Wie der Tod die Schweizer Spitäler überfordert

Ausgeblendetes Thema / 10. Oktober 2002, "Die Weltwoche"

Symbolbild zum Thema Alter

Irene B., 59, Kunsthistorikerin, lebt seit sechs Jahren mit der Diagnose Krebs. Sie sagt: «Ich betrete eine Privatklinik in Zürich, checke an der Réception ein und habe das Gefühl, in der Lounge eines Luxushotels zu stehen. Ein Barpianist spielt diskrete Backgroundmusik, und ich werde von einer Hotelfachassistentin in einer schicken Berufsuniform in Empfang genommen. Käme ich zu einem kleineren operativen Eingriff hierher, würde mich die gepflegte Ungezwungenheit wohl beruhigen. Weil ich jedoch mit einer ernsthaften Diagnose belastet bin, komme ich mir an diesem Ort fehl am Platz vor.»

Irene B. hat sich in ihrem Leben schon immer sorgfältig auf spezielle Situationen vorbereitet. So nahm sie, als sie schwanger war, an Geburtsvorbereitungskursen teil, übte das Atmen und besuchte die Gebärabteilung jener Spitäler, in denen sie ihre drei Kinder auf die Welt brachte. Wenn sie sich nun aufs Sterben vorbereiten will, stellt sie fest: Ein vergleichbares Angebot existiert hierzulande nicht. Wer sich in einem Krankenhaus die Frage erlaubt: «Wie stirbt man eigentlich bei Ihnen?», landet in der Nekrophilenecke. Eine erfahrene Krankenschwester reagierte entsetzt: «Solche Gedanken müssen Sie doch nicht haben! Mein Gott, so etwas hat noch nie jemand gefragt!» Dann eilte sie zum Rapport und berichtete aufgeregt, auf Zimmer 34 liege eine Frau mit einem riesigen Problem.

60% sterben im Krankenhaus

Der Tod überfordert die Spitäler, obwohl nahezu sechzig Prozent der Menschen in einem Krankenhaus sterben. Die Kliniken werben in den Tageszeitungen mit grossen Inseraten für ihre Gebärabteilungen, preisen ihre Herz- und Rheumazentren an, laden ein zu Tagen der offenen Tür und stellen dem interessierten Publikum ihr fachkundiges Personal vor, das die Patienten respektive «Klienten» oder «Kundinnen» begleitet. Den Tod aber blenden sie aus. Wer beispielsweise auf der Homepage der Hirslanden Holding mit ihren zwölf Privatkliniken nach den Begriffen «Sterben» oder «Tod» sucht, findet keine Zeile.

Ende Juni starb der Ehemann einer bekannten Schweizer Geschäftsfrau. Er war krebskrank und bat knapp zwei Wochen vor seinem Tod darum, ins Spital verlegt zu werden. Als er zuletzt alle therapeutischen Massnahmen ablehnte und nur noch nach Schmerzmitteln verlangte, liessen sich die Ärzte kaum mehr in seinem Zimmer blicken. «Als es ans Sterben ging», sagt seine Frau, «war ich völlig auf mich allein gestellt.» In ihrer Angst habe sie verzweifelt eine Ansprechperson im Spital gesucht, um zu fragen, wie sie sich das Sterben ihres Mannes vorstellen müsse. Das Personal jedoch blockte sie zuerst sanft, dann immer energischer ab. Und sie lernte: «Kein Mensch im Krankenhaus nimmt die Wörter ‹Sterben› und ‹Tod› in den Mund.» Hilfe fand sie erst im Buch «Wie wir sterben» des amerikanischen Mediziners Sherwin B. Nuland, der präzis und sachlich informiert, wie man an welcher Krankheit stirbt.

Warum wird das Sterben ausgerechnet in den Spitälern dermassen tabuisiert? Die Berner Soziologin Ursula Streckeisen hat im Rahmen einer Nationalfondsstudie in einer Schweizer Universitätsklinik monatelang zum Thema «Die Medizin und der Tod - Berufliche Strategien zwischen Klinik und Pathologie» geforscht. Dabei wurde ihr bewusst, wie sehr die Ärzte in einem Rollenkonflikt stecken.

