Passugger wirbt mit dem Tabu-Thema "Missbrauch"

Gesprächstoff / Juli 1998, "Das Magazin"

Symbolbild zum Thema Gewalt

Die Werbung ist ein lächelndes Aas." (Buchtitel von Benetton-Starfotograf Oliviero Toscani)

Passugger steigert die Dosis. Am Dienstag, den 14. Juli 1998, überzieht der Bündner Mineralwasser-Produzent zehn Schweizer Städte mit 400 grossflächigen Plakaten, auf denen die vierzigjährige Gabriela Schmidhauser, einst Opfer sexueller Gewalt und heute Aktivistin dagegen, den Passanten zuruft: "Alle 11 1/2 Minuten wird in der Schweiz ein Kind sexuell missbraucht. Ich war eines davon."

Das ist eine inhaltliche Novität in der kommerziellen Schweizer Werbung und eine Eskalation innerhalb einer Konsumgüter-Kampagne, die heuer ins vierte Jahr geht und bis anhin zwanzig Männer und Frauen zu Themen wie Rassismus, Sekten, BSE und gleichgeschlechtlicher Ehe öffentlich ein provokatives Statement abgeben liess.

Lanciert hatte man den Werbefeldzug mit bekannten Figuren wie der Schauspielerin Nastassja Kinski, dem Opernsänger Simon Estes und dem ehemaligen Fussballspieler Andy Egli. Prominenz musste sein, damit die breite Masse die Reklameanstrengungen zugunsten eines unschuldigen Bergquells überhaupt zur Kenntnis nahm. Als dann der derb-deftige Spruch "How the fuck can you see the light if you've never seen the motherfucking darkness?" des schwarzen US-Rappers Coolio vielen hiesigen Bürgern in den falschen Hals geriet und Hunderte von Protestbriefen auslöste, hatten die Promis ihren Dienst getan und die Kampagne fest im Bewusstsein eines grossen Publikums verankert.

Ehrgeizige Ziele

Seither dürfen Herr und Frau Schweizer auf's Plakat, deren Lebensgeschichte brisante, möglichst tabuisierte Aspekte birgt oder Experten, die sich zu ebensolchen Themen pointiert zu äussern wagen.

Für das Jahr 1998 hatte sich Andy Hostettler, der für die Passugger-Kampagne verantwortliche Mitarbeiter der Zürcher J. Walter Thompson-Werbeagentur, ehrgeizige Ziele gesteckt. Am liebsten hätte er einen obdachlosen Jugendlichen oder ein Opfer der sogenannten Kinderprostitution auf's Plakat gehebelt. Da sich weder Ämter noch Beratungsstellen willig zeigten, ihm bei der Suche von Betroffenen behilflich zu sein, dachte er kurzfristig um. Warum nicht sexuelle Ausbeutung von Kindern thematisieren? Erneut schlug dem Werber ein kalter Wind entgegen. Seine ursprüngliche Wunschvorstellung, ein Mädchen oder eine weibliche Jugendliche abzubilden, hatte er aus "moralischen Erwägungen" bereits von sich aus fallengelasssen: "Die haben die schrecklichen Erlebnisse ja noch gar nicht verarbeitet". Doch bis er nur schon ein erwachsenes Opfer gefunden hatte, - und ein Opfer, nicht nur eine Expertin musste es sein, um ein Höchstmass an Betroffenheit beim Publikum zu erzielen, - waren grosse Anstrengungen nötig.

Bei Gabriela Schmidhauser war er schliesslich an der richtigen Adresse. Die Gründungspräsidentin des Vereins "Stop dem sexuellen Missbrauch" (SSM) hatte schon lange auf eine solche Gelegenheit gewartet. Nachdem sie selber während knapp zwanzig Jahren von einem Mann sexuell ausgebeutet worden war, dessen Identität sie aus Angst vor Psychoterror durch ihn oder seine Umgebung nicht preisgibt, kann und will sie nicht länger schweigen: "Im Wissen um das Ausmass des Problems nehme ich jede Möglichkeit wahr, um die Gesellschaft aufzurütteln und auf ihre Verantwortung gegenüber Kindern und Jugendlichen aufmerksam zu machen."

Schmidhauser ist ein Stück weit an Öffentlichkeitsarbeit gewohnt, hat sie sich doch in der Regionalpresse bereits mit vollem Namen geoutet, nimmt regelmässig an Standaktionen des SSM teil und hofft inständig, dass die von ihr für den 5. September in Bern geplante nationale Demonstration der Missbrauchsopfer zustande kommt. Auch ihr dreizehnjähriger Sohn, mit dem die alleinerziehende Mutter zusammenlebt, erklärte sich mit ihrer Teilnahme an der Passugger-Plakataktion einverstanden.

