes Mass an Artenschutz.

Anderseits: Wer es als Opfer in die Zeitungen oder ins Fernsehen schafft, ist in den Augen vieler derart privilegiert, dass er mit Neid und Missgunst rechnen muss. Als der Zürcher Tages-Anzeiger kürzlich eine Serie zum Thema «Armut» veröffentlichte, in der er eine Hand voll Einzelschicksale präsentierte, ging auf der Redaktion eine Reihe empörter Leserbriefe ein. Tenor: Die abgebildeten Fälle hätten es nicht verdient, als Beispiele wahrer Armut präsentiert zu werden. Wirklich arm und daher schilderungswürdig seien viel eher die Leserbriefschreiber und deren Lebensumstände, konnte man zwischen den Zeilen lesen. Da wachten die noch unbekannten Helden des Leidens eifersüchtig darüber, wer würdig wäre, einen Platz an der wärmenden Sonne der medialen Öffentlichkeit zu erhalten.

Die radikalsten Vertreter der Spezies Opfer sind so begierig auf den Status, dass sie nicht davor zurückschrecken, sich eine Leidensgeschichte aus den Fingern zu saugen. Allen voran der Schweizer Bruno Doessekker alias Binjamin Wilkomirski, der sich als Überlebender des Holocaust ausgab und seine vermeintlichen Schreckenserinnerungen im Buch «Bruchstücke» niederlegte.

Wiederholungstäterin Grabowski

Oder Laura Grabowski, eine Amerikanerin, die von Wilkomirskis Buch derart angetan war, dass sie sich prompt als Schicksalsgenossin ausgab und sich eine Identität als Auschwitz-Überlebende konstruierte. Bemerkenswert an Laura Grabowski ist, dass es sich bei ihr um eine Wiederholungstäterin handelt. Zehn Jahre zuvor war sie nämlich bereits unter dem Pseudonym Lauren Stratford als Autorin des Buches «Satan's Underground» aufgetreten, in dem sie ihre eigene, allerdings frei erfundene sexuelle Ausbeutung und die ihrer drei Kinder beschrieben hatte. Nachdem sie in allen Fernsehshows des Landes als Stargast aufgetreten war, flog der Schwindel Anfang der neunziger Jahre auf. Ein weiteres Beispiel für diese Art von Einfallsreichtum lieferte die Ausserrhoderin Elvira B. Die Serviertochter täuschte im November 2001 eine Entführung durch zwei Männer vor und behauptete, die beiden Ausländer hätten sie auch sexuell gedemütigt.

«An der Wurzel solchen Handelns», erklärt der Zürcher Psychologe Stefan Schmalbach, «steht oft krankhafter Geltungsdrang oder das Bestreben, auf diesem Weg von einem tieferliegenden, grösseren Problem abzulenken.» Zur Lügen-Saga soll im Fall Doessekker/Wilkomirski ausgerechnet dessen Psychotherapeut entscheidend beigetragen haben. Der Autor Daniel Ganzfried, der den Fall Wilkomirski aufgedeckt hatte, schrieb Ende der neunziger Jahre: «Bruno Doessekker war nicht alleine, als er sich im thurgauischen Amlikon sein neues Leben ausdachte. Jeder seiner Schritte war moderiert von seinem Psychotherapeuten B. [...] Dieser wirkt nun unter Holocaust-Überlebenden in Israel als Fachperson für Holocaust-Überlebende und Folteropfer. B. hat die Erfindung und Konfektionierung der Figur Wilkomirski überwacht.» Und zog offenbar selber beruflichen Nutzen aus dem Betrug.

Was auch immer die Gründe im Einzelfall sein mögen, die falschen Opfer schlagen aus ihren Beichten so gezielt Kapital wie die echten. Binjamin Wilkomirskis «Bruchstücke» wurde genauso zum Bestseller wie Lauren Stratfords «Satan's Underground». Darüber hinaus wurde der Schweizer mit verschiedenen Literaturpreisen ausgezeichnet. Ganz abgesehen davon, dass er sein vermeintliches Holocaust-Insiderwissen gewinnbringend als Vortragsredner nutzte, bis er enttarnt wurde.