Gestorben wurde in der Regel zuhause

Ursprünglich war das Krankenhaus nämlich gar nicht als Ort zum Sterben gedacht. Die Menschen sollten dort in erster Linie kuriert werden, und die Ärzte verstanden sich ausschliesslich als Heiler. Gestorben wurde in der Regel zu Hause. Inzwischen sind die Spitäler unter Druck geraten, weil die Gesellschaft das Sterben zusehends delegiert. Dieser Situation trägt die Ausbildung von Ärzten und Ärztinnen indes noch keine Rechnung. Die Studierenden widmen sich Semester für Semester der Chirurgie, Pathologie, Infektiologie und Orthopädie. Das Thema Sterbebegleitung dagegen beschränkt sich auf wenige Tage. Professor Ruedi Lüthy, Aidsspezialist mit langjähriger beruflicher Erfahrung am Universitätsspital Zürich, sagt: «Wir sind ausgebildet als Diagnostiker und Therapeuten, lernen also, Krankheiten zu entdecken und zu heilen. Was uns aber fehlt, ist die Fähigkeit, mit schwer kranken oder gar sterbenden Menschen auf angemessene Art zu sprechen.» Die Kommunikation, so Lüthy, werde während der Ausbildung nicht gelehrt und im Spitalalltag nicht honoriert: Menschliche Zuwendung ist gemäss Krankenversicherungsgesetz keine kassenpflichtige Leistung.

Wer nahezu unvorbereitet ans Bett eines Todkranken gerufen wird, ist meist überfordert. Deshalb löst das Sterben eines Patienten bei Ärzten und beim Pflegepersonal Versagensängste aus. Herausragende medizinische Fachkenntnisse nützen nichts mehr, wenn es nur noch darum geht, da zu sein, auszuharren, eine Hand zu halten und Mitgefühl zu zeigen. Die Westschweizer Onkologin Noémi de Stoutz weiss aus ihrer langjährigen Spitalerfahrung, dass Todesfälle auf einer Abteilung bei Ärzten und Krankenschwestern «immer Schuldgefühle erzeugen». Das Unbehagen bekommen Mitarbeiter auf niedriger Hierarchiestufe zu spüren: «Meldet ein Assistenzarzt am Morgenrapport den Tod einer Patientin», sagt de Stoutz, «muss er damit rechnen, dass man ihn vorwurfsvoll und aggressiv befragt, wie es denn dazu kommen konnte - sogar dann, wenn sich die Frau im Endstadium einer Krebserkrankung befand.»

Der Tod: eine Niederlage fürs Personal

Weil der Tod das medizinische Personal jedes Mal mit einer Niederlage konfrontiert, «lauert im hektischen Heilbetrieb eines Akutspitals die Versuchung, unheilbar Kranke zu verlassen, innerlich und äusserlich», schreibt der Internist und ehemalige Chefarzt am Kantonsspital Luzern, Professor Frank Nager. Viele erliegen dieser Versuchung tagtäglich. Auch Ruedi Lüthy gibt zu, in seiner Zeit als Spitalarzt um die Zimmer der Sterbenden «einen grossen Bogen gemacht zu haben». Chefärzte schicken ihre Assistenten vor, um dort am Ende der Visite noch schnell nach dem Rechten zu sehen. Krankenschwestern ziehen mitunter Lose, um zu entscheiden, wer mit der jungen Krebspatientin «dran» ist. Dabei hätten alle Patienten Anrecht auf eine Arztvisite.

Die Spitäler spiegeln den Umgang der Gesellschaft mit Sterben und Tod. Die meisten Fünfzigjährigen haben in ihrem Leben zwar Hunderte von Fernseh- und Filmtoten gesehen, aber noch nie eine richtige Leiche. Das medizinisch längst widerlegte Märchen, Leichen seien giftig, veranlasst noch immer Familien, einen verstorbenen Angehörigen sofort ausser Hauses zu schaffen, statt ihn aufzubahren - man geht möglichst schnell auf Distanz. Leichenwagen oder Trauerkleidung, Symbole des Todes, sind weitgehend aus dem öffentlichen Leben verschwunden. Niemand wohnt gern in der Nähe von Friedhöfen, wo folglich eher Sozialwohnungen gebaut werden als luxuriöse Appartements.

Gemäss Geschäftsbericht der Hirslanden-Gruppe betreute der Spitalkonzern im vergangenen Jahr 68000 Patienten, beschäftigte 3000 Mitarbeiter aus 66 Ländern, berücksichtigte 750 Lieferanten und freute sich über 3200 «neue Erdenbürger». Die in ihren zwölf Privatspitälern Verstorbenen jedoch werden mit keinem einzigen Wort erwähnt. Spitalmanager Urs Brogli kann nicht einmal angeben, wie viele Menschen im vergangenen Jahr in den Hirslanden-Kliniken verschieden sind. Die Zahl sei «klein, ja, marginal».

