Die Trauer der Baronin

Philippines Tod / 20. Juni 2002, "Facts"

Symbolbild zum Thema Gewalt

Eine Genfer Baronin kämpft um Gerechtigkeit. Ihre Tochter beging Selbstmord, nachdem sie jahrelang von einem Freund der Familie missbraucht worden war.

Von aussen betrachtet steht Baronin Marion Lambert auf der Sonnenseite des Lebens. Die Bankiersgattin, Mitte fünfzig, ist attraktiv, intelligent und wohlhabend. Ihre Wohnung an bester Lage in der Altstadt von Genf wird geschmückt von erlesenen Kunstgegenständen, Gemälden und weltberühmten Fotografien. Den Sommer verbringt Familie Lambert gern am Mittelmeer, den Winter im Berner Oberland. Als Verwalterin einer der renommiertesten Fotosammlungen der Welt, der Lambert Art Collection, kurz LAC-Switzerland, hat Marion Lambert Kontakt zu zahlreichen Persönlichkeiten in der Kunstszene wie der amerikanischen Fotografin Nan Goldin, der Künstlerin Pipilotti Rist und der «Parkett»-Chefredaktorin Bice Curiger in Zürich.

Trotz allem ist Baronin Marion Lambert im Grunde ihres Herzens eine unglückliche Frau, erschüttert von einem Schicksalsschlag, den kein Geld auf der Welt aufzuwiegen vermag: Am 28. August 1997 brachte sich ihre zwanzigjährige Tochter Philippine um. Sie hinterliess auf ihrem Nachttischchen Tagebuchnotizen und ein Testament, in dem sie unmissverständlich darlegt, dass sie im Alter von 12 bis 14 Jahren von X, einem damals 39-jährigen engen Freund ihrer Eltern, sexuell missbraucht worden sei.

Philippines Appell

Der Mann ist der Enkel eines schwer reichen französischen Bankiers, dem er auch sein grosses Vermögen verdankt, und lebt in Genf. Philippine appelliert in den von ihr hinterlassenen Schriftstücken an ihre Mutter und ihren Vater, X «lebenslang ins Gefängnis zu bringen».

Der Genfer Staatsanwalt Bernard Bertossa ordnete die Einleitung eines Verfahrens an. X wurde verhaftet und verbrachte zweieinhalb Monate in Untersuchungshaft im Gefängnis Champ-Dollon. Nachdem er eine Kaution in der astronomischen Höhe von sechs Millionen Franken hinterlegt hatte, wurde er aus der Haft entlassen. Lamberts entschlossen sich, in dem Fall X als Nebenkläger aufzutreten.

Zahlreiche Zeugenaussagen, Tagebucheinträge, dazu die Gesprächsnotizen mehrerer Psychiaterinnen, bei denen Philippine in Behandlung war, erhärteten den Verdacht gegen X. Angesichts des Beweismaterials für die von ihr behaupteten Straftaten gab X nach anfänglichem Leugnen denn auch zu, dass er mit Philippine «ein sehr körperliches Verhältnis» gehabt habe und dass diese Beziehung für ihn auch «sinnlich» gewesen sei. Weitere Eingeständnisse machte er nicht.

Für Marion Lambert und ihren Gatten Philip steht jedoch zweifelsfrei fest: «X hat unsere Tochter sexuell missbraucht und ihr damit das Vertrauen in die Menschen geraubt. Er trägt die Verantwortung für ihren Tod.»

Die Gerichte allerdings, inzwischen auch das Bundesgericht in Lausanne, stellten das Strafverfahren gegen X ein. Sie machten geltend, dass allfällige Delikte bereits verjährt seien und dass es sich um eine «einvernehmliche Beziehung» gehandelt habe. Darüber hinaus forderten sie Augenzeugen, die dem Akt des sexuellen Missbrauchs beigewohnt hätten. Marion Lambert hält empört fest: «Die Schweizer Gesetzgebung zu Pädosexualität ist ungenügend und wird der Eigenart dieser Delikte in keiner Weise gerecht.» Welcher Täter verübe den sexuellen Missbrauch im Beisein von Zeugen, fragt sie aufgebracht. Und welches zwölfjährige Mädchen entscheide sich freiwillig für eine sexuelle Beziehung zu einem fast vierzigjährigen Mann. Dass aus dem Altersunterschied resultierende Machtgefälle schliesse jedes einvernehmliche Handeln von vornherein aus: «Die Argumentation des Gerichts ist absurd.»

