Gemeinsam auf den letzten Weg

Doppelsuizid / 9. Mai 2007, "Annabelle"

Symbolbild zum Thema Alter

Liebe bis zum Schluss: Nicht selten entschliessen sich ältere Paare, gemeinsam in den Tod zu gehen. Bei den Angehörigen ist vor allem der Wunsch gross, das Geheimnis zu lüften, das hinter einem Doppelselbstmord steckt.

Etwas stimmte nicht. Zwar hatten sich ihre Eltern bei ihr für eine längere Italienreise verabschiedet, aber es beunruhigte Martha W. (Name geändert), dass sich die beiden seit einiger Zeit nicht mehr bei ihr gemeldet hatten. Immer wieder stellte sie die Handynummer ihres Vaters ein – vergeblich. Schliesslich rief sie die Nachbarn ihrer Eltern an. Und erfuhr, dass ihr roter Toyota vor dem Haus stand. Dabei wollten sie doch mit dem Auto in die Ferien fahren. Martha W. legte den Hörer auf und lief zum Bahnhof.

Als sie die Wohnungstür ihrer Eltern aufschloss, schlug ihr ein scheusslicher Geruch entgegen. Sie zwang sich weiterzugehen, durchquerte Küche und Stube und betrat zuletzt das Schlafzimmer. Ihre Mutter und ihr Vater lagen friedlich vereint, aber gezeichnet von der bereits fortgeschrittenen Verwesung auf dem Ehebett. Martha W.s Blick fiel auf ein kleines Notizbuch und einen Briefumschlag, die auf einem der Nachttische lagen.

Der Tod als Erlösung

Sie öffnete das Buch, in dem ihre 69-jährige Mutter von der grossen Liebe zu ihren Töchtern schrieb, aber auch von ihrem frei gewählten gemeinsamen Tod, der einer Erlösung gleichkomme. Dick unterstrichen war die Aufforderung, auf jeden Wiederbelebungsversuch zu verzichten. Auch von einer Beerdigungsfeier sei abzusehen, und für den Fall, dass Marthas im Ausland lebende Schwester in die Schweiz kommen und im Haus der Eltern übernachten würde, liege frische Bettwäsche im Schrank des Gästezimmers. Martha W. konnte es kaum fassen: Noch angesichts des Todes war ihre Mutter die perfekte Hausfrau geblieben, die sie immer gewesen war.

Im Brief dann die Abschiedsworte des Vaters. Er habe sich für den Freitod entschieden, schrieb er, weil er als 75-Jähriger sein Leben gelebt habe und keine Zukunftsperspektiven mehr sehe. Martha W. war wie versteinert. «Es war ein Schock», erinnert sie sich, «am selben Tag Vater und Mutter auf so fürchterliche Art zu verlieren.»

Rund 500 Menschen, die 65-jährig und älter sind, töten sich Jahr für Jahr in der Schweiz selber, darunter überdurchschnittlich viele Männer über siebzig. Die Betroffenen setzen ihrem Leben ein Ende, weil sie ihrer alters- oder krankheitsbedingten Beschwerden müde sind, unter Depressionen und den damit einhergehenden Gefühlen von Sinn- beziehungsweise Nutzlosigkeit leiden. Aber auch wenn der Partner stirbt, ist die Gefahr gross, dass der Überlebende vereinsamt und mit seinem Leben nicht mehr zurechtkommt. So sagte der 90-jährige Zürcher Psychoanalytiker Paul Parin vergangenes Jahr in einem «Weltwoche»-Interview, dass er nach dem Tod seiner Frau Goldy «den Gedanken an Selbstmord sehr ernst genommen und lange abgewogen» habe und «die Möglichkeiten, sich umzubringen oder sich umbringen zu lassen, ernstlich geprüft». Er habe sich letztlich für das Weiterleben entschieden, weil seine «lieben Freunde und Freundinnen, auch die aufgeklärtesten, unreligiösen und scheinbar ungebundenen, (einen Selbstmord) als Schlag empfunden hätten».

"Wir wollen gemeinsam gehen"

Dass Paare gemeinsam in den Tod gehen, stellt zwar die Ausnahme dar. Aber es kommt immer wieder vor. Ein bekannter Fall war das Ehepaar aus einer Basler Chemikerfamilie, das sich Mitte der Neunzigerjahre gemeinsam vergiftete – sie waren beide hochbetagt. Ebenfalls über neunzig war ein Ehepaar aus dem Solothurnischen, das eine tödliche Substanz einnahm. Die Ehefrau war sehr krank. «Wir sind unser ganzes Leben zusammen gewesen und wollen auch gemeinsam gehen», hatten die beiden vor dem gemeinsa-men Freitod angekündigt. In der Todesanzeige verabschiedeten sie sich mit: «Um unsere Trennung zu vermeiden, haben wir unseren Kindheitsbeschluss von 1927 befolgt und unser einmalig schönes und interessantes Leben freiwillig, glücklich und geistig okay zusammen beendet.»

