"...und raus bist du!"

Mobbing in der Schule / Juni 2001, "Wir Eltern"

Symbolbild zum Thema Gewalt

Melanie K. ist elf Jahre alt. Sie ist ein fröhliches Mädchen, hat etliche Freundinnen, eine ältere Schwester, mit der sie sich hin und wieder in den Haaren liegt, aber auch schnell wieder versöhnt. Ihr grösstes Problem war bis vor kurzem der Mathematikunterricht, dem sie einfach nicht folgen mochte und der sie letztlich sogar dazu zwang, eine Klasse zu wiederholen. "Halb so wild", fanden ihre Eltern und organisierten ihrer Tochter Nachhilfestunden.

Doch damit war es nicht getan. Denn Melanie geriet innerhalb ihrer neuen Klasse nach und nach in die Rolle einer Schulversagerin, die als dumm galt und gehänselt und ausgegrenzt wurde. Einzelne Mädchen begannen, sie auf dem Pausenplatz zu treten und zu schlagen; auf dem Heimweg passte man sie ab und warf ihr rüde Worte wie "Schlampe" und "Hure" an den Kopf. Die Anführerin dieser Gruppe, ein grossgewachsenes kräftiges Mädchen, versetzte Melanie zusehends mehr in Angst und Schrecken. An einem Tag boxte sie sie, am nächsten liess sie sich von ihr nach Hause einladen, brachte sogar eine Tafel Schokolade mit und schien die gemeinsam verbrachten Stunden sehr zu geniessen. Doch tags darauf baute sie sich hasserfüllt vor ihr auf und forderte ultimativ die Schokolade zurück: "Sonst überlebst du nicht." Melanie lief verzweifelt nach Hause und erzählte ihrer Mutter, dass es in der Schule immer schlimmer wurde.

Trügerische Hoffnung

Frau K. war geschockt. Bisher hatte sie die Entwicklung mit einer gewissen Gelassenheit verfolgt und ihrer Tochter erklärt, dass Kinder, die sich so gemein verhalten, zuhause weder Liebe noch Respekt erfahren. Sie hatte ihr geraten, ihren Angreiferinnen auszuweichen oder lauthals zu schreien, wenn sie bedroht wurde. Als der Konflikt schon einmal zu eskalieren drohte, hatte sie zudem die Mutter einer an den Angriffen mitbeteiligten Klassenkameradin kontaktiert und nach diesem Gespräch angenommen, dass sich alles zum Besseren wenden würde. Diese Hoffnung erwies sich nun als trügerisch. Frau K. gab Melanie ausdrücklich die Erlaubnis zurückzuschlagen, "und zwar da, wo es wehtut." Ihr ist klar, dass dies keine echte Lösung ist. Doch weil die Elfjährige ab kommendem Herbst sowieso eine andere Schule besuchen wird, hält die Familie jetzt still und hofft, dass die verbleibende Zeit glimpflich ablaufen wird.

Melanie wird gemobbt. Das heisst, sie ist über einen längeren Zeitraum den wiederholten, gezielten Angriffen mehrerer Mitschülerinnen ausgesetzt, denen sie nur schon angesichts deren Überzahl unterlegen ist. Dieser sowohl verbal wie auch körperlich ausgetragene Konflikt hat eine starke Eigendynamik entwickelt, aus der sich das Opfer in der Regel nicht mehr allein befreien kann. Es leidet zusehends und braucht Hilfe von aussen.

Mobbing ist also etwas anderes als ein einmaliger Streit unter Kindern oder eine Rauferei auf dem Schulweg. "Mobbing ist eine besondere Form von Gewalt", konstatiert Christopher Szaday, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zürcher Pestalozzianum, "bei der ein Kind systematisch, häufig und über längere Zeit geplagt, gedemütigt, ausgelacht, ignoriert, lächerlich gemacht, verleumdet, getreten, gestossen, geschlagen und verletzt werden kann."

