Heimarbeit für Fortgeschrittene

Teleworking / 20. April 2000, "Die Weltwoche"

Symbolbild zum Thema Karriere

Eines Tages realisierte Bigna L. Furter, dass sie ihr wachsendes Arbeitspensum nicht mehr während der offiziellen Büropräsenzzeiten zu bewältigen vermochte. Sie wurde zusehends zur Freizeitarbeiterin, die ihre Abende daheim vor dem Computer verbrachte. Gleichwohl mass man sie primär an ihrer Präsenz im Büro. Dabei war sie als ausgesprochener Nachtmensch vor allem in den Stunden von 20 bis 24 Uhr kreativ und innovativ. Dieser Tatsache, befand sie, sollte sie Rechnung tragen. Schliesslich musste die alleinerziehende Mutter einer neunjährigen Tochter auch ihre familiäre Work-Life-Balance im Auge behalten.

So stellte Furter im Sommer 1998 bei ihrem Arbeitgeber, Swiss Re, Zürich, den Antrag auf "Teleworking im Home Office". Die 37jährige Kaderfrau wollte einen Tag Büropräsenz streichen und stattdessen einen Teil ihrer Aufgaben an einem mit Notebook und ISDN-Anschluss elektronisch komplett ausgerüsteten Heimarbeitsplatz erledigen. Von dieser Lösung versprach sie sich grössere Flexibilität und Effizienz sowie ein lustvolleres und stressfreieres Arbeiten.

Als Mitarbeiterin von Human Resources Shared Services und Teamleiterin des Bereichs Conditions, setzt sie sich unter anderem mit dem Thema der "flexiblen Arbeitsformen" auseinander. Folglich war sie prädestiniert, als weitere Pionierin das sogenannte "alternierendeTeleworking", den Wechsel zwischen Büro und Home Office, zu erproben. Mit ihrem Vorgesetzten im Direktionsrang hatte sie Glück: Er war selbst ein überzeugter Teleworker und unterstützte ihr Anliegen.

Präsenzzeitdenken dominiert

Im weiteren Umfeld war dennoch einiges an "Überzeugungsarbeit" nötig, erinnert sich Furter, um das neue Modell zu leben und zu verbreiten. Die Unternehmenskultur ist allen anderslautenden Bekenntnissen zum Trotz immer noch stark vom "Präsenzzeitdenken" geprägt. Vorgesetzte sind sich an die Möglichkeit des stets abrufbaren Direktkontakts mit ihren Mitarbeitenden gewohnt und einige wollen diesen auch in Zukunft nicht missen. Furter macht immer wieder geltend, dass sie dank Handy und E-Mail "24 Stunden erreichbar" sei.

Beanstandet man die zusätzlichen Kosten von drei- bis zwölftausend Franken, die mit der Einrichtung eines Home Office verbunden sind, verweist sie auf internationale Studien, die bei Teleworkern eine Effizienzsteigerung von bis zu dreissig Prozent nachgewiesen haben. Diese Zunahme an Produktivität resultiert nicht zuletzt daraus, dass viele Heimarbeitende die teils realen, teils vermeintlichen Zweifel an ihrer Tüchtigkeit - sie könnten sich daheim ja auch einen schönen Tag machen - mit Mehrarbeit zu zerstreuen suchen. Bigna L. Furter erging es nicht anders.

Inzwischen ist sie erfahren im Teleworking und überzeugt davon, dass es ihrem Arbeitgeber, ihr als Mitarbeiterin, aber auch als Privatperson sowie ihrer Tochter gleichermassen nützt. So arbeitet sie Mittwochs und an mehreren Abenden in ihrem Home Office. Dafür nimmt sie sich die Freiheit heraus, bei Bedarf am Mittwochnachmittag Besorgungen zu erledigen und für ihre Tochter präsent zu sein. An den übrigen vier Tagen kommt sie erst gegen 9.00 Uhr ins Büro. Dort widmet sie sich insbesondere all jenen Tätigkeiten, die den Direktkontakt mit Mitarbeitenden und Kunden voraussetzen, tauscht sich mit ihrer Stellvertreterin aus oder leitet die wöchentliche Teamsitzung, an der alle anwesend sind. Daheim nimmt sie Konzepte und schriftliche Arbeiten in Angriff, die oft mehrere Stunden und ein hohes Mass an Konzentration beanspruchen. Fern vom hektischen Büroalltag gelingt es ihr leichter, "langfristig und ganzheitlich zu denken".

Vertrauen als Voraussetzung

Heute üben bereits elf Mitarbeitende, das heisst rund ein Drittel der Abteilung Human Resources Shared Services, Teleworking im Home Office aus. Das neue Arbeitsmodell ist also zumindest in dieser Abteilung fest verankert und stösst, was ganz wichtig ist, sowohl im Team wie bei den Vorgesetzten auf Akzeptanz. Wer einen Antrag auf einen Heimarbeitsplatz stellt, bekommt diesen innerhalb von sechs Wochen installiert, immer vorausgesetzt , das Vertrauensverhältnis sei intakt, die Leistungsbereitschaft gegeben, und die Tätigkeit lasse sich unter den veränderten Rahmenbedingungen optimal erfüllen.

