Unterwegs mit Gilbert Gress

Trainer des FC Zürich / 28. Juli 2000, "Annabelle"

Symbolbild zum Thema Sport

Zu Beginn unseres Treffens mit Gilbert Gress steht der Wunsch, für einmal alles richtig zu machen. Schliesslich haben wir jetzt wochenlang Fehler an Fehler gereiht, haben unzählige Male zum falschen Zeitpunkt telefoniert und den frischgekürten FC Zürich-Trainer bei den Vorbereitungen auf den Cupfinal oder mitten im nervenaufreibenden Abstiegskampf gestört. Kurz angebunden wurden wir jeweils auf "heute abend", "morgen" oder "später" verwiesen, um uns dann erneut von einem gereizten Mann sagen zu lassen, dass wir wiederum ungelegen kämen: Er esse gerade. Er befinde sich im Training. Er stecke in einer Sitzung.

Eine unendliche Vorgeschichte, die man ja nicht persönlich nehmen durfte. Mit der Zeit konnten wir immerhin seine Handy-Nummer auswendig. Und siehe da. Eines Tages wurde unsere Hartnäckigkeit belohnt: Gilbert Gress war unversehens bereit, uns im Stadion Letzigrund in Zürich zu einem Interview zu empfangen. Möglicherweise hatte die Intervention eines ihm gut bekannten Sportjournalisten genützt. Vielleicht aber gefiel es ihm auch nur, dass die "Annabelle" ihn so ausdauernd umwarb. Gilbert Gress, stellen wir nämlich schnell einmal fest, ist alles andere als unempfindlich für Komplimente, Wohlwollen und Anerkennung.

Jetzt sind wir also da, etwas früher als abgemacht, um uns noch in Ruhe einzustimmen, und laufen unserem Gesprächspartner prompt zwanzig Minuten vor dem vereinbarten Termin über den Weg. Wir schlucken leer. Das darf doch nicht wahr sein. Doch wir haben Glück. Gress, der uns später erzählen wird, dass Ungeduld eine seiner ausgeprägtesten Eigenschaften ist, schätzt es geradezu, dass er sozusagen fliegend vom Training mit seiner Mannschaft zu unserer Verabredung wechseln kann. Nicht lange herumsitzen, zügig ein Geschäft nach dem anderen erledigen. Das ist sein Ding. Ja, er sei bereit, begrüsst er uns aufgeräumt, und werde mit uns einen Rundgang durch die Stadionanlagen machen, quer über den Rasen, hinauf auf die Tribünen, hinein in die "Katakomben", in denen sich die Umkleideräume und Duschen der Spieler und sein Büro befinden. Diesen Weg gibt's und keinen anderen.

So ist es, und so hat es auch seine Richtigkeit. Denn das Leben des 59jährigen Gress war, ist und wird Fussball sein. Schon als Fünfjähriger schwärmte der gebürtige Elsässer für Racing Strasbourg. Mit vierzehn verliess er die Schule, weil er längst wusste, dass er Profifussballer werden würde. Als Neunzehnjähriger setzte er seine Absicht in die Tat um und verkaufte seine Seele endgültig dem Ball. Heute, vierzig Jahre später, hat Gress zwar sowohl als Spieler wie als Trainer mehrere Meistertitel errungen, erst mit Marseille, dann mit Strasbourg und 1987 und `88 mit Xamax Neuenburg; Hobbys aber hat er kein einziges. Wenn er mit seiner Frau einmal essen geht, was selten genug geschieht, beschert ihm seine Prominenz innert Kürze Gesprächspartner, die mit ihm fachsimpeln wollen. Zuhause sitzt er stundenlang vor dem Fernsehgerät und verfolgt die internationale Fussballberichterstattung. "Ich bin ein Fussball-Verrückter", konstatiert er mit absoluter Ernsthaftigkeit, "der seiner Leidenschaft alles, aber auch wirklich alles unterordnet."

Wie er diesen Satz sagt, bleibt er mitten auf dem Rasen des Letzigrunds stehen, der gerade auf ein Open-Air-Konzert mit Tina Turner vorbereitet wird. Das interessiert ihn nicht gross. Hauptsache, das Feld ist wieder bespielbar, wenn die Meisterschaft startet. Eine angenehm kühle Brise weht. Mehrmals wischt sich Gress mit bedächtiger Geste seine langen weissen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Er ist ganz bei der Sache, freundlich und auskunftswillig. Nichts erinnert mehr an unseren ungehaltenen Gesprächspartner am Telefon. Ja, seufzt er, der Preis, den er für seine Erfolge als Trainer habe bezahlen müssen, sei tatsächlich hoch: "Meine Familie musste immer wieder zurückstehen, weit zurückstehen." Seine Frau habe ihm gerade kürzlich vorgerechnet, dass sie wegen seines Berufs siebzehnmal umgezogen seien. In der hektischsten Periode hätten sie es sogar geschafft, innert sieben Monaten in drei Ländern zu wohnen: in Belgien, Frankreich und der Schweiz. Béatrice Gress muss wirklich eine treue Gattin sein. Jedenfalls hat sie erhebliche Opfer zugunsten der Karriere ihres Mannes gebracht. Die Umzüge waren eins. Noch schwerer wog allerdings die Tatsache, dass sie sich gezwungen sah, ihre Tochter und ihren Sohn von klein auf von den Grosseltern erziehen zu lassen.