Mitläufer stacheln an

In den meisten Fällen sieht sich das Opfer einem einzelnen Angreifer gegenüber, der allerdings von zahlreichen sogenannten Mitläufern Rückendeckung erfährt. Mitläufer und Mitläuferinnen stacheln den Täter mit ihrem beifälligen Lachen an. Andere legen nach und nach selber Hand an und mobben mit. Viele aber bilden "nur" das schweigende Publikum, das selber zwar keine Attacken lanciert, aber auch nichts unternimmt, um dem Betroffenen zu helfen oder für ihn Unterstützung zu holen. Lieber unauffällig im Hintergrund bleiben, sagen sie sich, statt sich zu exponieren und damit selber in die Schusslinie zu geraten.

Mobbing-Opfer kann jedes Kind werden. Es komme einer Lotterie gleich, wen es letztlich treffe, sagt der Sempacher Lehrer und Gewaltexperte Andreas Hausheer: "Ein Nein im falschen Moment, und es kann passiert sein." Dass Kinder, die sich auf irgendeine Art von den anderen deutlich unterscheiden und in ihrer Klasse eine Aussenseiterrolle einnehmen, verletzbarer und damit auch angreifbarer seien, räumt er zwar ein, will daraus aber keine Gesetzmässigkeit ableiten.

Die Betroffenen martern sich gleichwohl den Kopf und wollen wissen: "Warum gerade ich?" Unentwegt kreisen ihre Gedanken um Fragen wie: "Was an mir löst den Unmut meiner Mitschüler aus? Was muss ich verändern, um nicht länger von ihnen geplagt zu werden?" Max, einem zwölfjährigen Knaben, ging es ebenso.

Irgendwann fingen die Hänseleien an. Zunächst subtil, später immer ausgeprägter. Sobald er den Pausenplatz betrat, stellte sich ihm Roland, ein älterer Mitschüler, in den Weg und rempelte ihn ohne jeden Anlass an: "Du Idiot." Von den gemeinsamen Spielen wurde Max ausdrücklich ausgeschlossen. Liess Roland ihn doch einmal mitmachen, wurde er körperlich hart drangenommen oder ausgelacht, bis er das Feld freiwillig räumte. Eines Tages lancierte Roland gemeinsam mit ein paar Kollegen eine regelrechte Kampagne gegen Max. Sie bombardierten ihn mit aus der Luft gegriffenen Vorwürfen: "Du hast meine kleine Schwester gehauen. Wehe, wenn du nochmals meiner Mutter das Portemonnaie klaust. Wir wissen, dass du unsere Velos kaputt gemacht hast."

"Glückliche Kinder mobben nicht"

Max war verwirrt und unglücklich. Er sprach mit seinen Eltern und wollte von ihnen wissen, was Roland gegen ihn habe. Waren es seine guten Zeugnisse, die Neid erweckten? War es seine bevorstehende Ferienreise in die USA, die er ihm missgönnte? Sein tolles grosses Fahrrad? Seine Mutter und sein Vater erklärten ihm, dass das wirkliche Problem nicht bei ihm, sondern bei Roland und seinen Mitstreitern läge, die sich offenbar dann besonders gut und stark fühlen, wenn sie einen anderen schikanieren und quälen können. Max gelang es, dank der Unterstützung durch seine Familie und Freunde so viel innere Distanz zu Roland herzustellen, dass sein Verhalten ihn nicht mehr im selben Mass traf. Ende Schuljahr zog Roland in eine andere Gemeinde. Max atmete auf und konnte wieder ruhig schlafen.

"Glückliche Kinder mobben nicht", sagt die Zürcher Gewaltexpertin Evelyne Coen. Mobbing werde stattdessen von frustrierten, nicht ernstgenommenen, beziehungslosen und unter Stress stehenden Kindern praktiziert, die auf diese Art Dampf abliessen: "Dahinter verbirgt sich oft ein grosses Leiden." Das Fatale sei , so Christopher Szaday vom Pestalozzianum, dass Mobbing den Tätern vordergründig Spass mache und Befriedigung verschaffe, weil es ihre Stellung innerhalb einer Gruppe stärken und ihnen damit mehr Macht verleihen könne. Es sei ihnen nicht bewusst, sagt der Fachmann, wie verletzend ihr Handeln auf ihre Opfer wirke. Solange niemand etwas dagegen unternehme, fehle ihnen jegliches Unrechtbewusstsein und sie fahren unbehelligt in ihrem Tun fort.