Sonderkommission Elvira

Alle drei genossen zudem ein Höchstmass an öffentlichem Mitleid, Anteilnahme und Beachtung. Für die junge Ausserrhoder Serviertochter wurde eine achtköpfige polizeiliche Sonderkommission mit dem Namen Elvira gebildet. Sogar ein Superpuma-Helikopter der Armee ging eigens für sie in die Luft. Für eine geraume Zeit drehte sich nun alles, wirklich alles um Elvira. So viel Aufmerksamkeit wurde ihr bloss noch einmal zuteil: als ihre erfundene Geschichte aufflog.

So begehrenswert das öffentlich vorgebrachte Mitleid zunächst sein mag, so kontraproduktiv wirkt es auf Dauer. Nadia Brönimann sagt heute, sie wünsche sich schon lange, das Label Opfer endlich loszuwerden. Egal, wo sie hinkomme, überall laufe ihr ihre Leidensgeschichte hinterher und verunmögliche normale Kontakte: «Ich kriege zwar jeden Tag drei Mails von wildfremden Leuten, die mir zu meinem Mut gratulieren», stöhnt sie, «aber in Tat und Wahrheit bin ich so einsam wie nie zuvor, weil niemand Lust hat, sich auf all mein Elend wirklich einzulassen.» Wie gern würde sie stattdessen einmal als Mensch wahrgenommen, der «etwas ganz Normales zu bieten hat» und beispielsweise in der Bar ihrer Freundin Bea strickenden Frauen Märchen vorliest. Weil das niemanden interessiere, denke sie manchmal daran auszuwandern. Letztlich landet Nadia Brönimann jedoch immer wieder auf dem ausgetretenen Leidenspfad. Derzeit überlegt sie, ein Buch über Ecstasy zu schreiben, um der Droge, vor der sie nach mehrjährigem Konsum nun eindringlich warnt, «ein Gesicht zu geben». Einmal Opfer, immer Opfer?

Sabine B. ist einen Schritt weiter. Sie begriff irgendwann, dass sie – reduziert auf die Rolle des Opfers – als erwachsener Mensch auf der Strecke bleiben würde. Sie unterzog sich mehreren Therapien. Es war ein schmerzhafter Prozess, nicht zuletzt weil sie die Privilegien einbüsste, die ihr das Leben als Opfer bot: Das Interesse der Medien erlosch, und Mitleid à discrétion gibt es nicht mehr. Dafür hat sie eine Ausbildung in Angriff genommen und Lust auf ein selbstbestimmtes Leben entwickelt. Trifft man sie heute, hat man einen anderen Menschen vor sich. Ihre Stimme ist klar, der klagende Unterton von einst ist weg, sie lacht einen auf berührende Art an und analysiert ihre damalige Situation messerscharf und ohne Selbstmitleid.

Männer funktionieren anders

Männer in Not gehen sehr viel kontrollierter mit ihrer schwierigen Lage um. Sie lassen sich seltener von Medien ausbeuten, sondern nutzen sie gezielt für eigene Zwecke. So etwa der ehemalige Boxprofi Stefan Angehrn. Einst hatte er in Zürich in eigener Verantwortung einen Kampf organisiert und auch gewonnen. Mangels Zuschauern wurde die Veranstaltung allerdings zum finanziellen Flop. Rund 200000 Schweizer Franken betrug der Schuldenberg. Da nutzte Angehrn seine guten Beziehungen zur Boulevardpresse. Er machte in einem herzzerreissenden Artikel im Blick vom 17. November 1999 publik, er hänge finanziell «in den Seilen» und seine Familie esse «fast nur noch Teigwaren». Der Titel «Angehrn braucht Fight – sonst muss er Hab und Gut verkaufen» sollte den so dringend benötigten Geldgeber für einen weiteren Boxkampf auf den Plan rufen. Was allerdings nicht geschah. Niemand hatte Mitleid mit dem lamentierenden Verlierer. Ganz im Gegenteil. Angehrn machte die bittere Erfahrung, dass ein Mensch, der sich hierzulande öffentlich zu seinen Schulden bekennt, diskreditiert wird: Seine Frau wurde im Dorf geschnitten, seine Kinder in der Schule ausgegrenzt, sein Ruf schien irreparabel beschädigt.

