Verbreitete Angst vor Jobverlust

Arbeitsklima / 26. Oktober 2005, "Annabelle"

Symbolbild zum Thema Karriere

Die Ankündigung kam schriftlich und aus heiterem Himmel. Das 15-köpfige Team, hiess es, werde auf Ende Juni integral entlassen, habe aber die Möglichkeit, sich innerhalb der Firma neu zu bewerben. Eine kostenbedingte Restrukturierung mache diesen Schritt leider nötig.

Doris H. war eine der Betroffenen. Die 49-jährige Kaderfrau, die seit knapp zehn Jahren in dem Ostschweizer Detailhandels-Unternehmen angestellt war, realisierte schnell, dass die neuen Verträge Lohnkürzungen von über zwanzig Prozent vorsahen. Darüber hinaus sollte der dreizehnte Monatslohn gestrichen und die Spesenpauschale abgeschafft werden. Das ausschliesslich aus Frauen bestehende Team war geschockt. Gleichwohl schluckten die meisten die Kröte. "Hauptsache, ich habe Arbeit", sei der Satz der Stunde gewesen, erinnert sich die Kaderfrau. An Widerstand habe niemand ernsthaft gedacht.

Auch sie war bereit, die happige Lohneinbusse in Kauf zu nehmen. Gegen die Streichung des "Dreizehnten" und der Spesenpauschale wollte sie aber protestieren. Doch bevor sie dazu kam, rief sie ihr Vorgesetzter in sein Büro und eröffnete ihr mit knappen Worten, dass ihre Stelle gestrichen werde und man sie entlassen müsse. "Ich war wie vor den Kopf gestossen", sagt sie, "und verstand die Welt nicht mehr." Mehrere Wochen lang hatte man sie im Glauben gelassen, auch sie könne sich um eine Wiederanstellung bewerben, und nun realisierte sie, dass man sie mit diesem Schachzug nur ruhig gestellt und daran gehindert hatte, sich mit aller Kraft zu wehren und möglicherweise Unruhe zu stiften.

Behandelt wie eine Altlast

Nach einer ersten Phase, in der sie sich wie gelähmt fühlte, wurde sie von Wut ergriffen. Jahrelang hatte sie sich für ihren Arbeitgeber ein Bein ausgerissen, hatte Woche für Woche Überstunden geleistet, die ihr nie vergütet worden waren, war noch vor kurzem vom Personalchef in den höchsten Tönen gelobt worden - und jetzt das: Sie wurde behandelt wie eine Altlast, die es zu entsorgen galt.

Als ihre Kolleginnen von der Entlassung erfuhren, herrschten Empörung und Betroffenheit. Dass es ausgerechnet die langjährige Kaderfrau traf, die bei allen beliebt und bekannt für ihr grosses Engagement war, führte zu schweren Irritationen. Wer konnte sich denn seiner Stelle noch sicher sein, fragten sich die Frauen alarmiert, wenn selbst einer Top-Kraft wie H. aus heiterem Himmel gekündigt wurde? Misstrauen vergiftete das einst offene Betriebsklima, und Angst, bald selber auf der Abschussliste zu stehen, nistete sich ein.

Frauenbiografien beinhalten tatsächlich eine Reihe von Risiken, die sie in der aktuellen Wirtschaftslage besonders anfällig für den Verlust ihres Arbeitsplatzes und damit auch für Ängste und Gefühle von Unsicherheit machen. Zum einen beträgt ihre Teilzeitquote 60 Prozent, während jene der Männer nur 12 Prozent ausmacht. Damit stehen sie in Gefahr, dass ihre Stellen bei Restrukturierungen als erste gestrichen werden. Kommt dazu, dass sie in Branchen wie dem Detailhandel oder Gesundheitswesen, die unter rigorosem Spar- und Konkurrenzdruck stehen, mehr als die Hälfte der Arbeitnehmenden bilden. Verunsichert in hohem Masse sind auch alleinerziehende Mütter, aber auch ältere ledige oder geschiedene Frauen wie Doris H., die auf einen eigenen Lohn angewiesen sind. Deren Situation gleicht jener von Männern, die entweder auch allein stehen oder als "Ernährer" für eine ganze Familie verantwortlich sind und sich genauso mit Ängsten vor dem Stellenverlust plagen.