Mobbing renkt sich also in aller Regel nicht von allein ein, sondern erfordert eine Intervention von seiten der Eltern, Lehrkräfte, Behördenmitglieder oder anderer Erwachsener: "Die Gewalt-Dynamik muss von aussen gestoppt werden," konstatiert der Experte Andreas Hausheer.

Dazu sei es unerlässlich, dass Mobbing an Schulen überhaupt wahr- und ernstgenommen werde und dass die Lehrerschaft befähigt werde, angemessen auf die oftmals als bedrohlich erlebte Situation zu reagieren. Sie müsse einen geschärften Blick für das psychosoziale Geschehen innerhalb ihrer Klasse entwickeln und beim Erkennen eines Mobbingfalls entschieden eingreifen und den Hänseleien und Plagereien gegen einzelne Einhalt gebieten: "Sie müssen die Tat klar verurteilen und damit ein starkes Zeichen setzen."

Schweigen ist keine Lösung

Die Betroffenen selber sollten sich ihren Eltern, Lehrerinnen und Lehrern oder anderen ihnen nahestehenden Personen anvertrauen. Auch die Klassenkameraden, die Kenntnis von den Schikanen und Ausgrenzungen haben, sollten nicht länger schweigen und damit den Tätern in die Hand spielen, sondern deren zerstörerisches Treiben mutig ächten und Unterstützung holen.

All das ist leichter gesagt als getan. Gemobbten Kindern fehlt es oft nur schon an den Worten, um das Erlittene in Sprache zu fassen. Eltern haben oft Hemmungen, Hilfe in Anspruch zu nehmen, weil sie befürchten, ihrem Kind damit zusätzlich zu schaden. "Dann wird doch alles nur noch viel schlimmer", heisst es gern. Andere wollen sich nicht dem Vorwurf aussetzen, hysterisch oder überbeschützend zu sein. Sie verharmlosen Mobbing und vertreten die Ansicht, ein bisschen Streit gehöre zu einer normalen Kindheit und nur wer sich unter solchen Bedingungen durchzusetzen vermöge, werde es im Leben zu etwas bringen.

Die Mitschüler und Mitschülerinnen, die oft genug auch mit Stresssymptomen und grosser Anspannung auf einen Mobbingfall in ihren Reihen reagieren, haben zusätzlich Angst, als Petze verschrien zu werden, wenn sie eine Lehrperson einweihen. Die Lehrer selber sind häufig ratlos und wissen nicht, was sie in der aufgeladenen Stimmung tun sollen. Aus Angst, ihre Intervention könne ins Leere laufen und damit ihre Autorität untergraben, halten viele einfach still.

All diese Befürchtungen, so nachvollziehbar sie auch sein mögen, müssen - und können behoben werden. In der Schweiz existiert inzwischen ein weitgespanntes Netz an Hilfsangeboten, das sich der Thematik Mobbing an Schulen annimmt. Zum einen bieten die Schulpsychologischen Dienste sowohl Lehrpersonen wie auch Eltern ihre Unterstützung an. Dem Zürcher Pestalozzianum ist eigens eine Fachberatung Gewalt angegliedert, deren Leiter Jean-Luc Guyer Schulpsychologen und Schulpsychologinnen bei Bedarf unter die Arme greift.

Sozialarbeitende vor Ort

Darüber hinaus findet das Modell der Schulsozialarbeit zusehends grössere Verbreitung und bewährt sich auch im Kampf gegen die Gewalt auf den Pausenplätzen und in den Klassenzimmern immer mehr. Schulsozialarbeitende sind nahezu täglich vor Ort, verfügen über ein eigenes Büro in den Schulhäusern und sind damit problemlos und auf einfache Art erreichbar. Gab es 1999 erst 14 Projekte, so ist deren Zahl inzwischen auf über 50 gestiegen. Allein in Basel kommen momentan mehr als 2500 Schüler und Schülerinnen in den Genuss dieses Angebots, das sowohl Gruppen wie auch einzelnen mit Rat und Tat zur Seite steht.