Ringen um das Statement

So stand ihrer Zusage (fast) nichts mehr im Weg. Dass sie nur die üblichen 2000 Franken als Entschädigung für ihre Mitarbeit bekam, obwohl sie doch - so ihre Worte - "einen besonders brisanten Beitrag" leiste, nahm die IV-Bezügerin zähneknirschend hin. Sie machte sich an den Entwurf eines für sie stimmigen Statements, um sich ihren definitiven Spruch dann doch von der Werbeagentur diktieren zu lassen. Um der Sache willen, konstatiert sie nüchtern, habe sie Kompromisse gemacht. Wenn es allein nach ihr gegangen wäre, hätte sie ihre eigene Missbrauchsgeschichte lieber nicht aufs Tapet, sprich Plakat gebracht. Nichtsdestotrotz könne sie nun den ihr in den Mund gelegten Satz akzeptieren.

Das muss auch so sein. Schliesslich hat die Werbekampagne des Mineralwasser-Fabrikanten mit ihrem Slogan "Passugger, die Quelle der Wahrheit" einen hohen moralischen Anspruch gesetzt, an dem nun alle, insbesondere öffentlichen Handlungen der Firma gemessen werden. Gerade deshalb ist man natürlich froh um medienerprobte Personen wie Gabriela Schmidhauser, bei der man sich nach Einschätzung von Werber Hostettler darauf verlassen könne, dass sie allfälliger Häme, Beschimpfung und Kritik nach Aushängen der Plakate mit Gelassenheit zu begegnen wisse. Sollte sie wider Erwarten doch unter psychischen Druck geraten und in ein Loch fallen, wie sich Hostettler ausdrückt, habe man zugegebenermassen ein Problem. Ein eigentliches Notfall-Szenario existiere nicht, aber man werde Frau Schmidhauser schon zu helfen wissen.

Adrian Ramsauer, Zürcher Bezirksanwalt, Gemeinderat und ehemaliger Passugger-Werbeträger, hat da so seine Bedenken. Der Schwulen-Aktivist, dessen Plakat-Botschaft die Forderung beinhaltete, seinen Freund heiraten zu dürfen, weiss nur zu gut, wieviel Medienwirbel mit der Kampagnen-Teilnahme verbunden ist: "Das kostet Kraft und will verdaut sein." Als alter PR-Profi und erfahrener Jurist habe er sich immerhin bewusst für den Deal zwischen zwei professionellen Partnern entscheiden können, den er weitestgehend unter Kontrolle gehabt habe. Das sei ihm nicht zuletzt auch deshalb gelungen, weil er - anders als Gabriela Schmidhauser - kein wirklich Betroffener seiner eigenen Botschaft gewesen sei. Er würde ihr folglich von der Teilnahme abraten, weil die Reaktionen, denen sie ausgesetzt sein werde, absolut nicht kalkulierbar seien: "Das kann brutal werden". Und ob eine Werbeagentur über die "nötige soziale Kompetenz" verfüge und sie dann auffangen könne, wage er zu bezweifeln. Gabriela Schmidhauser lässt sich nicht beirren: "Ich habe mich entschieden und stehe trotz eines gewissen Risikos dazu."

Rechnung ging bisher auf

Das hört man bei Passugger gern, ging die Reklame-Rechnung des Mineralwasser-Produzenten doch bisher nahezu fehlerlos auf. Als man sich auf dem hartumkämpften Markt der Tafelwasser vor einigen Jahren vor die Notwendigkeit gestellt sah, das Werbebudget massiv zu kürzen, musste eine Kampagne her, die mit minimalen Mitteln die grösstmögliche Wirkung erzielt. Was lag also näher als mit dem Reiz des Brisanten, Tabuisierten, ja, Verbotenen zu spielen. Benetton hatte es vorgemacht. Mit aufsehenerregenden Bilderbotschaften zu Aids, Krieg und Rassismus, die mit den beworbenen Pullovern rein gar nichts mehr zu tun hatten, war es gelungen, Benetton zur weltweit fünftbekanntesten Marke hochzustemmen. Auch die Passugger-Kampagne liess sich prächtig an und fuhr an den internationalen Werber-Wettbewerben Preis um Preis ein. Eine Studie der Allgemeinen Plakatgesellschaft APG erhob, dass die Plakate mit der grünen Flasche und dem grossen Auge den Passanten ausgesprochen gut gefallen und ihnen vor allem nachhaltig in Erinnerung bleiben.

