Schatten im Rücken, Schatten im Kopf

Überfälle auf Frauen / November 1995, "Schweizer Woche"

Symbolbild zum Thema Gewalt

Bea Meier (Name geändert) genoss den Besuch bei ihren Freunden. Es war ein lauer Septemberabend; sie fühlte sich entspannt, ass, trank, plauderte. Gegen ein Uhr morgens brach sie gemeinsam mit anderen Gästen auf. Sie zog ihren beigen Baumwollpullover an, weil es leicht zu regnen begonnen hatte, und liess jenen Kollegen, der mit dem Auto da war, kommentarlos abfahren, da sie «nicht im Traum daran gedacht hätte, ihn für meinen kurzen Heimweg um eine Mitfahrgelegenheit zu bitten». Sie verabschiedete sich von den anderen und machte sich allein auf den Weg.

Bea Meier gilt in ihrem Bekannten- und Freundeskreis als selbstsichere Person. Sie weiss, was sie will, ist dynamisch und energiegeladen und ganz sicher nicht auf den Mund gefallen. Die 49jährige Psychotherapeutin hat in jahrzehntelanger Berufstätigkeit im In- und Ausland ihr Selbstbewusstsein entwickelt und gelernt, «sich auch allein als Frau in vielen gesellschaftlichen Situationen zu bewegen und sich sicher zu fühlen». Von jeher ist sie daran gewöhnt, ohne Begleitung in Bars und Restaurants zu verkehren. Wundert sich jemand angesichts ihrer Unerschrockenheit, heisst es schnell einmal: «Der Bea passiert nichts; die strahlt so viel Sicherheit aus.»

Unvermittelte Attacke

So jedenfalls sahen das ihre Freunde und Freundinnen bis zum Samstag, den 17. September, als sie nachts um ein Uhr gutgelaunt und in gewohnt forscher Manier die wenigen Strassen vom Haus ihrer Bekannten zu ihrer Wohnung im Zürcher Seefeld-Quartier zurücklegen wollte. Kein Mensch war um diese Zeit noch unterwegs. Trotzdem fühlte sie sich so sicher wie eh und je. Erst als sie nur noch knappe 150 Meter von ihrer Wohnung entfernt nach hinten blickte, bemerkte sie jenen Mann, der in die gleiche Richtung ging wie sie. Bea Meier war - anders als sonst - sofort alarmiert: «Meine Intuition warnte mich, und ich überlegte innert Sekundenbruchteilen, ob es nicht gescheiter wäre davonzurennen.» Doch ihr Kopf funkte dazwischen und ignorierte die Warnung: «Spinn doch nicht, Bea! Bleib ruhig!»

Als sie sich wenig später erneut umdrehte, war der Mann bereits auf gleicher Höhe wie sie. Blitzschnell packte sie der grossgewachsene, kräftige Typ am Arm, zerrte sie in eine offene Autogarage, stiess ein kehliges «Komm!» hervor und schleuderte die 1,64 Meter kleine und knappe 50 Kilogramm schwere Frau auf den Boden. Obwohl sie nicht wusste, wie ihr geschah, realisierte sie mit fast beängstigender Klarheit, «dass ich jetzt drankomme wie x andere Frauen vor mir auch - und dass es ums Überleben geht».

Auch wenn sie am Boden lag, musste sie etwas tun - und so schrie sie aus Leibeskräften und rammte dem Täter ihr Bein in den Bauch. Im selben Augenblick schlug dieser ihr die Faust ins Gesicht, und sie war weg, ohnmächtig. Als sie wenige Minuten später wieder zu Bewusstsein kam, hielten zwei fremde Männer sie an den Armen und halfen ihr auf die Beine. Alarmiert von ihren Schreien, waren sie auf die Strasse geeilt und hatten den Täter in die Flucht geschlagen. Sie riefen die Polizei und den Notfalldienst des Zürcher Universitätsspitals an. Bea Meier war noch einmal davongekommen.