Dann hörte Angehrn auf zu jammern. Vor wenigen Monaten präsentierte er sich als Autor des Buches «Plan B – Wie man seine Schulden auf null bringt». Aus dem geschmähten Verlierer wurde ein Sieger, der inzwischen als Budgetberater durchgehen könnte. Die zahlreichen Anfragen der Medien, sagt er, nutze er nun gezielt, um die Werbetrommel für sein Buch zu rühren: «Das ist eine klassische Win-win-Situation, was will man mehr?»

Flucht nach vorne

Was aber wollte Klaus Schwab, der Gründer des World Economic Forum WEF, als er Ende September im Tages-Anzeiger in einem Interview offen über seine Krebserkrankung sprach? Es ist selten, dass Topmanager so intime Erfahrungen öffentlich ausbreiten. Auf die Frage der Interviewerin, warum er seine Krankheit trotz beträchtlicher Bedenken publik mache, sagt Klaus Schwab: «Wenn nur einer oder zwei Menschen aufgrund dieses Interviews frühzeitig und präventiv handeln, hat es sich gelohnt, darüber zu sprechen.» Wahrscheinlicher als die altruistische Begründung ist, dass der medienerfahrene Schwab die Flucht nach vorne angetreten hatte. Lieber gestand er einer seriösen Tageszeitung ein, dass er Krebs hatte, als von einem Boulevardblatt mit der Enthüllung überrascht zu werden. Heute lässt sein Pressesprecher ausrichten, dass Herr Schwab keine weiteren Auskünfte zu seiner Krebserkrankung gebe. Das Risiko, fortan eher als Opfer denn als Macher wahrgenommen zu werden, ist offenbar zu gross. Wie einer demontiert wer- den kann, wenn er entscheidet, die Krank-heit zu verheimlichen, zeigte das Beispiel des deutschen Verteidigungsministers Peter Struck. «Seit der Vertuschung seines Schlaganfalls ist Struck ohne Fortune», schrieb der Spiegel am 6. September dieses Jahres. «Pannen im Apparat und riskante Ver- sprechen machen ihn zum Problemfall.»

Im Gegensatz zu Klaus Schwab und Stefan Angehrn gefällt sich Mario Corti, der ehemalige Chef der Swissair, noch immer in der Rolle des Opfers. Am Rande des Prozesses, den er in Zürich gegen einen Journalisten der Sonntagszeitung wegen übler Nachrede und Ehrverletzung anstrengte – und in erster Instanz verlor –, liess Corti keine Gelegenheit aus, sich als einen in seiner persönlichen, familiären sowie beruflichen Ehre zutiefst verletzten Menschen zu zeigen.

Auch einen Prozess gegen zwei ehemalige Sonntagsblick- Journalisten verlor er, nur eine Blick-Journalistin wurde zu 1000 Franken Busse verurteilt. Doch statt Anteilnahme löste Cortis Selbstdarstellung bei vielen peinliche Gefühle aus. Der Manager, der schon vor dem Swissair-Ende 12,5 Millionen Franken erhalten hatte, wirkte wie eine beleidigte Leberwurst, die es schlecht verkraftet, nicht länger Liebling der Medien zu sein. Aber um als Opfer nachhaltig Erfolg zu haben, sollte man besser eines sein.

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© Barbara Lukesch