Tenor: "Wir fühlen uns schlecht und haben Angst"

Im Rahmen der Schweizerischen Gesundheitsbefragung des Bundesamts für Statistik aus dem Jahr 2002 waren sechzig Prozent der Befragten überzeugt, dass es für sie "schwer" oder sogar "sehr schwer" würde, nach einer Kündigung eine gleichwertige Stelle zu finden - ein klares Indiz für die Angst vor Arbeitsplatzverlust. Norbert K. Semmer, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Bern, weiss aus seiner Praxis, dass "nicht wenige Arbeitnehmende ein nagendes Gefühl von Unsicherheit quält." Sonia Regna von der Gewerkschaft Unia Basel sagt: "Die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, ist bei uns in der Beratung das Thema Nummer Eins." Sie sehe Menschen, die vor lauter Verzweiflung in Tränen ausbrechen. Kürzlich sei eine Ratsuchende gar in Ohnmacht gefallen. Als Peter Vonlanthen, Geschäftsleiter des Kaufmännischen Verbandes Zürich, kürzlich in der Mitgliederzeitung die Frage nach der Befindlichkeit am Arbeitsplatz stellte, wurde er von "Hunderten von Mails und Briefen" überschwemmt. Tenor: "Wir fühlen uns schlecht und haben Angst."

Diese Aussage überrascht nicht, wenn man bedenkt, dass allein dem Bankenpersonal in den letzten Jahren mit der Streichung von rund 30'000 Stellen gedroht wurde. Genauso nachvollziehbar ist die Verunsicherung der Angestellten im Detailhandel, die kürzlich mit der Nachricht konfrontiert wurden, dass im Lauf der nächsten Jahre mit der Einführung neuer Technologien Tausende von Kassiererinnen allein bei der Migros abgebaut werden. Sparmassnahmen und Redimensionierung machen aber schon lange auch vor dem staatlichen Personal nicht mehr Halt und ängstigen Menschen im Gesundheitswesen ebenso wie bei der SBB und in den kantonalen und städtischen Ämtern.

Angst dieses Ausmasses zeitigt Folgen. Wer jeden Morgen mit einem Druck auf der Brust aufwacht, ist gemäss einer Untersuchung der Universität Bern einem drei- bis vierfach erhöhten Risiko für die Entwicklung von Stress-Symptomen ausgesetzt. Die Anfälligkeit für Rückenleiden, Magen-Darm-Beschwerden und Herz-Kreislauf-Problemen erhöht sich. Dünnhäutigkeit, Reizbarkeit, Schlaflosigkeit und Erschöpfung können letztlich in Depressionen und Burn Out-Syndrome münden. Die Weltgesundheitsorganisation WHO prognostiziert, dass Depressionen bis zum Jahr 2020 zur "arbeitsbedingten Krankheit Nummer Eins" aufrücken werden.

Teufelskreislauf

Jörg K., 52, verheiratet und Vater von drei schulpflichtigen Kindern, geriet nach einer Entlassung in genau diese Spirale. K. hatte zwar wieder eine Stelle als Sachbearbeiter bei einer Versicherung gefunden, die seinen Qualifikationen entsprach. Als jedoch erste Gerüchte aufkamen, dass seine Abteilung redimensioniert werde, geriet er in Panik. Von jetzt an sass er jeden Tag bereits um sieben Uhr an seinem Pult und ging nie vor 22 Uhr nach Hause. Seine Kollegen beobachteten mit Argwohn, dass da einer immer mehr arbeitete und damit auch sie in Zugzwang brachte. Er wolle offenbar hoch hinaus, stichelten sie. Wenn die wüssten, dachte Jörg K. Aber den Mut, offen über seine Ängste zu reden, hatte er nicht. Stattdessen zog er sich immer tiefer ins Schneckenhaus zurück. Auch am Wochenende verschanzte er sich hinter Aktenbergen und war für seine Familie unansprechbar. Derweil kreisten seine Gedanken unentwegt um die Arbeit. Er bekam schwere Schlafstörungen und begann, am Abend zwei, drei Cognacs zu trinken und Medikamente zu schlucken.