Gerade in Todesanzeigen stösst man immer wieder auf Doppelsuizide von älteren Menschen, die mal offener, mal verschlüsselter kommuniziert werden. Dann heisst es beispielsweise: «Zusammen haben wir gelacht, gehofft, gelitten und geweint. Zusammen haben wir uns jetzt auf den letzten Weg gemacht.» («Tages-Anzeiger», 2003) Oder: «Wenn Herzen müde geworden sind, ist es Zeit, sie ziehen zu lassen. (…) Traurig und betroffen versuchen wir, den Wunsch unserer Eltern zu respektieren.» («Tages-Anzeiger», 2006)

Der Pfarrer Werner Kriesi, der bis vor kurzem das Team der Freitodbegleiter bei Exit leitete, war regelmässig mit Paaren konfrontiert, die sich für einen gemeinsamen Tod entschieden hatten und den Plan auch in die Tat umsetzten. Einzelne Paare, so Kriesi, hätten dank Beratung von ihrer ursprünglichen Absicht Abstand genommen. In einigen Fällen sei dann jeweils die Person aus dem Leben geschieden, deren Leiden schlimmer gewesen sei. Nicht selten sei der überlebenden Partner aber kurze Zeit später ohne Hilfe von Exit gestorben. «Es gab auch einige wenige», erinnert sich Werner Kriesi, «die über den Tod des Partners hinwegkamen und wieder einen Sinn in ihrem Dasein fanden.»

Romantische Fantasien

Doppelsuizide erregen besonderes Aufsehen. Ihnen haftet etwas Dramatisches an, das über die Wirkung der Selbsttötung einer einzelnen Person hinausgeht. Zum einen lösen sie romantische Fantasien von grossen Liebenden aus, die nicht ohne den anderen leben mögen. Zum anderen stellt sich in manchen Fällen aber auch die Frage, ob sich hinter dem so genannten Doppelsuizid womöglich ein Mord mit anschliessender Selbsttötung verbirgt. Als die deutsche Pazifistin und Grünen-Politikerin Petra Kelly und ihr Lebenspartner Gert Bastian 1992 tot aufgefunden wurden, erschossen mit der Dienstpistole des ehemaligen Bundeswehrgenerals, lautete die offizielle Version zwar Doppelselbstmord. Alice Schwarzer aber kam in ihrer akribischen Buchrecherche «Eine tödliche Liebe» zum Schluss, dass der 69-Jährige seine knapp 25 Jahre jüngere Partnerin gegen ihren Willen getötet und dann sich selbst umgebracht habe.

Der Wunsch, das Geheimnis zu lüften, das sich hinter einem Doppelselbstmord verbirgt, ist vor allem bei den Angehörigen gross. Auch Martha W. wollte verstehen, was ihre Eltern zu dem radikalen Schritt getrieben hatte. Auf ihrer Spurensuche erinnerte sie sich, wie ihre Eltern von einem Versprechen erzählten, das sie sich kurz nach ihrer Hochzeit gegeben hatten. Sie seien ein so glückliches Paar, sagten sie damals, dass sie dereinst auch gemeinsam in den Tod gehen wollten.

Die Ehe von Hans und Susanne W. galt tatsächlich lange Zeit als mustergültig. Er war ein erfolgreicher Unternehmer, sie eine engagierte Hausfrau und den zwei Töchtern eine liebevolle Mutter. Doch fünf Jahre vor ihrem Tod war es zu einer schwer wiegenden Krise gekommen, weil sich Hans W. in eine jüngere Frau verliebt hatte und ausgezogen war. Susanne W. war verzweifelt. Die damals fast 65-Jährige hatte Mühe, sich nach fast fünfzig Jahren Beziehung ohne ihren Mann im Alltag zurechtzufinden, und plante, so bald wie möglich in eine Alterswohnsiedlung umzuziehen. Hans W. genoss zwar das Zusammensein mit seiner Geliebten, aber er litt auch unter schweren Schuldgefühlen gegenüber seiner Frau. Gleichzeitig wurde bei ihm eine Krebserkrankung diagnostiziert, die zwar nicht geheilt, aber gut behandelt werden konnte.

