Unterwegs mit Günter Netzer

Fussballkommentator / 22. Mai 2002, "Annabelle"

Symbolbild zum Thema Sport

Die Kellner sind entzückt. "Guten Tag, Herr Netzer. Grüss Gott, Herr Netzer. Willkommen, Herr Netzer." Netzer grüsst freundlich zurück. Doch als er endlich den für ihn reservierten Tisch im Baur au Lac-Restaurant "Francais" erreicht, ist sein Lächeln zur Maske gefroren. Schluss jetzt mit dem Theater, sagen seine Gestik, Mimik und Körperhaltung. Netzer hasst nichts mehr, als wenn zuviel Aufhebens um seine Person gemacht wird. Der 57Jährige, der am Bildschirm so überlegen wirkt, dass das Fernsehpublikum in Ehrfurcht erstarrt, ist in Tat und Wahrheit so schüchtern, dass er sich selber ins Gebet nehmen muss, um einen Raum zu betreten, in dem sich bereits mehrere Menschen aufhalten. Würde er seinen innersten Regungen folgen, würde er auf dem Absatz kehrtmachen. Jetzt hat er, Gott lob, Platz genommen. Das vom Haus offerierte Cüpli schlägt er zwar schnöde aus und bescheidet sich mit einem Glas Mineralwasser. Doch als dann sein Lieblingswein, ein spritziger Dezaley, kredenzt wird, und auch das pochierte Steinbuttfilet seinen Vorstellungen entspricht, entspannt er sich schnell.

Günter Netzer ist ein Phänomen. Zeit seines Lebens reizte er die Menschen und Medien zur Idealisierung seiner Person. Selten wurden um einen Fussballer derart viele Legenden gesponnen wie um den blonden Deutschen. Er war ein hochtalentierter Spieler, ein begnadeter Techniker, der traumhafte Pässe schlug und wunderbare Freistösse schoss. Netzer war der Inbegriff des Spielmachers, der die Zuschauer in den Stadien in seinen Bann zog: elegant, stark, dominant, wenn es sein musste, auch eigenwillig und launisch. Er strahlte auf dem Feld Charisma aus, und wenn er verletzungsbedingt fehlte, war das Publikum frustriert.

Die Mär von der "gewaltigen Schuhgrösse"

Doch Netzer war noch viel mehr. Netzer war der Fussballer mit der langen Mähne, der Ferrari-Fahrer, der Mann, dessen damalige Freundin, eine Künstlerin, anders war als die durchschnittliche Spielerfrau. Kein Porträt von ihm, in dem nicht seine "gewaltige Schuhgrösse" erwähnt wurde, die sich den Gesetzen der Medien folgend von Jahr zu Jahr steigerte. Am Ende seiner Karriere trug Netzer Schuhe der Grösse 51. In Tat und Wahrheit lebt er auf relativ kleinem Fuss: Eine 44,5 tut es bereits.

Irgendwanneinmal entdeckten ihn die Feuilleton-Journalisten und erhoben ihn in den Stand eines Popstars, eines Abkömmlings der 68er Generation auch, der Unangepasstheit und politische Rebellion repräsentieren sollte. Netzer erklärte wieder und wieder, dass er lange Haare trug, weil ihn seine Freundin mit kurzen "bescheuert" fand, und nicht weil er eine weltanschauliche Botschaft verbreiten wollte. Er stellte x-mal klar, dass er kein politischer Mensch sei, sondern nur an Fussball interessiert. Egal. Sein Schicksal war längstens besiegelt, und er zum Non-Konformisten auserkoren. Widerstand zwecklos.

Heute ist Netzer wieder Kult. Als Fussballkommentator hat er sich innert weniger Jahre erst in der Schweiz, jetzt in Deutschland erneut den Status des Aussergewöhnlichen geschaffen. Netzer ist anders als alle anderen Ex-Fussballer und Trainer, die im TV-Studio artig neben dem Moderator stehen und den netten Experten abgeben. Netzer lächelt nie. Kein einziges Mal. Im Grunde genommen verzieht er überhaupt nie eine Miene. Einzig seine Lippen öffnen und schliessen sich, wenn er seine Eindrücke vom Spiel widergibt. Bitterernst, als gehe es um Leben und Tod. Manchmal streicht er sich mit einer winzigen Geste das weltberühmte Haar aus der Stirn. Mehr nicht. Das Kompliment, über das er sich am meisten gefreut hat, lautet: "Netzer hört auf zu reden, wenn es nichts mehr zu reden gibt." Ein Mann, ein Wort.

Günter Netzer und Gerhard Delling, sein ARD-Fernsehpartner, sind längst zum Dream Team aufgestiegen, das für höchste Einschaltquoten sorgt. Sie wurden mit dem begehrten deutschen Grimme-Preis ausgezeichnet, der bis anhin den Kollegen aus den Ressorts Kultur und Politik vorbehalten war.