Vorübergehende interne Turbulenzen erlebte man, als Adrian Ramsauer die Schwulen-Ehe propagierte und Andy Egli den Schweizerischen Fussballverband der Dummheit bezichtigte ("Die Nationalmannschaft hat mehr in den Füssen als der Verband im Kopf."). Das ging dem damaligen, mehr als 70 Jahre alten Verwaltungsratspräsidenten der Passugger Quellen denn doch zu weit, und er erklärte die Kampagne öffentlich für beendet. Imageschädigende Gewitterwolken zogen am klaren Bündner Berghimmel auf.

Nichtsdestotrotz hielt das Unternehmen am eingeschlagenen Werbeweg fest. Man betonte lediglich deutlicher als zuvor, dass Passugger, dieser Schweizer Urquell, neutral zu seinen Plakatbotschaften stehe und sich nicht wie Benetton eins zu eins mit ihnen identifiziere. Die Firma stelle nur eine Plattform zur Verfügung, auf der Menschen, die etwas Brisantes mitzuteilen hätten, sich äussern können. Indem man zusätzlich eine Gratis-Telefonnummer anbiete, auf der die Werbe-Protagonisten wie jetzt Gabriela Schmidhauser während rund drei Minuten weitere Informationen zur Sache geben, wolle man der Aktion noch mehr Glaubwürdigkeit verleihen. Das Publikum dankt die Bemühung, wurde jede bisherige Nummer doch nahezu 5000mal eingestellt.

Tabureklame: ein Murks?

Ein Problem bleibt trotzdem ungelöst: Es existiert keinerlei Verbindung zwischen Passugger und - im jüngsten Fall - sexueller Gewalt. Den Versuch, sie mit Hilfe des Slogans von der "Quelle der Wahrheit" herzustellen, qualifiziert Hans-Ulrich Schweizer, Geschäftsführer der Wirz-Werbeberatung, als "annegwürgten Murks" ab. Schweizer hält sowieso nicht viel von Werbung, die "Produkte zum Trittbrettfahrer von sozialpsychologischen Nischenthemen macht statt über deren Nutzen zu informieren." Experten, die in der Prävention gegen sexuelle Ausbeutung tätig sind, monieren handfester, dass Passugger ein heikles Problemfeld, das mit viel Leiden verbunden ist, zu kommerziellen Werbezwecken missbrauche. Wolle die Firma beweisen, so eine Fachfrau, dass ihr das Thema tatsächlich etwas wert sei, solle sie doch einer Beratungsstelle eine grosszügige Spende überweisen. Davon allerdings will Konrad Zinsli, Product Manager bei Passugger, nichts wissen: "Das haben wir noch nie erwogen."

Stattdessen redet man sich mit hohlen Phrasen ins Feuer, will am Beizentisch, wo das Mineralwasser im grünen Fläschchen mehrheitlich konsumiert wird, Debatten zu brennenden gesellschaftlichen Problemen initiieren und versprach auch Gabriela Schmidhauser im ersten Brief: "Wir sind überzeugt, dass unsere Kampagne mit Ihrer Unterstützung eine positive (sic) Diskussion in der Öffentlichkeit auslösen kann." Ärger will man auf keinen Fall und lässt daher politisch umstrittene Themen wie beispielsweise die Genschutz-Initiative wohlweislich aussen vor.

Dass das Schmidhauser-Plakat Wasser auf die Mühlen all jener sein könnte, die Passugger schon lange auf dem heftig umstrittenen Benetton-Werbekurs sehen, wird in Abrede gestellt. Von thematischen Eskalationen wollen weder das Unternehmen noch die Werbeagentur etwas wissen: "Die Kampagne", sagt Andy Hostettler, "ist bereits so bekannt bei den Leuten, dass wir überreizte Themen überhaupt nicht nötig haben." Branchenkollegen können nur lachen bei diesen Worten; gehen sie doch davon aus, dass Passugger die Reizschwelle notgedrungen immer höher ansiedeln müsse, um das gewünschte Mass an Aufmerksamkeit zu erzielen. Voller Sarkasmus schlägt denn der ehemalige Werbeträger Ramsauer auch schon ein Sujet für 1999 vor: "Warum nicht gleich einen Pakistani mit der Atombombe zeigen?"

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© Barbara Lukesch