"Darüber spricht man nicht!"

Tabus in der Familie / 24. Juni 1999, "Facts"

Symbolbild zum Thema Gewalt

Konflikte werden aus Scham und Angst vor gesellschaftlicher Ausgrenzung totgeschwiegen.

Eric Harris und Dylan Klebold, die siebzehn- und achtzehnjährigen jungen Männer, die anfangs Mai zwölf Mitschüler und einen Lehrer in Littleton, Colorado, umbrachten, hatten sich im Haus ihrer Eltern ein Waffenarsenal, bestehend aus Revolvern, Gewehren und mehr als dreissig Bomben, angelegt, von dessen Existenz iher Mütter und Väter nichts gewusst haben wollen. Auch die Tatsache, dass ihre Söhne T-Shirts mit dem Aufdruck "Serienmörder" trugen und regelrecht besessen von gewalttätigen Videospielen waren, müssen die Eltern beider mit Nachdruck verdrängt oder verharmlost haben. Anders lässt sich ihre vollständige Ahnungslosigkeit und Überraschung angesichts des von Eric und Dylan angerichteten Massakers nicht erklären.

Wie tabuisiert die Gewaltbereitschaft des eigenen Kindes offenbar ist, zeigt auch der Fall des österreichischen "Bombenhirns" Franz Fuchs, der 25 Brief- und drei Rohrbomben verschickte, die vier Menschen töteten und zehn verletzten. Fuchs wohnte mit seinen Eltern unter einem Dach, ass mit ihnen, schlief im Zimmer neben ihnen, und trotzdem wollten der Vater und die Mutter nicht wahrhaben, dass ihr Sohn psychisch zusehends abglitt und in kriminelles Fahrwasser geriet.

Familien stellen sich tot

"Familien sind besonders prädestiniert für die Errichtung von Tabus", konstatiert die Wiener Psychoanalytikerin Rotraud A. Perner, "weil der Anspruch, als Familie stets reibungslos zu funktionieren und ihren Mitgliedern als störungsfreier Schutzraum zu dienen, so omnipräsent ist, dass er nicht in Frage gestellt werden darf." Stattdessen würden Familien schon bei der geringsten Irritation erstarren, sich tot stellen und auch in schweren Krisen weiterhin so funktionieren, als sei alles in Ordnung und die familiäre Welt nach wie vor heil und harmonisch.

Katrin P., 29, wuchs als Adoptivkind bei einem Paar auf, dessen Ehe vom grassierenden Alkoholmissbrauch des Vaters und dem Leiden der Mutter an ihrer Kinderlosigkeit überschattet wurde - zwei Themen, die wie "eine dunkle Wolke" über der Familie hingen, ständige Spannungen verursachten, aber niemals direkt angesprochen wurden. Nach aussen hin vermittelte man den Eindruck einer intakten Gemeinschaft. "Kein Mensch", erinnert sich Katrin P., "wäre je auf die Idee gekommen, dass bei uns zuhause das nackte Chaos herrschte." Dabei habe sie sich jahrelang nichts sehnlicher gewünscht, als dass eines Tages die Polizei anrufen und ihr mitteilen würde, dass ihre Eltern tötlich verunfallt seien: "Nur auf so radikale Art war für mich die Erlösung von dem unermesslichen familiären Druck vorstellbar."

Tabu sind in Familien all jene wirklichen oder auch nur vermeintlichen Schandflecken, bei deren Aufdeckung man mit einem erschrockenen "Das hätte ich aber nie von euch gedacht" der Nachbarn, Freunde oder Verwandten rechnet. Das können Erfahrungen wie der sexuelle Missbrauch des eigenen Kindes, also regelrecht kriminelle Handlungen, sein, aber auch solche, die vor allem als peinlich und hässlich empfunden werden und nicht ins Bild der erfolgreichen, fitten Familie passen wie die Depressionen der Mutter, die Arbeitslosigkeit des Vaters, der Drogenkonsum der Tochter oder die Homosexualität des Sohnes.

Tabus werden aus Angst und Scham errichtet

Darüber hinaus aber geraten auch schon Themen wie die Unzufriedenheit der zwar akademisch gebildeten, aber daheim versauernden Ehefrau und Mutter in die Tabuzone, bei deren Erwähnung der gestresste Gatte derart wütend reagiert, dass es seine Frau fortan tunlichst meidet, das heisse Eisen nochmals anzufassen. Umgekehrt kann es passieren, dass die Unsicherheiten und beruflichen Zukunftsängste des Familienernährers unter familiäres Redeverbot geraten. Zu bedrohlich ist die Vorstellung, sich eines Tages am Rand der Gesellschaft wiederzufinden.