Heute, zweieinhalb Monate nach diesem Überfall, geht es ihr «nach wie vor schlecht». Sie ist arbeitsunfähig, kann wegen einer sturzbedingten Knieverletzung nur an einer Krücke gehen, leidet unter Schwindelgefühlen und muss immer noch starke Schmerztabletten schlucken. Wenn sie drei, vier Seiten in einem Buch gelesen hat, fühlt sie sich erschöpft. Mehr als eine Stunde darf sie noch nicht auf den Beinen sein. Beim Sehen plagen sie zudem sogenannte «Doppelbilder», die jeden Schritt zum Wagnis werden lassen und sie beim Lesen «enorm behindern». Sie sind eine Folge der Faustschläge in ihr Gesicht, die sowohl ihr Jochbein wie auch ihren Augenboden zertrümmert, eine komplizierte Operation und einen mehrwöchigen Spitalaufenthalt notwendig gemacht haben. Ungewiss ist, ob diese Sehstörungen sich jemals beheben lassen oder sie zeitlebens plagen werden.

"Regelrecht lahmgelegt"

Bea Meier bewegt sich gern, ist häufig unterwegs, unter Leuten. Seit jener verhängnisvollen Septembernacht fühlt sie sich «eingeschränkt, ja regelrecht lahmgelegt und auf unangenehme Art auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen». Einmal hat sie seither die Anstrengung auf sich genommen und ist ins Kino gegangen. Als sie dann gegen 21 Uhr die kurze Distanz von der Tramstation zu ihrer Wohnung zurücklegen musste, verspürte sie ein mulmiges Gefühl und das Bedürfnis, sich immer wieder umzudrehen und zu kontrollieren, wer hinter ihr ging. Sie sei vorsichtiger geworden. Ob sie jemals wieder nachts allein durch Zürich gehen möge, könne sie heute noch nicht beurteilen. Auf jeden Fall aber habe sie ihre Überzeugung, dass Selbstbewusstsein eine Frau vor Gewalt bewahren könne, relativieren müssen.

Doch trotz einer gewissen Verunsicherung wirkt Bea Meier sehr beherrscht und stabil. So betont sie auch, dass sie sich «psychisch nicht traumatisiert» fühle und «weder mit Angstanfällen noch mit Alpträumen, Verfolgungsängsten oder unbeherrschbarer Wut» zu kämpfen habe. Sie ist überzeugt davon, dass sie Glück im Unglück gehabt habe, weil ihr eine Vergewaltigung erspart geblieben sei. Dass der Täter nicht zum Ziel gekommen ist, hat sie in erster Linie sich selber zu verdanken. Weil sie trotz Angst und Schock noch lauthals schreien und damit Hilfe herbeirufen konnte, liess der Täter von ihr ab.

Im nachhinein ist Bea Meier «stolz darüber, dass es mir gelungen ist, mich in einer scheinbar ausweglosen Situation zu wehren». Es gebe ihr Kraft und helfe ihr auch bei der psychischen Verarbeitung des Erlittenen. Schon als ganz junge Frau, so erinnert sie sich, habe sie einen Vergewaltigungsversuch ihres damaligen Freundes vereiteln können. Wer weiss, vielleicht habe diese Erfahrung sie stärker geprägt, als sie bisher angenommen habe.

Sofort Anzeige erstattet

Die Psychotherapeutin ist zudem überzeugt, dass ihr beruflicher Hintergrund, aber auch ihr Wissen über Gewalt sie davor bewahrt hätten, mit einer schweren Krise auf das Erlebte zu reagieren. Sobald sie so etwas wie Aggressionen gegen den Täter verspürt, versucht sie, vom Einzelfall zu abstrahieren und die ihr widerfahrene Gewalt als «Folge der enormen Frustrationen» zu interpretieren, «die heutzutage so viele in unserer Gesellschaft quälen». Was nicht heissen soll, dass sie den Täter einfach unbehelligt laufen liesse. Nein, sie hat sowohl Anzeige gegen Unbekannt erstattet als auch Hunderte von Polizeifotos durchforstet.

Gerät sie in eine depressive Verstimmung, mobilisiert sie all ihre «positiven Kräfte» und zwingt sich zu grösserer Geduld. Es fällt ihr schwer, zum beruflichen Nichtstun verdammt zu sein. Es belastet sie, mit den Ämtern und Versicherungen «um jeden Rappen und Franken» streiten zu müssen. Sie fragt sich oft, wie jemand diesen Kampf durchstehe, der über weniger Widerstandskraft und Zähigkeit verfüge als sie.

