"Im Traum habe ich Sie vergewaltigt"

Tätertherapeutin Marianne Wick / 28. März 2002, "Die Weltwoche"

Symbolbild zum Thema Gewalt

Ihre Finger falten das Kaugummipapierchen zusammen, glätten es wieder, rollen es zu einer Kugel. Minutenlang wiederholt sie die Geste, ohne sich des Spiels ihrer Hände bewusst zu sein. Marianne Wick sitzt leicht vornübergebeugt auf ihrem Stuhl, blickt ernst in die Runde und sagt endlich mit leiser Stimme: "Was muss eigentlich noch passieren, bis einige von Ihnen so etwas wie Empathie und Mitgefühl entwickeln?"

Die Angesprochenen, fünf Männer in ihrer olivgrünen, braunen oder blauen Gefängniskluft, schweigen. Das Schweigen hält an, liegt drückend auf der kleinen Runde. "Da erzählt gestern einer von Ihnen, dass er mich im Traum aufs Schwerste vergewaltigt hat", fährt Wick fort, "und heute finden das ein paar von Ihnen nicht einmal mehr der Rede wert." Jetzt ergreift einer das Wort, versucht sich zu rechtfertigen und sieht dabei aus wie ein getretener Hund. Ein anderer erklärt, er sei sich sehr wohl bewusst, dass sie sich durch diesen scheusslichen Traum verletzt und bedroht gefühlt haben müsse.

Wick schaut aufmerksam von einem zum anderen. Sie erträgt die Spannung und lächelt nicht. "Es war gut, dass Herr Maurer* seinen Traum erzählt hat", sagt sie schliesslich, "sehr gut sogar. Aber es ist genauso wichtig, dass Sie ein solches Thema nicht sofort wieder tabuisieren, sondern auch an die Folgen für das Opfer denken."

Mehr als 1000 Therapiestunden

Marianne Wick übt einen Beruf aus, um den sie kaum jemand, schon gar keine Frau, beneiden dürfte. Sie ist die erste Schweizer Tätertherapeutin, die im Rahmen des sogenannten Ambulanten Intensivprogramms AIP in der Zürcher Strafanstalt Pöschwies mit einer Gruppe von persönlichkeitsgestörten Sexualstraftätern zusammenarbeitet. Woche für Woche bestreitet sie mit ihrem Partner, einem Psychologen, vierzehn Sitzungen mit einem halben Dutzend Männern, die entweder eine Frau brutal ermordet, wiederholt sadistische Vergewaltigungen begangen oder mehrere Kinder gequält und sexuell ausgebeutet haben. Seit dem Start des Programms vor zwei Jahren haben diese Männer, die als gemeingefährlich eingestuft und daher zum Teil seit Jahrzehnten verwahrt werden, mehr als eintausend Therapiestunden absolviert und damit in kürzester Zeit eine Behandlungsintensität erfahren, die es innerhalb des Strafvollzugs bisher nicht gab. Wer, wie üblich, eine Stunde pro Woche behandelt wird, bräuchte 22 Jahre, um dieses Pensum zu erfüllen.

Als Wick ihre Stelle antrat, war für die gelernte Kranken- und Psychiatrieschwester alles auf erschreckende Art neu. Sie war zwar erfahren im Umgang mit akut kranken Schizophreniepatienten, Suizidgefährdeten und Schwerdepressiven, aber über den Strafvollzug wusste sie nichts. Bisher hatte ihre Fürsorge Opfern gegolten, von nun an sollte sie sich mit Tätern auseinandersetzen, Männern zudem, deren Frauenbild zumeist von Hass und Zerstörungswut geprägt war. Fachlich fühlte sie sich überfordert, hatte keine Ahnung, was ein "Deliktkreis" oder die "Phantasiekontrolle" eines Täters war. Sie musste all das von Grund auf lernen.

Seither fährt die knapp Vierzigjährige Tag für Tag nach Pöschwies, hält Gruppen- und Einzelstunden ab, in denen die Tat jedes einzelnen akribisch rekonstruiert wird und er sich über das Leid, das er seinen Opfern zugefügt hat, Rechenschaft ablegen muss. Sie trainiert mit ihnen auch Sozialkompetenz, kocht mit ihnen, feiert Geburtstage, bastelt Gesichtsmasken und lehrt sie, Konflikte auf produktive Art zu lösen.

