Mut zur Kritik am Vorgesetzten

Ratschläge von Tom Voltz / November 1998, "Sonntags-Zeitung"

Symbolbild zum Thema Karriere

Tom Voltz ist Autor des Buches "Mut zur Kritik - Vorgesetztenbeurteilung einsetzen und durchführen".

Herr Voltz, wie erklären Sie es, dass die Selbsteinschätzung der Vorgesetzten und die Fremdeinschätzung durch ihre Mitarbeiter dermassen auseinanderklaffen?

Tom Voltz: Der Grund liegt darin, dass in Unternehmen keine Kommunikationskultur herrscht. Und das, obwohl in den meisten Firmenleitbildern vollmundig von Kommunikation die Rede ist. Doch die Realität spricht eine andere Sprache.

Welches Einzelergebnis der Untersuchung halten Sie für das bedenklichste?

Voltz: Dass nur ein Drittel der Mitarbeiter ihrem Chef ein "feines Gespür" für ihre Stimmung attestiert, während zwei Drittel der Vorgesetzten glauben, sie hätten es. Das halte ich für besonders schwerwiegend, weil derjenige Chef, der dieses "feine Gespür" wirklich hat, über ein Frühwarnsystem verfügt, dank dem er Missstimmungen rechtzeitig erkennen und etwas dagegen unternehmen kann.

Was sind die Folgen der grossen Kluft zwischen Fremdeinschätzung und Selbsteinschätzung der Vorgesetzten?

Voltz: Die Mitarbeiter erledigen zwar ihre Arbeit, werden sich aber je länger je mehr als menschlich fühlende Wesen abschalten. Ihre Wahrnehmung spielt ja eh keine Rolle. Krass ausgedrückt erleben sie sich als Zahnräder im Firmengetriebe. Das hat natürlich auch Konsequenzen für das Unternehmen. Man weiss ja inzwischen, dass Teams, in denen ein gutes Klima herrscht, mehr leisten wollen und können, weil sie Spass an der Arbeit haben.

Wie bewerkstelligen es Unternehmen, dass ihre Führungskräfte die Wahrnehmungen ihrer Untergebenen realistischer einschätzen können?

Voltz: Die sogenannte Vorgesetztenbeurteilung, in deren Rahmen Mitarbeiter ihre Chefs regelmässig qualifizieren, ist der erste Schritt dazu. Damit kommt die Wahrheit auf den Tisch, und eine Firma realisiert, möglicherweise zum erstenmal, dass sie ein Problem und damit Handlungsbedarf hat. Schritt für Schritt muss nun geklärt werden, woran es gelegen ist, dass Vorgesetzte ihre Wirkung auf ihre Untergebenen dermassen falsch eingeschätzt haben. Und schliesslich geht es darum, einen Veränderungsprozess einzuleiten.

Was ist letztlich das Ziel der Vorgesetztenbeurteilung?

Voltz: Das Ziel, das ich verfolge und das ich für das einzig legitime halte, ist, dass man sich in einem Unternehmen über die Hierarchien hinweg, frei von Mensch zu Mensch, unterhalten und in die Augen schauen kann. Hingegen darf die Vorgesetztenbeurteilung nicht zu einem Mittel werden, dank dem unliebsame Vorgesetzte 'abgeschossen' werden.

Wie verbreitet ist das Instrument der Vorgesetztenbeurteilung in Schweizer Unternehmen?

Voltz: Sehr wenig. Viele Unternehmen meinen zwar, bei ihnen werde es angewendet, weil in den jährlichen Qualifikationsgesprächen mit den Mitarbeitern auch die Frage gestreift werde, wie denn eigentlich der Chef so sei. Aber das ist eine Alibiübung und hat nicht im entferntesten etwas mit einer Vorgesetztenbeurteilung zu tun, die sehr differenziert und meiner Meinung nach anonym durchgeführt werden muss, damit sie ernstzunehmende Ergebnisse liefert.

Wieso lassen nur so wenige Unternehmen ihre Chefs von den Mitarbeitern beurteilen?

Voltz: Es wirkt auf den ersten Blick paradox, für ein Instrument teures Geld auszugeben, mit dem man primär eins will, nämlich die Fehler der Führungskräfte herausfinden. Davor haben die meisten Betroffenen Angst. Was sie aber noch mehr fürchten, sind die Konsequenzen, die nach einer Vorgesetzenbeurteilung gezogen werden. Mal angenommen, sie schneiden schlecht ab; dann werden sie notgedrungen ihr Verhalten ändern müssen. Wer macht das schon gern?

Angesichts der Einsamkeit auf den Chefetagen müssten die Führungskräfte doch regelrecht froh sein, dass sie dank der Vorgesetztenbeurteilung endlich einmal die Chance bekommen, aus ihrem Elfenbeinturm auszubrechen?

Voltz: Das stelle ich mir auch so vor. Ein Firmenchef wird ja von seinen Mitarbeitern, aber auch von den Medien oft auf einen Gottesthron gehoben und zum Allmächtigen emporstilisiert. Da sitzt er dann zwar oben, ist aber völlig allein und hat keinen einzigen Ansprechpartner mehr. Lässt er sich hingegen von seinen Mitarbeitern einschätzen, bekommt er ein Echo und kann den Zustand der Isolation durchbrechen. Er wird wieder als Mensch wahrgenommen, der halt wie alle anderen Menschen auch Fehler macht.

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© Barbara Lukesch