In ihren Gesprächen ist das Thema Gewalt heute präsenter als früher. So überlegt sie sich auch, ob sie in Zukunft nur noch bewaffnet mit einem Tränengasspray in den Abendausgang gehen soll - und verwirft diese Idee schnell wieder als «absurd». Trotzdem ist sie sich sehr wohl bewusst, dass sie nie wieder so unbekümmert wie vor dem Überfall durch das nächtliche Zürich spazieren wird. Sie wird öfter als bisher ein Taxi nehmen oder jemanden bitten, sie bis vor die Haustür zu fahren. Einsperren lassen wird sie sich nicht. Und den 17. September will sie auch nicht zum «schwarzen Tag» erklären, der sie ein Leben lang belasten wird.


Wie schützt man sich gegen Verbrechen?

- Es ist sehr wichtig, dass Sie schon im Alltag wachsam und aufmerksam sind. Viele Gefahren lassen sich im voraus erkennen und vermeiden. Trauen Sie auch Ihrem Gefühl, meistens täuscht es nicht.
- Planen Sie Ihre Wege, seien Sie sich Ihrer Umgebung bewusst. Meiden Sie dunkle Orte. Beurteilen Sie Plätze und Strassen auf Notsituationen hin: Hat es Restaurants, Kinos, Taxistände, Telefonzellen, Wohnungen? Sind Strassen und Plätze beleuchtet?
- Wenn Sie unübersichtliche Torbögen, Hauseingänge, Parkränder passieren, gehen Sie eher am Rand des Trottoirs oder am Rand der anderen Strassenseite.
- Wenn Ihnen ein Auto- oder Motorradfahrer folgt, ist es wirksam, die Strassenseite zu wechseln. Bitten Sie eine andere Person um Begleitung.
Wählen Sie im Zug den Wagen, der von weiteren Fahrgästen besetzt ist, oder setzen Sie sich in die Nähe einer Frau. Merken Sie sich, in welche Richtung der Kondukteur gegangen ist.
- Stehen Sie im Lift immer an den Bedienungsknöpfen, und drücken Sie im Notfall alle Knöpfe. Der Lift hält dann in jedem Stockwerk.
- Lassen Sie sich nicht von fremden Personen provozieren. Schauen Sie potentiellen Gewalttätern in die Augen, und fragen Sie mit fester Stimme, was sie wollen. Demonstrieren Sie Selbstsicherheit.
- Werden Sie angegriffen, dann verharren Sie nicht in der Opferrolle. Werden Sie zur Gegnerin, dann haben Sie eine reelle Chance, die Oberhand zu gewinnen.
- Im Fachhandel kann man eine Reihe von Selbstverteidigungsmitteln kaufen, so zum Beispiel stinkende Flüssigkeiten, Farbsprays, Schrillalarme, Pfeffersprays und Tränengas. Sie können zudem einen Selbstverteidigungskurs besuchen.
- Stets einen faustgrossen Stein mit sich führen, um im Falle eines Angriffs eine Fensterscheibe einzuwerfen. Klirrendes Glas und der Ruf «Feuer!» veranlasst den Täter meistens zur Flucht.


Was tun nach einem Gewaltverbrechen?

Trotz aller Vorsichtsmassnahmen, die sich ergreifen lassen, gibt es immer wieder Verbrechen gegen Frauen. Werden Sie Opfer eines Übergriffs, halten Sie sich an folgende Ratschläge:
- Wenden Sie sich sofort an die nächste Polizeistelle oder an die Notrufnummer 117.
- Können Sie sich (noch) nicht zu einer Anzeige entschliessen, wenden Sie sich an eine von Ihrem Kanton anerkannte Beratungsstelle. Diese wird sich für Sie einsetzen und Ihnen Hilfe leisten. Sie übernimmt auf jeden Fall die erste psychologische Beratung und vermittelt soziale, medizinische oder juristische Hilfe. Sie empfiehlt Ihnen geeignete Fachpersonen. Sofern notwendig, begleitet Sie eine Person der Beratungsstelle zu Einvernahmen, zu einer ärztlichen Untersuchung oder zum Anwalt.

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© Barbara Lukesch