Manipulation der Sterbestatistiken

Andere Spitäler versuchen, ihre Sterbestatistik niedrig zu halten, indem sie todkranke Patienten kurz vor dem Ende in andere Kliniken verlegen. Ruth Dual vom Dachverband Schweizerischer Patientenstellen weiss von etlichen Fällen, in denen Regionalkrankenhäuser «Sterbende noch schnell per Helikopter in eine Universitätsklinik transportieren liessen und damit einen Toten weniger in ihren Unterlagen hatten.» Bereits einen Schritt weiter sind die USA, wo der «Tod auf dem Transport» («Death on Arrival», kurz: DOA) als standardisierte Grösse eingeführt wurde. Sie hilft mit, die Spitalstatistiken zu schönen, fällt doch der Patient weder bei der einen noch bei der andern Klinik als Toter an.

Diese Verdrängung hat Gründe. Bis Ende der siebziger Jahre erlebte die Schulmedizin einen beispiellosen Siegeszug. Vor 150 Jahren wurde das Aspirin isoliert, fünfzig Jahre später das Morphin, 1916 das Insulin. In den zwanziger Jahren entwickelten Forscher die moderne Anästhesie. Man operierte am offenen Brustkorb und entdeckte noch vor dem Zweiten Weltkrieg das Antibiotikum Penicillin. In den fünfziger Jahren errangen die Ärzte mit Hilfe der Chemotherapie beachtliche Erfolge in der Behandlung von Krebspatienten. Führte etwa Hodenkrebs früher unweigerlich zum Tod, gilt diese Krankheit seit den siebziger Jahren als heilbar. Die Fortschritte dank moderner Technologien schienen unbegrenzt. 1982 hielt Ruedi Lüthy am Zürcher Universitätsspital, in einer «Anwandlung von Grössenwahn», wie er heute selber sagt, seine Antrittsvorlesung zum Thema: «Auf dem Weg zur Ausrottung der Infektionskrankheiten».

Während Wissenschaftler und Praktiker ein umfassendes Therapie- und Heilangebot entwickelten und von Erfolg zu Erfolg eilten, blieben die Bedürfnisse der Sterbenden nach psychosozialer Begleitung weitgehend auf der Strecke. Doch dann kam Aids und verwies die kurative Medizin in ihre Schranken. Lüthy erinnert sich, wie er, erschüttert vom Leiden der zumeist jungen Patienten und ihrem schnellen Sterben, hilflos dastand. «Kaum hatten wir ein Symptom der Krankheit knapp im Griff», sagt er, «tauchte schon das nächste auf, und wir konnten nur noch zusehen, wie die Menschen hinweggerafft wurden.» Therapeutische Erfolge liessen jahrelang auf sich warten, an eine Heilung oder Impfung ist noch heute nicht zu denken.

Aids als Prüfung

Aids wurde zur grossen Kränkung der Schulmedizin. Den Krebs hatte man zwar ebenfalls nicht besiegt, aber immerhin in eine chronifizierte Krankheit verwandelt. Mit Aids hielt nun plötzlich der Tod vieler junger Männer und Frauen in den Spitälern Einzug und zwang zumindest einen Teil der Ärzte und des Pflegepersonals, sich mit den Grenzen der Medizin auseinander zu setzen. Allerdings nur vorübergehend, denn mittlerweile lässt sich auch Aids behandeln, und die Sterbenskranken sind weitgehend aus den Spitälern verschwunden.

Auf der Suche nach einem Ort, an dem sie sich ihr Sterben vorstellen kann, macht Irene B. mitunter denkwürdige Erfahrungen. So fragte sie in einer anerkannten Privatklinik den Pflegeleiter der Abteilung Onkologie, ob ihr in ihren letzten Stunden gestattet würde, eine Kerze anzuzünden. Kerzen seien verboten, erwiderte der Pflegeleiter, und zwar aus feuerpolizeilichen Gründen und wegen der Rauchmelder, leider, sie müsse verstehen. «Wo schon ein so kleiner Wunsch auf taube Ohren stösst», sagt Irene B.,«bin ich zum Sterben am falschen Ort.»

In der Lukasklinik in Arlesheim, in der Tumorpatienten sowohl schulmedizinisch als auch nach den Erkenntnissen der anthroposophischen Medizin betreut werden, hat B. inzwischen erlebt, wie wohltuend es ist, wenn eine Ärztin offen über das Sterben, über Wünsche und Nöte redet: «Reden ist Balsam», sagt B., «Reden verbindet.» Die Lukasklinik ist kein Sterbehospiz, wie Pflegedienstleiter Christoph von Dach betont. Doch die Bedürfnisse von Sterbenden und ihren Angehörigen werden berücksichtigt.