Es waren Abschiedsbesuche

Martha W. litt sehr unter der Trennung ihrer Eltern. Umso mehr freute es sie, als es wieder zu einer Annäherung zwischen ihren Eltern kam. Die beiden unternahmen verschiedene Reisen ins Ausland, trafen Verwandte und Freunde, darunter auch Marthas Schwester und ihre Familie in Kanada. Als sich Martha W. an diese vermeintlich glückliche Zeit im Leben ihrer Eltern erinnerte, wurde ihr plötzlich klar, dass diese Aktivitäten bereits Teil des sorgfältig vorbereiteten Doppelsuizids waren: «All das waren Abschiedsbesuche», erzählt sie, «nur ahnte niemand etwas vom traurigen Hintergrund der Treffen.»

Ebenfalls erst im Nachhinein realisierte sie, dass ihre Eltern mit der angekündigten Reise nach Italien eine falsche Fährte gelegt hatten. Sie wollten unbehelligt sterben und sicherstellen, dass sie nicht vorzeitig entdeckt wurden. Ihr Plan, rekonstruierte Martha W., hatte offenbar vorgesehen, dass die Putzfrau sie spätestens acht Tage nach ihrem Ableben finden würde.

Was sie bis heute nicht zu klären vermochte, ist die Frage, wer von beiden die Initiative ergriffen hatte. War es ihr Vater, der Angst vor einem Fortschreiten seiner Krebserkrankung hatte und sich, aber auch seine Umgebung vor langem Leiden bewahren wollte? Und war ihre Mutter – zwar einsam und unglücklich, aber erst 69-jährig und kerngesund – wirklich bereit gewesen, ihrem geliebten Mann in den Tod zu folgen? Bei Exit nimmt man dieses Problem ganz besonders ernst. Um zu verhindern, dass eine Person im Schlepptau der anderen, letztlich also unfreiwillig, in den Suizid gezogen wird, beauftragt man bei Paaren, die gemeinsam sterben wollen, stets zwei Ärzte. Sie sollen unabhängig voneinander den Mann und die Frau medizinisch untersuchen und zu ihrer Lebenssituation befragen. Nur wenn sie feststellen, dass beide Partner eine schwer wiegende Krankheitsdiagnose haben, dazu urteilsfähig sind und über einen «freiwilligen, dauerhaften Sterbewunsch» verfügen, verschreiben sie das tödliche Medikament.

"Wir sind strikt gegen Versteckspiele"

Dazu pocht Exit, so Werner Kriesi, auf volle Transparenz gegenüber den nächsten Angehörigen. Es sei nicht entscheidend, ob die Familie den Sterbewunsch vom Vater, der Mutter oder beiden akzeptiere. Letztlich gelte das Selbstbestimmungsrecht des Sterbewilligen. «Doch angesichts der emotionalen, aber auch praktischen Folgen, die ein Doppelsuizid für die Verwandten mit sich bringt», führt Werner Kriesi aus, «sind wir strikt gegen Versteckspiele in einer so existenziellen Frage.»

Martha W. hat erfahren, was es heisst, völlig unvorbereitet mit dem Doppelsuizid der Eltern konfrontiert zu werden. Da war zunächst der erschütternde Leichenfund, der sie regelrecht traumatisierte. Noch am selben Tag wurde sie von der Polizei einvernommen und fühlte sich behandelt wie eine Kriminelle. Sie wusste zwar, dass dieses Prozedere bei jedem ausserordentlichen Todesfall, also auch einem Selbstmord, routinemässig abläuft, schrecklich sei es trotzdem gewesen.

Erst nach der Obduktion beider Leichen in der Gerichtsmedizin stand der Doppelsuizid durch eine Überdosis Schlaftabletten zweifelsfrei als Todesursache fest, und Martha W. konnte Angehörige, Freunde und Bekannte informieren. Dabei stellte sie fest, dass Selbstmord, und dazu noch ein doppelter, weiterhin ein tabuisiertes Thema ist, das viele Menschen überfordert. «Die einen waren so beschämt, dass sie kaum mit mir reden konnten», erinnert sie sich, «andere zeigten übertriebenes Mitleid und machten vor allem meiner Mutter Vorwürfe, die ihren Kindern so etwas antun konnte. Dritte fanden den Schritt aber auch mutig und gratulierten mir zu meinen tollen Eltern.» Unabhängig von diesen Reaktionen entschied sie sich in der Todesanzeige für Offenheit und schrieb: «Susanne und Hans W. sind gemeinsam aus dem Leben gegangen.» Sie liess die Leichen kremieren, verzichtete aber auf eine Beerdigung, weil sich die beiden das so gewünscht hatten.

Anschliessend musste sie das Haus der Eltern räumen, verkaufen und unzählige administrative Dinge erledigen. Erst nach und nach spürte sie ihre eigene Trauer über den Verlust. Hätte es in ihrer Hand gelegen, fragte sie sich manchmal, den Tod der Eltern zu verhindern? Letztlich kam sie zum Schluss, dass ihr Todeswunsch zu stark war. Sie hätte dem nichts entgegensetzen können.

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© Barbara Lukesch