Unter Beschuss aus den eigenen Reihen

Marion Lambert hat ihr Kind verloren und damit einen Schmerz erlitten, den, wie sie sagt, «niemand verstehen und teilen kann». Wäre da nicht ihr Sohn Henri gewesen, hätte sie nicht auf eine 27-jährige intakte Ehe mit ihrem Gatten Philip blicken können und einen Genfer Anwalt gefunden, der sie «voller Einfühlungsvermögen und Verständnis» durch die schwere Zeit begleitet hat, wäre sie womöglich zerbrochen, aufgerieben von ihrem Leid.

Dazu geriet die Frau, die bis dahin ihren festen, glanzvollen Platz in der Genfer Highsociety bekleidet hatte, unter Beschuss in den eigenen Reihen. Einstige Freunde nahmen ihr übel, dass sie es gewagt hatte, einen der Ihren, ein Mitglied des Clans sozusagen, anzuklagen und mit Schmutz zu bewerfen. Sie hatte das heilige Gebot der Diskretion verletzt und die Reichen und Adligen mit der Hässlichkeit einer Geschichte konfrontiert, die fast niemand am Lac Léman zur Kenntnis nehmen wollte. Marion Lambert hat ein Tabu gebrochen. Sie hat der Öffentlichkeit mit ihren Schilderungen einen Einblick in die Welt einer einflussreichen Klasse gewährt.

Viele nahmen X, den charmanten Mäzen kultureller und wohltätiger Anlässe, den Milliardenerben, in Schutz und behaupteten, Philippine müsse gelogen haben. Madame Lambert empfindet diese Aussage als «zynische Verleumdung, die einzig dazu dient, den Ruf meiner Tochter zu schädigen und mir neues Unrecht zuzufügen». Vielenorts wurde und wird Madame Lambert nicht mehr eingeladen.«Am Anfang haben mich diese Reaktionen gekränkt», sagt die Baronin, «inzwischen lassen sie mich kalt.» Sie wisse klarer denn je, konstatiert sie ungnädig, dass sie durch Geburt und Heirat einer Gesellschaftsschicht angehöre, die zutiefst falsch und verlogen sei und deren Mitglieder einzig auf ihren eigenen Vorteil und Komfort bedacht seien. «Was kaufe ich? Wohin reise ich? Wer lädt mich ein?» seien die Fragen, die das Leben dieser Menschen beherrschten und ihre Seele korrumpierten: «Diese Dinge haben mich nie interessiert.»

Warum hat Philippine nichts erzählt?

Die Fragen, die sie selber seit fünf Jahren beschäftigen, ja, regelrecht martern, sind anderer Natur: Warum ist es mir nicht gelungen, meine Tochter vor dem Selbstmord zu bewahren? Warum hat Philippine zwar ihren Freundinnen und Psychiaterinnen, nicht aber mir, ihrer Mutter, von dem sexuellen Missbrauch erzählt, den sie als Kind erlitten hatte? Philippine litt seit dem mutmasslichen Missbrauch unter schweren Depressionen, dazu Essstörungen und fügte sich selber immer wieder gravierende Verletzungen zu. Drei Selbstmordversuche überlebte sie nur dank grossem Glück. Sie war während Jahren in der Schweiz und den USA in psychiatrischer Behandlung. Ihre Mutter wollte das Beste für sie. Doch zuletzt war alles umsonst.

Heute will Marion Lambert wenigstens Gerechtigkeit. Sie will das Testament von Philippine vollstrecken. «X muss auf irgendeine Art bestraft werden», sagt sie. Dass ihre Umgebung sie zusehends ungeduldiger dazu auffordert, einen Schlussstrich zu ziehen und nach vorne zu schauen, wischt sie mit einer unwirschen Geste vom Tisch: «Hat irgendjemand von all denen, die mir gute Ratschläge erteilen, jemals sein Kind verloren?», fragt sie mit Härte in ihrer Stimme.