Familientabus werden also vor allem aus Scham und der Angst vor gesellschaftlicher Ausgrenzung und Ächtung, aber auch aus Furcht vor als unlösbar empfundenen Konflikten errichtet. Häufig dienen sie allerdings auch dazu, bestehende Machtstrukturen zu bewahren. Nur wenn der einstige Gefängnisaufenthalt des Vaters oder die rechtsradikale Vergangenheit des Grossvaters verschwiegen werden, können beide nach wie vor die Rolle des allseits geschätzten Pater Familias spielen.

Die Unfähigkeit vieler Familien, sich mit ihren Schattenseiten auseinanderzusetzen, lässt sich nach Einschätzung von Psychoanalytikerin Perner aber auch mit "einem Mangel an kognitiven und emotionalen Konfliktlösungsmodellen" erklären. Das Miteinander-Reden-Können, konstatiert die Fachfrau, geniesse in unserer Gesellschaft keine besondere Wertschätzung. Sprichwörter wie "Reden ist Silber, Schweigen ist Gold" oder "Ein Mann, ein Wort - eine Frau, ein Wörterbuch" würden den verbalen Austausch unter Menschen klar abwerten. Konfrontiert mit ihren Schandflecken stünden Familien dann hilflos und überfordert da und stöhnten nur: "Oh, Gott, was nun?" Unfähig zur Kommunikation, aber auch zum Aushalten der spannungsgeladenen Gefühle werde, so Perner, "der Seelenmüll unter den Teppich gekehrt, bis der Berg darunter so gross ist, dass die Familienmitglieder überhaupt keinen Zugang mehr zueinander finden." Die Blockade ist total, die dringend notwendige Realitätssicht endgültig versperrt und an die Idee, Hilfe von aussen zu holen, denkt unter solchen Bedingungen niemand mehr.

Kontrolle statt spontaner Gefühle

Stattdessen wird dann mit Macht der Deckel auf den brodelnden Dampfkochtopf gedrückt; die Schweigemauern werden hoch und höher und das familiäre Klima wird immer kälter, unpersönlicher und verlogener. Statt spontaner Gefühlsäusserungen herrscht Kontrolle vor, und die Familienmitglieder entfremden sich einander zusehends.

Die 34jährige Renate B., deren sexueller Missbrauch durch ihren Stiefvater zwar im "Gräbli" des elterlichen Bettes passierte, aber gleichwohl nie auf den Familientisch kam, empfand die Stimmung daheim als "so bizarr und unwirklich wie in einem Patricia Highsmith-Roman." Freundinnen durfte sie schon lange nicht mehr nach Hause bringen. Von ihrer Mutter hatte sie auch keine Hilfe zu erwarten. So wurde sie immer häufiger von der Angst ergriffen, an dem "schrecklichen Geheimnis zu ersticken". Eines Tages bekam sie tatsächlich schwere Asthma-Anfälle, die während Jahren immer wieder auftraten.

Um die Tabus unter Verschluss zu halten, wenden Familien ein Höchstmass an psychischer Energie auf. Das fängt bei der Gestik, Mimik und den Blicken an, die jegliche Aufmüpfigkeit sofort zum Erliegen bringen: "Und die Mutter blickte stumm auf dem ganzen Tisch herum", wie es im Kinderbuch-Klassiker "Struwelpeter" heisst. Wer wagte da noch zu widersprechen. Renate B.s Stiefvater verpackte das für sie geltende Redeverbot in einem Eintrag in ihrem Poesiealbum, das er seiner zehnjährigen Stieftochter sozusagen als Warnung mit auf den Weg gab: "Wer seinen Mund bewahrt, der bewahrt sein Leben. Wer aber mit dem Maul herausfährt, der kommt in Schrecken."

Anderenorts wird unverblümt gedroht: Wenn du nicht schweigst, passiert eine Katastrophe. Oder konkreter: Wenn du jemandem von unserem Geheimnis erzählst, bringt Vater sich um. Nicht selten wird das Stillhalten auch mit körperlicher Gewalt erzwungen. Subtilere Gewalt kommt dort zur Anwendung, wo einem Familienmitglied die eigene Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit abgesprochen wird. Statt die Aussagen der sexuell missbrauchten Tochter ernstzunehmen, heisst es dann: Gisela hatte schon immer eine rege Phantasie. Oder gröber: Gisela spinnt mal wieder. Diese Form des "Crazy Making" oder der Gehirnwäsche hat nachhaltige Folgen, kann sie doch den Realitätsbezug der Betroffenen endgültig zerstören.