Immer grösser ist auch die Nachfrage nach externen Beratern und Beraterinnen, die einerseits Weiterbildung für Lehrkräfte organisieren, andererseits aber auch auf dem Plan erscheinen, wenn sich eine Lehrperson in einer akuten Krise überfordert fühlt und gemeinsam mit neutralen Fachleuten eine Intervention vornehmen will.

Einer von ihnen ist Christopher Szaday vom Pestalozzianum, der den sogenannten "no blame approach" vertritt. Diese Methode ist stark lösungsorientiert, das heisst, sie stellt keine Fragen nach der Vergangenheit und der Entstehung eines Konflikts; sie verzichtet auch auf Schuldzuweisungen ("no blame") und Bestrafungen und verlangt von niemandem eine Rechtfertigung seines Tuns.

Stattdessen werden sechs bis acht an einem Mobbing-Fall beteiligte Kinder, darunter Täter, Mitläufer und Aussenstehende, in einer Unterstützungsgruppe zusammengefasst und von der Lehrperson darüber informiert, wie sich das gemobbte Kind fühlt. Aufgabe dieser Gruppe ist es nun, Ideen und Vorschläge zu entwickeln, die dazu beitragen können, dass es dem Opfer wieder besser geht. Auf diese Art übernimmt die Gruppe Verantwortung für den Prozess der Problemlösung. Nach ein, zwei Wochen wird in einem weiteren Gespräch Bilanz gezogen.

Niemanden an den Pranger stellen

Diese Methode erweist sich gemäss Erfahrungsberichten vieler Lehrkräfte als überaus nützlich. Szaday konstatiert, dass sich das Mobbing in neunzig Prozent der Fälle beseitigen lasse. Entscheidend für den Erfolg sei, dass "niemand an den Pranger gestellt, dafür aber die Würde aller Beteiligten wiederhergestellt wird."

Das National Coalition Building Institut NCBI ist ebenfalls in den Bereichen Gewalt, Konfliktlösung und Abbau von Vorurteilen tätig. Ron Halbright gründete den Schweizer Ableger des internationalen Netzwerks 1990 und wird seither mit zunehmend mehr Anfragen von Schulen konfrontiert. Ähnlich wie Szaday hält er das Prinzip hoch, bei Mobbing keine Schuldzuweisungen vorzunehmen: "Andernfalls drohen die Konflikte zu eskalieren."

Wird das NCBI zu einer Intervention in eine Schulklasse gerufen, stehen zunächst Beratungsgespräche mit der Lehrperson an. Auf der Primarstufe, seltener auf der Oberstufe schliesst sich ein Elternabend an, bei dem es darum geht, auch die Mütter und Väter aufzuklären und in die Verantwortung einzubinden. Während ein bis eineinhalb Tagen sind zwei NCBI-Vertreter in der betroffenen Klasse aktiv und versuchen, gemeinsame Lösungen zu erarbeiten. Ein Vierteljahr später folgt eine Nachbesprechung.

Im Wissen, dass zwischen fünf und fünfzehn Prozent aller Kinder von Mobbing betroffen sind und teilweise unter gravierenden Folgen wie Ängsten, Apathie, Schlaflosigkeit, Bauch- und Kopfschmerzen, Depressionen, Schulversagen und Selbstmordgedanken leiden, nehmen sich auch immer mehr Schulen des Themas Prävention an: Was müssen wir vorkehren, fragen sie sich, damit sich Gewalt bei uns gar nicht erst ausbreiten kann? Präventionsprojekte, Tagungen und Seminare werden selbst in einer Zeit, in der die Sparschraube eng angezogen ist, durchgeführt. "Wir müssen endlich hinschauen und handeln", sagt eine Schulpflegerin aus dem Kanton Zürich, "denn jedes einzelne Kind, das gemobbt wird, ist ein Kind zuviel."

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© Barbara Lukesch