Insgesamt praktizieren zur Zeit rund 60 Swiss Re-Mitarbeitende alternierendes Teleworking, wobei sich ein Anteil von 20 bis 40 Prozent Heimarbeit als ideale Grösse nicht zuletzt zum Schutz vor sozialer Isolation herauskristallisiert hat. Annähernd gleich viele nutzen ihr Home Office, um phasenweise nebst voller Büropräsenz auch am Abend und Wochenende im Dienste des Unternehmens wirken zu können. Das sind die sogenannten Freizeit- oder Vielarbeiter, bei denen Teleworking nach Einschätzung von Eberhard Ulich, emeritierter ETH-Professor für Arbeitspsychologie, mit "der Gefahr der Selbstausbeutung" einhergehen könne. Im Wissen um diese Problematik wünscht sich Furter, dass sich möglichst viele dieser meist hochrangigen Vielarbeiter eines Tages für das alternierende Teleworking und damit auch für eine Work-Life- Balance-Kultur entscheiden würden.

Genau das ist nämlich einer der Gewinne, den die alternierenden Teleworker aus ihrer neuen Arbeitsform beziehen. Gemäss einer im letzten Sommer durchgeführten firmeninternen Untersuchung gelingt es ihnen besser, Beruf und Familie zu vereinbaren. Sie schätzen die grössere Arbeitsflexibilität, sind eindeutig produktiver und motivierter und geniessen den Zuwachs an Eigenverantwortung. Das liegt auch im Interesse von Swiss Re. Schliesslich verlangt die moderne Arbeitswelt zusehends nach "kreativen, selbstverantwortlichen und unternehmerisch denkenden Mitarbeitenden" (Merkblatt zu Teleworking). Darüber hinaus stellte sich heraus, dass Teleworking zu gleichen Teilen von Männern und Frauen betrieben wird. Es lässt sich auch unabhängig vom Rang praktizieren, figurierten doch immerhin 28 Prozent Kader- und 3 Prozent Direktionsangehörige unter den Antwortenden.

Home Office ist offizialisiert

Mit diesen Resultaten hat Bigna L. Furter starke Argumente zugunsten des alternierenden Teleworking in der Hand. Inzwischen ist diese Arbeitsform auch offiziell in die Allgemeinen Arbeitsbedingungen aufgenommen worden. Die "Möglichkeit eines Home Office" wird in einem Faltblatt für Stellenbewerber ausdrücklich erwähnt.

Dennoch halten sich die Vorurteile gegen das neue Modell vor allem in den Köpfen etlicher Führungskräfte trotz Globalisierung und Virtualisierung der Märkte hartnäckig. Was mag deren Widerstand auslösen? Der Unwille, sich auf etwas Neues einzulassen? Die Angst vor Machtverlust angesichts immer autonomer funktionierender Mitarbeitender? Oder die weitherum beschworene Sorge, von zusätzlichen Kosten überrollt zu werden?

Im letzten Herbst hat Furter in Absprache mit ihrem Team eine Sparmassnahme ergriffen, die ein weiteres Novum in der Gestaltung der Arbeitsplätze innerhalb von Swiss Re darstellt: Acht Mitarbeitende teilen sich vier Schreibtische; sie praktizieren das sogenannte Desk Sharing. Nicht zuletzt als Folge des zunehmenden Teleworking im Home Office drängte sich dieser Entscheid regelrecht auf, um die Bürofläche optimal zu nutzen. Die bisherigen Erfahrungen sind positiv. Furter: "Desk Sharing fördert unsere Flexibilität, Mobilität und das Teamwork." Auch Helena Trachsel, die Taten statt Worte-Verantwortliche von Swiss Re, praktiziert alternierendes Teleworking kombiniert mit Desk Sharing. Sie pflichtet Furter bei: "Wer keinen festen Arbeitsplatz hat, organisiert sich effizienter und gewinnt wohltuende Distanz. Das Büro wird nicht länger als Ersatzdaheim empfunden."

Reine Kostenmassnahme?

Genau an diesem Punkt aber macht Arbeitspsychologe Ulich Fragezeichen an dem neuen Modell: "Ich befürchte, dass sich in Desk Sharing-Einheiten eine grosse Heimatlosigkeit ausbreitet, die letztlich zu einer schwindenden Identifikation mit dem Arbeitgeber führt." In seinen Augen dienen die geteilten Schreibtische in den meisten Fällen zu nichts anderem als der Kostensenkung.

Daraus machen Unternehmen wie IBM oder Andersen Consulting, in denen Desk Sharing, teilweise kombiniert mit Teleworking, bereits etabliert ist, keinen Hehl. In der Beratungsfirma Andersen Consulting, in der dreihundert Mitarbeitenden lediglich hundert Büro-Arbeitsplätze zur Verfügung stehen, weist man allerdings daraufhin, dass die Art der Tätigkeit mit so viel Mobilität verbunden sei, dass gemäss einer internen Studie beträchtliche 75 Prozent der einst konventionellen Schreibtische nur temporär genutzt wurden. IBM Schweiz, das bereits Mitte der neunziger Jahre einen ersten Pilotversuch mit alternierendem Teleworking machte und heute nebst zweitausend Mitarbeitenden auf festen Arbeitsplätzen 1171 im Desk Sharing-Status beschäftigt, will ebenfalls sparen. Darüber hinaus kann die Firma aus einer Befragung zitieren, dass 95 Prozent ihrer Angestellten zufrieden oder gar sehr zufrieden sind, weil sie unter unterschiedlichen flexiblen Arbeitsplatz-Modellen gemäss ihren Bedürfnissen auswählen können. Professor Ulich geht deshalb davon aus, dass Organisationsformen wie alternierendes Teleworking Zukunft haben. Auch wenn heute erst drei Prozent der Schweizer Betriebe das moderne Heimarbeiten praktizieren, prognostiziert der Fachmann: "Dieses Modell wird sich noch weiter verbreiten."

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© Barbara Lukesch