Gilbert Gress, wie konnte es dazu kommen, dass Ihre Kinder nicht bei Ihnen und Ihrer Frau aufgewachsen sind?

Gilbert Gress: Das fing so an. Meine Tochter war gerade zur Welt gekommen und schrie jede Nacht. Sie schrie Mittwochnacht, Donnerstagnacht, ja, und ich hatte am Sonntag ein Spiel und konnte nicht schlafen. So haben wir sie am Samstagabend zu den Schwiegereltern gebracht und wollten sie eigentlich nach dem Spiel wieder abholen.

Eigentlich?

Gress: Ja, so war es vorgesehen. Plötzlich aber ergab es sich so, dass sie blieb. Auch meine Schwiegermutter hat ihren Teil dazu beigetragen, dass sie sie behalten konnte. Uns kam es gelegen, weil wir kurz darauf nach Stuttgart wechselten. Später wurde unsere Tochter eingeschult, und es erschien uns sinnvoll, dass sie in ihrer vertrauten Umgebung blieb und nicht ständig mit uns den Wohnort wechseln musste. Unser Sohn wuchs ja auch dort auf.

Das muss eine sehr harte Erfahrung für Ihre Frau gewesen sein.

Gress: Ja, klar. Wir haben die Kinder allerdings jedes Wochenende gesehen. Es war also nicht so, dass meine Frau monatelang von ihnen getrennt war. Trotzdem war es eine verzwickte Lage, in der auch manche Träne floss. Im Nachhinein denke ich aber, dass wir Glück hatten und dass unsere Kinder wohlbehütet aufgewachsen sind. Wir haben ein gutes Verhältnis zu ihnen.


Wir schlendern über den Rasen. Die Uhr geht auf halb eins, und die Sonne brennt. Der ohrenbetäubende Lärm der Arbeiter, die offenbar keine Mittagspause haben, macht es schwierig, sich zu unterhalten. Dabei hat es die Gress'sche Familiengeschichte in sich. Das Bild seiner Frau, die seit jeher weiss, dass alles, was mit Fussball zu tun hat, immer wichtiger ist als alles andere, lässt uns nicht so schnell los. Immer Rücksicht nehmen, ständig verzichten zugunsten des Fussballs. Kein Wunder, sandte ihr Gress nach dem Cupsieg des FC Zürich im Berner Wankdorfstadion ein Zeichen des Danks und der Verbundenheit auf die Tribüne, wo sie, sein loyalster Fan, einmal mehr Platz genommen hatte. Er erzählt uns eine Anekdote über sie, die zeigt, dass es für Frau Gress gar nicht immer einfach war, ihren Mann zu begleiten. Ende der sechziger Jahre wollte ihn Bayern München als Spieler verpflichten. Im Verlauf eines Vorgesprächs teilte der damalige Manager Robert Schwan Frau Gress ungeniert mit, dass Frauen im Verein nicht erwünscht seien. Ganz sec, ohne sich gross etwas dabei zu denken, habe Schwan diesen Satz gesagt, für den Gress im übrigen durchaus Verständnis hatte: "Frauen galten damals als Störfaktoren, die möglicherweise mit Neid auf den Pelzmantel einer anderen Spielergattin reagieren würden."

Das seien vergangene Zeiten. Heute sehe man die Frauen von Spielern und Trainern während jeder Fernsehübertragung auf den Tribünen sitzen.


Herr Gress, versteht Ihre Frau eigentlich etwas von Fussball?

Gress: Das ist doch logisch bei jemandem, der seit fast vierzig Jahren mit mir zusammenlebt. Was sie allerdings noch viel besser versteht, ist das Wesen der Menschen. Sie verfügt über eine grosse Intuition und hat mich schon öfters vor irgendeiner Person gewarnt, die ihr nicht vertrauenswürdig erschien. Nachdem sie die Verbandsfunktionäre Mätzler und Mathier zum erstenmal gesehen hatte, riet sie mir davon ab, den Vertrag als Coach der Schweizer Nationalmannschaft zu unterschreiben. Eine Warnung, die ich leider in den Wind schlug.