"Reich-Ranitzki des Sportjournalismus"

Es macht aber auch Spass, das ungleiche Duo zu beobachten. Hier der selbstbewusste, frische Delling, der anders als viele Sportmoderatoren frei von jeder Anbiederung und Unterwürfigkeit auftritt. Da Netzer, der Grand Old Man des Fussballs, autoritär und unerbittlich in seinem Urteil selbst gegenüber den Grössten in der Branche. Mehr als treffend, dass er einst als "Reich-Ranitzki des Sportjournalismus" bezeichnet wurde.

Netzer ist ein unberechenbarer Gesprächspartner. Auch während unserem Mittagessen im Baur au Lac braucht es wenig, um ihn zu verstimmen. So reagiert er gereizt, wenn die Antwort, die er gibt, nicht ausreicht, wenn er um eine Präzisierung oder Ergänzung gebeten wird. Das zeigt er im Tonfall, aber auch mit Blicken, und man betet, dass diese Irritation nur eine vorübergehende sein möge. Er ist ein ungeduldiger Mensch und bekannt dafür, dass er auch ausrasten kann. Einfach so, aus der Laune einer Diva heraus. Seine Sekretärin hatte uns noch eine Stunde vor dem verabredeten Termin wissen lassen, dass Herr Netzer heute sauer sei. Das klingt alarmierend. Schliesslich weiss man, wie abweisend Netzer in solchen Momenten reagieren kann. Delling zeigt er dann die kalte Schulter und man könnte Mitleid mit dem ARD-Mann bekommen, wüsste man nicht, wie souverän dieser solche Situationen zu parieren vermag. Wir haben Glück. Netzer ist weder sauer noch sonstwie schlechtgelaunt. Über weite Strecken ist er für seine Verhältnisse sogar regelrecht redselig, dazu wohlwollend gestimmt.

Jetzt ist wieder Fussball-Weltmeisterschaft und damit die hohe Zeit für das Gespann, das, laut Netzer, "sensationell zusammenpasst." Während Delling im Vorfeld die Knochenarbeit zu leisten hat, steppt Netzer oft erst wenige Sekunden vor Spielbeginn ins Studio, nimmt Platz, schaut zu und sagt, was es zu sagen gibt. Erstaunlicherweise sind Netzer und Delling nicht in Japan und Südkorea vor Ort, sondern kommentieren das Spielgeschehen aus den ARD-Studiosesseln in Hamburg. Das sei schon während der WM in Frankreich und der Europameisterschaft in Holland so gewesen, erklärt Netzer, und kein Mensch habe es realisiert: "Also funktioniert es."

Einmaliger Rollenmix

Was offenbar auch funktioniert, ist Netzers Tanz auf verschiedenen Hochzeiten. Zum einen steht er in den Diensten der ARD, zum anderen ist er ein Angestellter der deutschen Kirch-Gruppe, die private TV-Stationen wie Premiere und Sat 1, mithin die direkte Konkurrenz der ARD, betreibt. Was aber alles noch schlimmer mache, konstatiert Netzer ungerührt, sei die Tatsache, dass die deutsche Fussballnationalmannschaft der wichtigste Geschäftspartner von Kirch sei und dass er die Deutschen innerhalb der ARD jeweils "kräftig durcheinanderfleddere", will sagen, unzimperlich kritisiert.

Keinem anderen als einem Netzer würde dieser Rollenmix, der schnell zu Interessenkollisionen führen kann, durchgelassen. Er zuckt mit den Achseln. Schliesslich habe er stets die Karten offen auf den Tisch gelegt, und alle Beteiligten hätten ja gesagt. So what. Kirch tue es zwar weh, dass er nicht für Sat 1 oder einen seiner Sender kommentiere, aber er finde, wenigstens mache Netzer es gut. Die deutsche Nationalmannschaft, die sich zunächst wirklich schwer getan habe mit seiner Doppelrolle, müsse sich von ihm die genau gleiche Kritik wie jedes andere Nationalteam gefallen lassen. Das sei er seiner Professionalität schuldig. "Sonst müssen die Deutschen halt besser spielen."

Zur Zeit, scheint es, kann sich Netzer fast alles erlauben. Der Erfolg gibt ihm recht. Bei der ARD läuft es rund, im Geschäft mit den Fussball-TV-Rechten wirkt sein Name immer noch als Türöffner, und seine Firma in Zug wirtschaftet hochprofitabel. Netzers Popularität ist inzwischen wieder fast so gross wie in seiner aktiven Zeit als Fussballspieler. Er steht auf dem Zenit einer langjährigen Karriere.