Marion Lambert ist eine Kämpferin, die sich den Konventionen ihres Standes früher schon nicht beugte. So focht sie drei Jahre vor Philippines Tod einen unerbittlichen Streit mit der Direktion der Bank ihres Mannes aus. Vorgesehen war, dass ein Teil der sozialkritischen, aber weltweit hoch anerkannten Fotosammlung LAC-Switzerland zur Eröffnung des von Mario Botta neu gestalteten Bankgebäudes in dessen Räumen gezeigt werden sollte. Der Direktor aber hatte plötzlich Angst, dass Bilder, auf denen Aids, Gewalt und Sexualität thematisiert werden, die vornehme Kundschaft brüskieren könnten. Als er darauf bestand, nur eine beschränkte Auswahl zu zeigen, liess es Marion Lambert zum Eclat kommen und zog alle Bilder zurück. Das Medienecho in der Schweiz, Deutschland, England, Holland und den USA war riesig und geprägt von Unverständnis angesichts des direktorialen Verdikts.

Politische Einflussnahme

So lässt sich Madame Lambert auch im Fall X nicht davon entmutigen, dass die juristischen Mittel in der Schweiz ausgeschöpft sind. Sie kämpft auf ihre Art weiter. Inzwischen ist sie zur Expertin in Sachen Pädosexualität geworden, hat mit internationalen Kapazitäten korrespondiert, umfangreiche Dokumentationen erstellt und auf die jüngste Parlamentsdebatte zur Teilrevision des Sexualstrafrechts in Form einer Pressemitteilung Einfluss zu nehmen versucht.

Das englische «Telegraph Magazine», die deutschen Illustrierten «Bunte» und «Vogue» und verschiedene Westschweizer Zeitungen haben ausführlich über den Tod Philippines berichtet. Das «Telegraph magazine» nannte X mit vollem Namen und zeigte zudem sein Gesicht auf verschiedenen Familienfotos, die Marion Lambert beisteuerte.

Am 28. August vergangenen Jahres, dem vierten Todestag von Philippine, war die Stadt Genf über Nacht mit Hunderten von Plakaten überzogen worden, auf denen ein Bild der jungen Frau prangte: «In memoriam Philippine Lambert». Darunter hiess es, die Verstorbene habe einen Brief hinterlassen, in dem sie X (das Plakat trug seinen vollen Namen) beschuldige, sie als Kind sexuell missbraucht zu haben.

Wer diese Plakate gestaltet und sie nicht zuletzt auch in der Genfer Altstadt, in der X mit seiner Familie wohnt, aufgehängt hat, ist bis heute ungeklärt. X hält sich bedeckt und beantwortet Medienanfragen abschlägig. Er will offensichtlich nicht noch mehr Staub aufwirbeln und «der Familie Lambert keine zusätzliche Tribüne anbieten», wie sein Anwalt Alec Reymond FACTS wissen lässt. Gegenüber dem «Telegraph magazine, das X kürzlich mit Namen und Bild outete, habe er keine rechtlichen Schritte unternommen, weil diese Publikation nicht im «direkten Umfeld» seines Klienten erfolgt sei.

Rückzug nach England

Marion Lambert hat eine andere Erklärung. London sei sehr wohl das Wirkungsfeld von X und seiner englischen Ehefrau. Er habe dort kürzlich auch ein Haus gekauft und wolle gemäss ihren Informationen demnächst nach England übersiedeln. Zudem profitiere das London Philharmonic Orchestra von seinem hoch dotierten Mäzenat: «Ich bin überzeugt, dass X in England einen Prozess vermeiden will, weil er die Konfrontation scheut.»

Ist die Baronin rachsüchtig? Will sie, egal, wie, Recht bekommen und das letzte Wort haben? «Nein», sagt sie nüchtern, «so ist es nicht.» Ihr Engagement diene dazu, dass die Opfer überhaupt ernst genommen, die Verjährungsfristen verlängert werden und damit die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen angemessen geahndet wird.

Der letzte Akt der Tragödie ist noch nicht geschrieben. Marion Lambert will ein Buch verfassen und, wenn ihre Energie reicht, einen Dokumentarfilm drehen: «Das unfassbare Leiden meiner Tochter stellt ein tief greifendes Unrecht dar», konstatiert sie mit Nachdruck, «und ich sehe es als meine oberste Pflicht, das Unrecht anzuprangern und damit zur Aufklärung über Pädosexualität beizutragen.»

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© Barbara Lukesch