Nach einem Jahr kam die Krise

In den ersten Monaten ihrer Tätigkeit war sie überrascht, ja, euphorisch, wie vertrauensvoll die Klienten ihr die schlimmsten Taten schilderten, die abartigsten Phantasien vor ihr ausbreiteten, sogar Delikte gestanden, von denen bisher noch niemand etwas gewusst hatte. Sie gewann an Selbstsicherheit und unterschätzte gleichzeitig, was die tägliche hochintensive Täterarbeit bei ihr als Frau auslöste. Nach einem Jahr kam die Krise. Die fortwährende Konfrontation mit den Gewalt- und Sexualphantasien der Delinquenten, mit Szenen, die jede Vorstellungskraft sprengen, war zuviel für sie. Marianne Wick wurde von den Bildern des Grauens verfolgt: "Eines Nachts wurde ich im Traum während Stunden vergewaltigt, wieder und wieder, und konnte dem Horror einfach kein Ende machen." Gegen Morgen erst habe ein grässliches Krachen sie geweckt. Sie hatte sich, verkrampft wie sie war, einen Zahn ausgebissen. Als sie aufstand, brauchte sie mehrere Stunden, um sich zu orientieren: "Ich war regelrecht traumatisiert und musste mich langsam, Schritt für Schritt, in die Realität zurücktasten."

Ihr Vorgesetzter Frank Urbaniok, Chefarzt des Psychiatrisch-Psychologischen Diensts, war alarmiert. Es war dringend nötig, stellte er fest, den therapeutischen Prozess zu verlangsamen und dem Wohlbefinden seiner Mitarbeiterin mehr Sorge zu tragen. Wick sagt: "Ich habe inzwischen gelernt, mich besser zu schützen und abzugrenzen." Wenn ihr ein Klient vor einem Jahr erzählt hätte, er habe sie im Traum vergewaltigt, wäre sie erschüttert gewesen; heute wisse sie, dass sie als Therapeutin auch eine Art Projektionsfläche für ihre Klienten darstelle, auf der diese ihre Beziehungen zu ihren Müttern, Ehefrauen oder Geliebten durchspielten. Dazu fühle sie sich in der Strafanstalt "hundertprozentig sicher" vor körperlichen Angriffen.

Warum, wird sie seit Antritt ihrer Stelle immer wieder gefragt, tut sich eine Frau so etwas an? Warum therapiert sie Frauenmörder und verbringt ihren beruflichen Alltag mit Vergewaltigern? Steht Marianne Wick auf der Seite der Täter?

Ein Boden von Vertrauen

Energisch schüttelt sie den Kopf: "Ganz im Gegenteil. Ich mache diese Arbeit, weil ich überzeugt davon bin, dass ich genau auf diesem Weg präventiv wirken und Opferschutz leisten kann." Durch den Kontakt mit ihr, sagt sie, lernen ihre Klienten, dass auch eine Frau selbstbewusst und kompetent sein könne, sie erfahren, dass sie von ihr streng kritisiert und trotzdem nicht sitzengelassen werden. Es sei ihr in den zwei Jahren gelungen, bei diesen Männern, die selber schwerste Kindheitstraumen erlitten haben, schier zu Tode geprügelt wurden, seelisch terrorisiert oder sexuell ausgebeutet wurden, einen Boden von Vertrauen zu legen, auf dem sich therapeutisch arbeiten lasse.

Dazu, ist sie überzeugt, seien Eigenschaften von Nutzen, über die Frauen in besonderem Masse verfügten: die Fähigkeit, Beziehungen zu knüpfen, Intuition und nicht zuletzt Sorgfalt beim Wahrnehmen eines Gegenübers. "Es kann Wunder wirken", erzählt sie, "wenn ich einen Klienten, der an der morgendlichen Therapiesitzung einen neuen Kugelschreiber dabei hat, darauf anspreche." Plötzlich merke er, und das nicht selten zum ersten Mal in seinem Leben, dass er wahr- und damit auch ernstgenommen werde.

Reichen denn aber Intuition und Beziehungsfähigkeit aus, um zuverlässig zu beurteilen, ob sich schwere Sexualdelinquenten wirklich verändern und gegen einen Rückfall gefeit sind? Marianne Wick nickt. Sie traue ihrem Gefühl, schliesslich kenne sie ihre "Jungs" jetzt seit zwei Jahren und spüre schon am morgendlichen Händedruck, ob einer traurig oder wütend sei: "Das ist ein ähnlicher Instinkt, wie ihn auch Eltern gegenüber ihren Kindern haben." Nicht vergessen dürfe man zudem, dass eine Therapie von so hoher Intensität zuletzt alles an den Tag bringe. Wer nur einmal pro Woche zu einem Gesprächstermin erscheine, könne dem Therapeuten ein X für ein U vormachen. "Tausend Stunden hält das keiner durch. Da ist der Lack schnell ab, und die dunklen Seiten kommen zum Vorschein."