Eines Tages eröffnete ihm dann sein Chef, dass er ihn in den Aussendienst versetzen werde. Jörg K., ein zurückhaltender, fast schüchterner Mann, erschrak zu Tode, wagte aber nicht, sich zu wehren. "Hätte ich nein gesagt, hätte ich gehen müssen", ist er überzeugt. Unter der Belastung einer Arbeit, die seinem Naturell zutiefst widerstrebte, wurde er depressiv und ist seit zwei Monaten krank geschrieben. Wie es weitergehen soll, weiss er nicht.

Jörg K. ist kein Einzelfall. Menschen, die zum Beispiel wegen ihres Alters oder ihrer schlechten Qualifikationen nur über eingeschränkte Chancen auf dem Arbeitsmarkt verfügen, sind heute bereit, viele Zumutungen widerspruchslos zu schlucken. Das reicht von Änderungen des Aufgabenbereichs über Lohnkürzungen bis zu unhaltbaren Erweiterungen des Pflichtenhefts oder Pensums: Nach Doris H.s Entlassung mussten ihre drei gleichrangigen Kolleginnen ihre Arbeit zusätzlich unter sich aufteilen - und das alles bei einer 20-prozentigen Lohnreduktion.

Angst macht krumm

Angst macht krumm. Kaum jemand wagt es, aufzubegehren und Widerstand zu leisten, schon gar nicht kollektiv. Kommt dazu, dass nur eine Minderheit gewerkschaftlich organisiert ist. Im Detailhandel beispielsweise nicht einmal fünf Prozent der Arbeitnehmenden. Doch selbst diese wagen es kaum noch, sich zu exponieren. Ein falsches Wort, eine missliebige Aktion, so die Befürchtungen, und schon ist man beim Vorgesetzten unten durch. Doris H. hatte als Mitglied der Gewerkschaft Syna vor einem Jahr erfolgreich Widerstand geleistet, als ihr Arbeitgeber erstmals eine Streichung des "Dreizehnten" durchdrücken wollte. Sie ist überzeugt, dass ihre Entlassung auch mit ihrem damaligen Engagement zusammenhängt: "Ich war nie eine Kopfnickerin", sagt sie mit Stolz, "und bin jetzt bestraft worden. Dafür kann ich aber auch heute noch in den Spiegel schauen."

Wer sich hingegen ständig duckt, um ja nicht aufzufallen, steht in Gefahr, die Selbstachtung zu verlieren. KV-Geschäftsleiter Vonlanthen weiss von Leuten, die sich von ihrem Vorgesetzten vorrechnen lassen, wie oft sie während der Arbeitszeit auf die Toilette gehen. Andere kommen zur Arbeit, obwohl sie Fieber haben und eigentlich im Bett bleiben müssten. Dritte schicken ihre Kinder in die Krippe oder den Hort, obwohl diese krank sind, weil sie selber nicht durch Abwesenheit ins Visier ihrer Ches geraten wollen. Die Arbeitspsychologie hat für dieses Phänomen einen Namen kreiert: Präsentismus (im Gegensatz zu Absentismus). Dessen Ausmass lässt sich an der Entwicklung des sogenannten "Krankenstands" ablesen, der Anzahl Tage, an denen Beschäftigte aus gesundheitlichen Gründen der Arbeit fernbleiben. In Deutschland ist der Krankenstand letztes Jahr auf rekordtiefe 3,4 Prozent gefallen, während er in der Hochkonjunktur Mitte der siebziger Jahre einen Spitzenwert von 6 Prozent erreicht hatte. Schweizer Zahlen liegen nicht vor. Sie sollen aber nach Angabe von Arbeitswissenschaftler Semmer in etwa den deutschen entsprechen.

Soviel Selbstausbeutung, Unterwerfung und Entwürdigung haben auch Konsequenzen für die Unternehmen. "Die Betroffenen sind nicht länger loyal gegenüber ihren Arbeitgebern, sondern entwickeln Ressentiments und Rachegefühle", sagt Semmer. Die Tendenz zum Dienst nach Vorschrift wächst. Gemäss einer aktuellen Erhebung des Marktforschungsinstituts Gallup sind bereits 80 Prozent der Arbeitnehmenden im beruflichen Alltag kaum oder gar nicht mehr engagiert. Produktivität, Kreativität und Innovationskraft ganzer Abteilungen sinken, was gemäss Gallup in der Schweiz zu volkswirtschaftlichen Einbussen in Milliardenhöhe führen wird. Laut Semmer nimmt auch die Zahl von Kleindiebstählen (wie Kugelschreiber oder Radiergummis) in den Firmen zu. Wer sich unbeobachtet fühle, überziehe die Pause. Andere liessen ihren verhassten Vorgesetzten bei erstbester Gelegenheit ins Messer laufen, indem sie ihm beispielsweise wichtige Informationen vorenthielten.