Dabei war er Mitte der achtziger Jahre mit seiner Frau Elvira, einem ehemaligen Fotomodell, in die Schweiz übergesiedelt, weil er nichts lieber wollte, als sein Leben in Abgeschiedenheit, fern von allen Medien, zu führen. "Ich brauche Popularität genauso sehr wie ein Loch im Kopf", wurde zu einem seiner Standardsätze. Netzer reagierte immer schon allergisch auf Menschen, die ihn auf der Strasse von hinten anfielen, ihm die Hand auf die Schulter schlugen, "aus der Idee heraus", höhnt er, "dass prominente Personen Allgemeingut sind, mit denen jeder machen kann, was er will."

Die Familie steht im Zentrum

In Zürich wurde ihm jene Diskretion und Zurückhaltung zuteil, die er sich gewünscht hatte: "Hier haben meine Frau und ich unser Refugium gefunden." Hier kam vor fünfzehn Jahren Alana, "das wunderbare Kind" zur Welt, und Netzer machte Ernst mit seinen Vorsätzen, die Familie ins Zentrum seiner Aktivitäten zu stellen. Nie sei er seit Alanas Geburt länger als drei Tage von zu Hause weg gewesen. Sätze dieser Art sagen doch alle Manager. Auf diese Entgegnung reagiert er mit heftigster Empörung: "Würde ich so etwas sagen, obwohl es nicht stimmt", ereifert er sich, "käme ich mir vor wie ein Schwein an mir selbst."

Nach glücklichen Jahren des Rückzugs und der Medienabstinenz trat Beni Thurnheer auf den Plan, und mit der Ruhe und Beschaulichkeit war es vorbei. Netzer fand es reizvoll, einen Match an der Seite eines Sportreporters zu verfolgen und zu kommentieren. Das Schweizer Fernsehpublikum war am Anfang zwar alles andere als begeistert, dass es ausgerechnet ein Deutscher war, der am heimischen Bildschirm Noten verteilte. Doch innert Kürze hatte Netzer den Widerstand gebrochen. Dass das Schweizer Fernsehen ihn vor vier Jahren zur ARD wechseln liess, bedauern noch heute viele. Dort hat man ihn, im Wissen um seine Anziehungskraft, mit einem langfristigen Vertrag ans Haus gebunden. Hätte er gewusst, seufzt Netzer, wie stark ihn seine Fernsehtätigkeit wieder ins Rampenlicht der Öffentlichkeit zurückkatapultieren würde, hätte er womöglich abgelehnt.

Das Essen neigt sich dem Ende entgegen. In diesem Moment nähert sich der Vizedirektor des Baur au Lac gemessenen Schrittes unserem Tisch. Als Netzer den Freund entdeckt, springt er auf und jubiliert: "Sei gegrüsst, mein Lieber. Welch eine Freude!" Eine herzliche Umarmung, Austausch von Neuigkeiten. Netzer ist aufgeräumt und locker. Ein anderer Mensch. Nur wer ihn einmal so erlebt hat, kann sich überhaupt vorstellen, dass er im privaten Kreis sehr viel lachen soll.

Gelächelt wird nicht

Zum Abrunden Kaffee und Konfekt. Netzer, der Kavalier alter Schule, der jeweils aufsteht, wenn eine Frau den Tisch verlässt, um auf die Toilette zu gehen, lässt es sich trotz energisch vorgetragener Proteste nicht nehmen, die Rechnung zu begleichen. Wir geben uns geschlagen und danken höflich.

Es gibt keine Situation, in der sich Netzer so unwohl fühlt wie beim Fotografiertwerden. Interviews? Wenn es denn sein muss. Aber Fotos? Auf keinen Fall. Er wusste im Vorfeld, dass diesmal keine Ausflüchte gelten, dass es kein "Unterwegs" ohne aktuelle Bilder gibt. Ganz der Profi, der er ist, macht er eine geschlagene halbe Stunde gute Miene zum lästigen Spiel, stellt sich in den Pavillon des Baur au Lac, posiert im Hotelgarten gegenüber dem Zürichsee, verlässt auch noch das hoteleigene Gelände, weil es der Fotograf so will. Gelächelt wird nie. Das hat sowieso niemand erwartet. Mit der Zeit nimmt dann aber sein Unwillen spürbar zu, seine Anspannung steigt. Jetzt klingelt sein Handy zum drittenmal. Um 16 Uhr hat er die nächste Sitzung in Zug. Der Abschied fällt speditiv, aber gleichwohl freundlich aus: "Hat Spass gemacht". Wir atmen auf, packen zusammen und stellen uns vor, wie Netzer in seinem Ferrari durch's Sihltal brettert.

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© Barbara Lukesch