So führt das Ableben eines Menschen weder zu hektischer Betriebsamkeit noch zu übertriebenen Hygienemassnahmen. «Bei uns zieht sich eine Krankenschwester nach dem Tod nicht automatisch Gummihandschuhe, eine Schürze und einen Mundschutz an», erklärt von Dach. Schliesslich habe man den Sterbenden Minuten zuvor auch noch mit blossen Händen berührt. Anders auch als in grossen Akutspitälern, in denen die Krankenzimmer oft innert Kürze wieder benötigt werden, lässt man sich in Arlesheim Zeit und räuchert die Zimmer mit Weihrauch aus, um die Atmosphäre zu klären. Um auch den Mitarbeitenden, die eine enge Beziehung zu Verstorbenen entwickelt hatten, die Möglichkeit zu geben, Abschied zu nehmen, hält man eine Woche nach dessen Tod eine kleine Feier ab, an der man sich seiner erinnert.

Palliativmedizin im Vormarsch

Weil Sterbende irgendwann keine Eingriffe und Therapien mehr brauchen, sondern vor allem Trost und die Linderung von Schmerzen, ist die so genannte Palliativmedizin entstanden. «Palliare» heisst den Mantel umlegen und steht in Abgrenzung zu «curare», dem heilenden Ansatz der Schulmedizin. Seit rund zwanzig Jahren wird «Palliative Care» auch in der Schweiz angeboten, zunächst in Spezialkliniken und Hospizen, inzwischen auch vereinzelt in Akutspitälern.

Die Bedürfnisse todkranker Patienten erfordern von einem Spital ein Mass an Flexibilität, das grosse Krankenhäuser überfordert, sagt die Onkologin Noémi de Stoutz, die während sechs Jahren die Palliativabteilung des Kantonsspitals St. Gallen leitete: «Ich hatte einmal einen Patienten, der wollte anstelle seines Nachttischchens einen Christbaum aufstellen. Ein anderer veränderte den Tag-Nacht-Rhythmus, liess sich frühmorgens von seiner Freundin Würste braten und schlief dann tagsüber. Eine Patientin sass einmal ganz unglücklich in ihrem Bett und studierte den Menüplan. Als ich sie fragte, was sie belaste, gestand sie, eigentlich habe sie auf gar nichts Lust. Selbstverständlich musste sie nichts essen. Wozu auch? Zum Sterben braucht man keine Kalorien. Für sie kam diese Freiheit einem kleinen Wunder gleich.»

Mit der Frage, wie Menschen in der Endphase ihres Lebens im Spital betreut werden sollen, haben sich im vergangenen Jahr nun auch die Berufsverbände der Schweizer Ärzte (FMH) und des Pflegepersonals (SBK) auseinander gesetzt. In einer gemeinsamen Erklärung machen sich die Standesorganisationen dafür stark, «dass eine bestmögliche medizinische und pflegerische Betreuung nicht nur Patienten zugänglich sein darf, die mit dem Ziel der Genesung, Prävention oder Rehabilitation behandelt werden, sondern auch all den Menschen, deren Zustand palliative Pflege erfordert». Weiterbildungskurse in «Palliative Care» werden seit geraumer Zeit von der Schweizerischen Krebsliga angeboten.

Die Rolle der Krankenschwestern

Doch das Interesse ist gering. Nur hundert von insgesamt mehr als 25'000 Ärzten und Ärztinnen haben bisher das Angebot genutzt. Allen Lippenbekenntnissen zum Trotz besteht in weiten Kreisen der Schulmedizin offenbar verbreitete Skepsis gegenüber der noch jungen Disziplin. «Brauchen wir das wirklich?», fragen Chirurgen und Onkologen. Viele sind immer noch der Meinung, dass man «zum Händchenhalten doch die Krankenschwestern hat».

Irene B. hat gerade wieder zwei Wochen Strahlentherapie hinter sich und sitzt zur Schlusskontrolle dem Arzt gegenüber, der sie behandelt hat. Sie erzählt ihm, wie sehr sie die erneute schlechte Diagnose getroffen habe, wie sie aber in den sechs Jahren seit ihrer Erkrankung gelernt habe, solche Situationen als neue Lebensaufgabe mit immer komplexerer Problemstellung zu betrachten. Wie sich dabei Angst abbaue und wie sich eine Art Neugier einstelle. So habe ihr Leben noch immer eine hohe Qualität.

Der Arzt ist ratlos. Wie soll er ihre Antworten auf sein Verlaufsblatt übertragen? Also fragt er nochmals nach: «Wie ist Ihre Verdauung? Haben Sie Schwindel? Schlafen Sie gut?» Sie kann ihn beruhigen: «Ich schlafe gut.»

Last Minute. Ein Buch zu Sterben und Tod. 100 Schwarzweiss Fotos. Hrsg. Stapferhaus Lenzburg, Hier + Jetzt, 2000. 303 S., Fr. 48.- Sherwin B. Nuland: Wie wir sterben. Ein Ende in Würde. Knaur TB, 1996. 400 S., Fr. 15.90

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© Barbara Lukesch