Akribische Dokumentierung

Allen für das AIP Verantwortlichen ist natürlich klar, dass die Gesellschaft Fakten will und niemand einen Frauenmörder oder Kinderschänder dereinst allein auf Grund von Marianne Wicks Intution auf Hafturlaub lässt. Deshalb wird ihre therapeutische Arbeit akribisch dokumentiert, protokolliert, überprüft, bewertet und analysiert. So wird jede Sitzung mit einer Videokamera aufgezeichnet. Alle sechs Monate muss jeder Klient ein zwanzigminütiges Statement vor der Kamera abgeben, in dem er seine eigene Rückfallgefahr einschätzt, über sein Opfer nachdenkt oder über sein Delikt spricht und den Reiz, der letztlich die kriminelle Handlung ausgelöst hat. Alle halben Jahre sitzen sodann Werkmeister, Wohngruppenleiter, Sozialdienstangehörige, Wick, ihr AIP-Partner und Chefpsychiater Urbaniok zusammen, um Veränderungen im Verhalten der Inhaftierten zu erheben.

Man könne diese Männer höchstens "trockenlegen", sagt Wick, "aber nicht heilen", vergleichbar mit einem Alkoholiker. Folglich sei bei jedem einzelnen höchste Wachsamkeit gegenüber seinen Gefühlsschwankungen erstes Gebot: "Diese Wachsamkeit schärfen wir." Das Ziel des Ambulanten Intensivprogramms ist letztlich das Aufheben der Verwahrung und damit irgendwann auch die Entlassung der Insassen. Dieser Anspruch ist hoch, und trotzdem sind erste Schritte zu einer Lockerung des Strafvollzugs bereits in die Wege geleitet. Die Bewilligung der Justizdirektion liegt vor, jeden einzelnen von einem externen Gutachter überprüfen zu lassen, mithin eine "second opinion" einzuholen. Je nach dessen Einschätzung werden Wick und ihr Partner in der Folge zunächst mit einem Täter allein, dann mit zweien, später auch mit mehreren sogenannte "therapeutisch begleitete Ausgänge" von kurzer Dauer wagen.

Hundertprozentige Sicherheit kann selbst das beste Therapieprogramm nicht garantieren. Und die Bevölkerung hat den Mord auf dem Zollikerberg noch längst nicht vergessen, auch wenn er bereits zehn Jahre zurückliegt. Damals hatte Erich Hauert, mehrfacher Frauenmörder und Vergewaltiger, die junge Pfadfinderführerin Pasquale Brumann während eines unbegleiteten Freigangs auf brutale Art getötet. Der Vergleich hinkt zwar, weil ein Hauert, der als unbehandelbar gilt, gar nicht erst im Rahmen des AIP therapiert würde. Egal - käme es erneut zu einem Rückfall eines Sexualdelinquenten, würde die Öffentlichkeit die Zürcher Justiz, allen voran Chefpsychiater Frank Urbaniok und sein Team, in der Luft zerreissen.

Konzentriert und souverän

Dann würde auch das Therapeutenpaar in Frage gestellt, würden Zweifel laut, ob Marianne Wick denn die richtige Besetzung eines Postens von dieser Tragweite sei. Schliesslich ist sie weder Psychologin noch ausgebildete Therapeutin. Urbaniok stellt sich schützend vor seine Mitarbeiterin: "Die Kritiker sollen kommen und mir jemanden zeigen, der besser als Marianne Wick mit derart schwierigen Menschen umgehen und sie in heftigsten Krisen handhaben kann." Akademiker, ergänzt er, machen nicht a priori bessere Therapien.

Es ist eindrücklich, wie konzentriert und souverän Wick mit den fünf Männern arbeitet. Jeder einzelne respektiert sie, daran besteht kein Zweifel. Sie ist unbestechlich in ihrem Urteil und zeigt, wenn es sein muss, unerbittliche Härte. Es überrascht nicht, dass die Therapiesitzungen den Männern offiziell als Arbeit angerechnet und entsprechend entlöhnt werden.

Wick, geschieden und alleinerziehende Mutter eines vierzehnjährigen Sohnes, ist tief eingedrungen in die Psyche der ihr anvertrauten Männer. Sie ist stolz auf das gemeinsam Erreichte, und sie mag ihre Klienten, die im Alltag alles andere als "Monster" seien. Sie freut sich über die Höflichkeit des einen oder den Schalk eines anderen. Gleichwohl, und jetzt ist alles Weiche aus ihren Zügen verschwunden, verabscheut sie deren Taten: "Ich vergesse sie nie, in keinem Moment meiner Arbeit".

*Name geändert

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© Barbara Lukesch