Hexenjagd

Doch wer ein Tabu verletzt, muss mit allem rechnen. Dies erlebte kürzlich eine Wiener Psychotherapeutin, die einen Vater wegen sexueller Ausbeutung seiner Kinder anzeigte. Obwohl sie eindeutige Beweise vorlegen konnte, muss sie heute ihre Berufszulassung verteidigen und wird von den Behörden, gemäss ihrer Aussagen, "wie eine Verbrecherin" behandelt. Ähnliches widerfuhr auch der ehemaligen Möriker Schulpflegerin Ruth Ramstein, die es wagte, den im Dorf weitherum geschätzten Primarlehrer und Kunstturntrainer Köbi F. der sexuellen Belästigung seiner Schülerinnen zu beschuldigen. Die Tabubrecherin wurde zur "Hexe" gestempelt und im Aargauer Dorf, das sich zusammenrottete wie eine grosse Inzestfamilie, ausgegrenzt und diffamiert. Noch heute, nachdem F. vor dem Bezirksgericht Laufenburg in erster Instanz zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt worden ist, wird Ramstein mit anonymen Schmähbriefen eingedeckt.

Dass familiäre Tabubrüche tatsächlich Hochseilakte mit Absturzgefahr sind, belegt auf eindrückliche Art auch der aktuelle dänische Film "Festen". Da gerät der sechzigste Geburtstag eines erfolgreichen Unternehmers und Familienoberhaupts zum Debakel, weil der älteste Sohn seinen Vater vor allen Gästen der Vergewaltigung und Schuld am Selbstmord seiner Schwester bezichtigt. Im Verlaufe der Nacht muss sich die honorige Familie ihrer schrecklichen Geschichte stellen und bricht schliesslich entzwei.

Auch wenn das Lüften des Geheimnisses mitunter zum familiären Chaos und endgültigen Bruch führt, bildet es, nach Einschätzung des Basler Psychologieprofessors Udo Rauchfleisch, "die einzige Möglichkeit, zu einer wirklichen Befreiung und Klärung zu kommen." Nur so könne unter anderem auch erkannt werden, dass die Ängste vor dem Coming-Out des schwulen Sohnes völlig ungerechtfertigt waren. Nur so liessen sich aber auch jene Energien mobilisieren, die es brauche, um der Alkoholkrankheit der Mutter oder der Sexsucht des chronisch fremdgehenden Vaters fachgerecht zu begegnen und damit auch den familiären Genesungsprozess in Gang zu setzen. "Einzig unter diesen Bedingungen", sagt Rotraud A. Perner, "kann das erstarrte System wieder lebendig werden und die Familie tatsächlich zur Kraftquelle und zum Schutzraum für ihre Mitglieder werden."


Die wichtigsten Familientabus

Delikte:
- Sexuelle Ausbeutung der eigenen Kinder, Neffen, Nichten, Enkel, aber auch fremder Kinder
- Vergewaltigung in der Ehe/Partnerschaft
- Körperliche Gewalt, Misshandlung und Psychoterror von Familienangehörigen
- Straftaten wie Mord, Totschlag, Betrug, Raub etc. und damit verbundene Zuchthaus- und Gefängnisstrafen
- "Dunkle" Flecken in der Familien-Vergangenheit (So sieht sich beispielsweise die US-Aussenministerin Madeleine Albright mit dem Vorwurf konfrontiert, dass ihr Vater bei der Emigration aus Prag 1947 unrechtmässig erworbene Kunstgegenstände mitgenommen habe (Spiegel 17/1999)

Makel:
- Homosexualität oder Transsexualität von Familienangehörigen
- Psychische Krankheiten wie Depressionen oder Schizophrenie und damit verbundene Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken, Altersdemenz der eigenen Eltern oder Grosseltern
- Geistige und/oder körperliche Behinderung
- Selbstmord von Familienangehörigen
- HIV-Infektion oder Aids
- Töchter/Söhne, die der Prostitution nachgehen; Väter, die als Freier auftreten
- Impotenz
- Suchtkrankheiten wie Drogen-, Alkohol-, Medikamenten-, Fress-, Mager- oder Spielsucht
- Verhaltensauffälligkeit von Familienangehörigen wie starke Aggressivität, Beziehungsunfähigkeit, Aussenseiterstatus
- Zugehörigkeit zu Sekten oder Parteien mit politischen Extrempositionen
- Die "falsche" Nationalität oder Hautfarbe von Schwiegertöchtern oder Schwiegersöhnen
- Arbeitslosigkeit, Versagen bei Prüfungen und Examen, Konkurs, Schulden
- Adoptierte oder uneheliche Kinder, künstlich gezeugte Kinder, Kinder von Samenspendern, unfreiwillige Kinderlosigkeit

Unglück:
- Postnatale Depressionen: das fehlende Mutterglück
- Verzicht auf Berufstätigkeit und Karriere und daraus resultierende Unzufriedenheit (vor allem bei Frauen)
- Zukunfts- und Versagensängste (eher bei Männern)
- Ehe- beziehungsweise Partnerschafts-Tristesse
- Enttäuschung von Eltern über ihre "missratenen" Kinder

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© Barbara Lukesch