Verdeckte Themen in Unternehmen und Organisationen

Firmentabus / 2. August 2001, "Die Weltwoche"

Symbolbild zum Thema Karriere

Der Zürcher Managementcoach und Unternehmensberater Werner Zbinden erhielt den Auftrag, die Organisationskultur in einem psychiatrischen Landeskrankenhaus in einer deutschen Stadt zu untersuchen. Die Verantwortlichen dieser Klinik sahen sich zum wiederholten Mal von einer Kündigungswelle überrollt, für die sie keine Erklärung hatten. Zbinden, der spezialisiert ist auf verdeckte beziehungsweise tabuisierte Themen in Unternehmen und Organisationen, führte zahlreiche Gespräche mit den Mitarbeitenden. Er bohrte, hakte nach - alles umsonst. Das Rätsel liess sich nicht ergründen.

Letztlich war es ein Zufall, der ihm zu Hilfe kam. Während einer Pause streifte er durch die Bibliothek des Hauses und stellte zu seiner Überraschung fest, dass die Chronik der Klinik eine Lücke aufwies: Die Jahrgangsbände 1933 bis 1945 fehlten. Nach dem Mittagessen schnitt Zbinden das Thema an, ohne sich dessen Brisanz bewusst zu sein. Er fragte in die Runde, ob irgendjemand eine historische Arbeit verfasse oder ob die fehlenden Bände für andere Zwecke gebraucht würden. Die Leiterin der Wäscherei atmete hörbar auf: "Endlich", seufzte sie, "endlich bringt jemand das Thema zur Sprache. Unser Krankenhaus war zu Zeiten des Nationalsozialismus eine Euthanasieklinik." Diese schreckliche Tatsache wurde allerdings mit aller Kraft verdrängt und lag wie ein Fluch über dem Haus, in dem es deshalb auch kaum jemand längere Zeit aushielt. Dank der Intervention der Wäschereileiterin war die Blockade gelöst, und Zbinden konnte seine Arbeit aufnehmen.

Schädliche Eigendynamik

Verdeckte Themen gehören zur Realität aller Unternehmen und Institutionen. Nach Schätzung von Fachleuten werden mindestens drei Viertel der relevanten Alltags- und Organisationsprobleme in ein firmeninternes Schattenreich abgedrängt, in dem sie nicht mehr offen kommunizierbar sind und damit eine unkontrollierbare, meist schädliche Eigendynamik entfalten. Statt an Sitzungen werden die "Aufreger" in der Kantine, in den Gängen, auf den Toiletten, in der Sauna oder am Rande eines Betriebsausflugs angeschnitten, dann aber meist heftig diskutiert. Am besten Bescheid über die Tabuzonen wissen in der Regel die Ehepartnerinnen und -partner der Beschäftigten. Denn im geschützten Rahmen der eigenen vier Wände wird Klartext geredet, gejammert und gewehklagt. Hier kommen die Führungsschwäche des Chefs, sein unflätiger Umgangston oder seine rassistischen Witze unzensuriert zur Sprache. Daheim wird Dampf abgelassen, um sich Erleichterung zu verschaffen. Gegenüber den Entscheidungsträgern in der Firma hingegen, die Handlungen auslösen und zugunsten des Gesamtunternehmens wirken könnten, wird das Ansprechen der tabuisierten Themen tunlichst vermieden.

Welche Gebiete "heiss" sind, erfassen die Firmenangehörigen instinktiv. Auch Neulinge haben dank entsprechender Reaktionen auf ihre Fehltritte (Stirnrunzeln, hämisches Grinsen, plötzliches Schweigen) innert Kürze kapiert, wo die Fettnäpfchen stehen. In die Tabuzone können die unterschiedlichsten Themen geraten, sagt Zbinden. Im einen Betrieb ist es die Alkoholsucht des Vorgesetzten, die das Klima unter den Mitarbeitenden vergiftet. Anderswo ist es die Liebesbeziehung zwischen der Personalverantwortlichen und dem Geschäftsführer, von der zwar alle längst wissen, die aber dennoch ein Geheimnis zu bleiben hat, welches dann zu Gerüchten, Irritationen und Spekulationen Anlass gibt: Kann Frau X eigentlich etwas oder wurde sie nur wegen ihrer Affäre mit dem Chef befördert? Darüber hinaus versuchen die meisten Unternehmen auch, die Widersprüche zwischen den in ihren Leitbildern hochgehaltenen ethischen Werten und dem im Firmenalltag praktizierten (und durchaus erwünschten) Verhalten ins Schattenreich des Verdeckten zu verbannen.

Narzisstische Firmen sind besonders gefährdet

Überdurchschnittlich viele verdeckte Themen hat Spezialist Zbinden in Unternehmen ausgemacht, die er als narzisstisch oder selbstverliebt bezeichnet. Dazu zählt er Firmen wie die Swissair, Migros, ABB oder die Zürich Versicherung, die über Jahre hinweg von der Vorstellung beseelt waren, sie seien die besten im Land, und die sich in der Folge gegen jede Kritik von innen und aussen abschotteten. So wurden innerhalb der Swissair kritische Äusserungen zur Hunterstrategie des ehemaligen Konzernchefs Bruggisser konsequent nicht aufgenommen oder sofort entwertet. Bei der Migros blieb das interne und externe Beratungspotenzial im Zuge der Österreich-Expansion ungenutzt - mit verheerenden Folgen. Das seien klare Hinweise darauf, so Zbinden, dass diese Unternehmen das organisationelle Lernen konsequent vernachlässigten und damit Gefahr liefen, ähnlichen Situationen auch in Zukunft ratlos zu begegnen.