Bitterböse Rivalität statt Kollegialität

Unter solchen Bedingungen nimmt die Qualität des Arbeitsklimas stetig ab. Vordergründig werden die Teams zwar zusammengeschweisst, indem sich die Mitglieder solidarisieren und einander versichern: "Du wirst sicher nicht entlassen." In Tat und Wahrheit aber ist längst bitterböse Rivalität an Stelle von Kollegialität getreten, und jeder denkt still für sich: "Hoffentlich trifft es den anderen und nicht mich." Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) hat errechnet, dass in der Schweiz die direkten Folgen von Stress und Angst am Arbeitsplatz jährliche Kosten in der Höhe von 4,2 Milliarden Franken verursachen. Angesichts solcher Verluste müssten Arbeitgeber eigentlich daran interessiert sein, die lähmende Angst vor dem Jobverlust mit geeigneten Präventionsmassnahmen einzudämmen. Bekannt und wissenschaftlich erhärtet ist, dass allein schon die Art, wie in einem Unternehmen Kündigungen ausgesprochen werden, von zentraler Bedeutung für die Zurückbleibenden, die sogenannten "Survivors" (Überlebenden), ist. Wird die Kündigung von Kollegen als Akt der Willkür empfunden und noch dazu auf respektlose Weise kommuniziert, schädigt das die gesamte Belegschaft. Doris H. sagt: "Nach meiner Entlassung war unsere ganze Abteilung wie gelähmt. Inzwischen sind alle, die eine neue Stelle gefunden haben, von sich aus gegangen."

Gute Kommunikation ist entscheidend, wenn ein Unternehmen die Ängste seiner Mitarbeitenden ernst nehmen und eindämmen will. Als bei IBM weltweit Entlassungen ausgesprochen werden mussten, reagierte das IBM-Forschungslabor in Rüschlikon präventiv. "Wir haben mit unseren Mitarbeitern offen und ehrlich über Themen wie Arbeitsplatzunsicherheit oder Stellenabbau geredet", sagt Hans Hofmann, der Verantwortliche für den Bereich Human Resources. "Auch wenn wir niemandem eine lebenslange Stelle garantieren konnten und können, dienen solche Gespräche der Vertrauensbildung und lindern die Angst - die Leute wissen wenigstens, woran sie sind." Auch wegen dieser Kommunikationsleistung wurde IBM Rüschlikon 2004 mit dem Zürcher Preis für Gesundheitsförderung im Betrieb ausgezeichnet.

Grosse Nachfrage nach "Health Afternoon"

Swiss Re, die Zürcher Rückversicherung, erlebte im letzten Jahr eine besorgniserregende Zunahme von ärztlich diagnostizierten Burn Out-Fällen. Nach durchschnittlich zehn Fällen in den Vorjahren schnellte die Zahl im Jahr 2004 plötzlich auf über sechzig Betroffene hoch. Gemäss Helena Trachsel, Head of Diversity Management, führte in der Regel "ein explosiver Mix aus familiären, persönlichen und beruflichen Belastungen" zum "Ausbrennen". Da kommt zum Beispiel das zweite Kind auf die Welt, gleichzeitig steht eine Beförderung an und die eigenen Leistungsansprüche werden immer grösser. Bei Swiss Re spiele die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes eine geringere Rolle als die Befürchtung, intern versetzt zu werden und dabei einen Status- beziehungsweise Prestigeverlust zu erleiden, sagt Trachsel. Um Abhilfe zu schaffen, hat sie einen Health Afternoon eingeführt, an dem über Prophylaxe, Früherkennung und Behandlung von Burn Out informiert wird. Für den ersten Anlass meldeten sich 500 Firmenangehörige an.

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© Barbara Lukesch