Nimmt die Zahl verdeckter Themen in einem Unternehmen überhand, sind die Schäden unabsehbar. Statt ihre Energie produktiv zu nutzen, vergeuden die Mitarbeitenden einen erheblichen Teil, um sich gegen das Verdeckte abzuschotten. Das kann soweit führen, dass ganze Belegschaften nur noch mit unverständlichen Satzfragmenten und Kurzsätzen kommunizieren, aus Angst, es könnten ihnen sonst tabuisierte Inhalte entwischen. Wer nie offen sagen darf, was er wirklich denkt, riskiert gar, zu erkranken. Die Absenzen am Arbeitsplatz steigen, aber auch die Personalfluktuation nimmt zu: "Immer nur so tun, als ob alles bestens läuft, zermürbt die Menschen", konstatiert Zbinden. Erst machen sie nur die Faust im Sack und fluchen, zuletzt gehen sie oder "schützen" sich durch Krankheit oder eine innere Kündigung.

All das müsste den Verantwortlichen eigentlich Anlass genug sein, um sich vermehrt um das Aufdecken von Firmentabus zu bemühen. In etlichen Unternehmen ist man sich der Problematik denn auch bewusst. Bei einer grossen Schweizer Versicherung beispielsweise gelten Probleme wie Stress am Arbeitsplatz, Konkurrenzdruck und Krankheiten als heikle, nur schwer kommunizierbare Themen. Im Wissen um deren Ausmass und Brisanz werden sie nun aber seit einiger Zeit in gut besuchten Vorträgen des Vertrauensarztes aufs Tapet gebracht. Die Geschäftsleitung wird auf dem Laufenden gehalten, und sie kennt die betriebsinterne Krankheitsstatistik. Dennoch ist das Thema Stress auch in dieser Firma nach wie vor ein Tabu, wie Betroffene bestätigen, "denn kein Linienvorgesetzter hört je von seinem Untergebenen, er sei überlastet und ausgebrannt." Sobald ein Thema persönlich werde und Konsequenzen gefragt wären, werde weiterhin geschwiegen. Das Harmoniebedürfnis sei zu gross und der Mut zu bescheiden, um sich einem Konflikt mit dem eigenen Chef auszusetzen.

Doppeldeutige Botschaft

Andere Unternehmen ziehen externe Berater wie Zbinden bei und übertragen ihnen die Aufgabe, die dunklen Seiten der Firma ans Tageslicht zu befördern. Dieser weiss aus seiner langjährigen Erfahrung, dass solche Aufträge Gratwanderungen gleichkommen und oft paradox verlaufen: "Einerseits soll ich die Tabuthemen erkennen und ansprechbar machen, gleichzeitig aber ergeht an mich die verdeckte Botschaft, sie zu umgehen."

Werden über längere Zeit immer dieselben Themen verdeckt, sollen und können entscheidende Veränderungen in einem Unternehmen verhindert werden. Nur so konnte beispielsweise in einer Firma nach einer technologischen Umwälzung wochenlang unentdeckt bleiben, dass die Arbeit einer Abteilung von vierzig Personen gar nicht mehr notwendig war. In einem anderen Fall wurden Niederlassungen im Ausland wider alle betriebswirtschaftliche Vernunft während sieben Jahren weitergeführt, nur um zwei hochgeschätzte Führungspersönlichkeiten vor ihrer Pensionierung nicht zu brüskieren. Alle sagten zwar hinter vorgehaltener Hand: "So ein Wahnsinn". Aber niemand unternahm etwas.

Die Angst vor dem Aufdecken eines Firmentabus ist durchaus berechtigt, denn dieser Prozess birgt immer das Risiko von Gesichts-, Positions- oder Personalverlusten. Im Schweizer Gesundheitswesens kam es zum Streik des Pflegepersonals, als mutige Exponentinnen dem langjährigen Schweigen über die krasse Lohn- und Status-Asymmetrie zwischen Ärzten und Pflegenden ein Ende setzten. Die Migros wurde erschüttert und erntete Negativschlagzeilen, als die miserablen Löhne und Doppelverträge der Mitarbeitenden - eines der bestgehüteten Firmentabus - öffentlich und damit diskutabel wurden. Wird die Alkoholabhängigkeit eines Abteilungsleiters offiziell zum Thema, steht womöglich auch dessen Vorgesetzter plötzlich im Kreuzfeuer der Kritik und muss sich für die Bedingungen rechtfertigen, unter denen seine Untergebenen arbeiten müssen. Da schweigen doch lieber gerade alle.

Sobald die Konjunktur gut läuft und kein Mangel an Arbeitsplätzen besteht, bringen allerdings mutige Arbeitnehmende verdeckte Themen deutlich häufiger zur Sprache. Das sind Frauen und Männer, die über genügend Aggressivität und ein dickes Fell verfügen, das sie gegen die zu erwartenden Vorwürfe und Anfeindungen schützt. Denn damit müssen Tabubrecher rechnen, auch wenn sie letztlich mit ihrer Intervention zur Gesundung ihres Unternehmens beitragen.

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© Barbara Lukesch