Eugen Mätzler, bis vor kurzem zuständig für das Nationalteam, und Marcel Mathier, der Präsident des Schweizerischen Fussballverbands, sind wohl die zwei Personen, die Gress momentan am heftigsten in Rage zu versetzen vermögen. Er hält bei der Erwähnung ihrer Namen abrupt inne und fragt mit wegwerfender Geste: "Wer ist Mätzler? Woher bezieht Mathier seine Berechtigung, im Sport tätig zu sein? Von nirgendwo." Die beiden Funktionäre stehen für Gress, den Erfolgsverwöhnten, für die bitterste Erfahrung seiner bisherigen Karriere, waren doch sie dafür verantwortlich, dass seine Anstellung als Nationaltrainer im letzten Dezember ein jähes, unrühmliches Ende fand. Die Gründe dafür kenne er noch immer nicht. Gress redet schnell und schneller; eigentlich will er gar nichts mehr zu der Geschichte sagen, um sich im selben Augenblick auf's Heftigste über das ihm angetane Unrecht zu ereifern. Die fünf Monate Arbeitslosigkeit, Untätigkeit und fussballerische Abstinenz seien ihm schlecht eingefahren. Welche Befreiung muss er da in jenem Moment empfunden haben, als ihm FC Zürich-Präsident Sven Hotz einen Job anbot. Gress sagte für viele überraschend schnell zu: "Schnell, nicht zu schnell", stellt er mit Nachdruck klar. Diese Bemerkung kommt nicht von ungefähr. Schliesslich hatte ihn sein Manager noch einen Tag vor Vertragsabschluss auf freiwerdende Trainerposten in Frankreich hingewiesen. Und kurze Zeit später standen auch die Zürcher Grasshoppers wieder einmal ohne Coach da. Gress konstatiert unumwunden, dass GC tatsächlich ein interessanter Verein für ihn gewesen wäre: "Doch ich hatte Herrn Hotz zugesagt, und damit war für mich alles klar."

Alles klar? Trainer beim FC Zürich zu sein, ist momentan eine Aufgabe der besonderen Art. Gress macht keinen Hehl aus der Tatsache, dass es "enorm schwierig" sei, eine Mannschaft für die neue Saison zu formen, in der es dank dem Cupsieg immerhin auch um Auftritte auf der europäischen Bühne gehen wird. Woher soll er die fehlenden Verteidiger nehmen, fragt er mit einer Handbewegung, die nichts als Ratlosigkeit ausdrückt. Was tun, wenn Bartlett, der Stürmerstar, doch noch ein Angebot aus dem Ausland erhält? Inzwischen hat er uns in sein Büro geführt, das, nüchtern und stillos eingerichtet, höchstens den allernötigsten Bedürfnissen eines Managers genügt. Herz und Gemüt kommen hier mit Sicherheit nicht auf ihre Rechnung.

Doch dafür hat Gress ja das Stadion. Dort holt sich der Mann, der berühmt ist für seine Temperamentsausbrüche an der Seitenlinie, all jene Emotionen, die ihm das Trainerleben den stressigen Unwägbarkeiten zum Trotz immer noch als Inbegriff einer erfüllten Existenz erscheinen lassen. Dazu gehören die Begeisterung des Zürcher Publikums nach dem Ligaerhalt, der erst im letzten Match gegen den FC Aarau sichergestellt werden konnte. Dazu zählt er aber auch die ihn berührenden Worte eines arbeitslosen Mannes, der ihm nach einem Spiel für die neunzig spannenden Minuten dankte, die ihn seine belastende Situation vorübergehend hätten vergessen lassen. In guter Erinnerung seien ihm nach wie vor die beiden elsässischen Fans, die nach dem Titelgewinn von Racing Strasbourg im Jahr 1979 leicht angesäuselt stammelten: "Jetzt können wir sterben, denn wir haben Strasbourg als Meister erlebt."

Unser Gespräch nähert sich seinem Ende. Gress ist so entspannt, dass er sogar zu scherzen beginnt. Als ihn just in diesem Moment eine ZDF-Redaktorin anruft, um mit ihm einen Auftritt im EM-Studio des Zweiten Deutschen Fernsehens zu besprechen, nutzt er die Gelegenheit zu einem kleinen Flirt. Im Anschluss daran erzählt er uns strahlend, dass diese Fernsehjournalistin selber Fussball spiele und sich dennoch ihre weibliche Ausstrahlung bewahrt habe.

Fotograf Roland Iselin will noch ein paar Aufnahmen machen. Jetzt hat es Gress plötzlich eilig: "Muss das sein?" Eher widerwillig streift er sich ein Fussballleibchen über. Vor einem Spiegel in seinem Büro zieht er mit einer runden Gummihaarbürste, wie wir sie aus Kindertagen kennen, seine weissen, immer noch langen, aber eher lichten Haare in die richtige Position. Als er, angeleitet von Iselin, auf den hohen Treppenstufen der Tribüne Stellung bezieht, kontrolliert er nochmals mit beiden Händen den Sitz seiner Frisur. Bezaubernd diese Geste der Sorgfalt, die sich mit der Schüchternheit paart, die er beim Fototermin ausstrahlt. Gilbert Gress ist ein Mann mit vielen Gesichtern: Wenn er sich bewusst in Szene setzen soll, wird er fast verlegen. Während des Spiels kennt er keine Grenzen und flippt regelmässig aus. Wir verabschieden uns gegen 14 Uhr. Um 17 Uhr steht das zweite Training an diesem Tag auf dem Programm. Spätestens dann ist Gress mit Sicherheit wieder in seinem Element.


Gilbert Gress stammt aus dem Elsass, wo er am 17. Dezember 1941 in Strassburg geboren wurde. Obwohl ihm sein Vater den Besuch eines Kollegs nahelegte, entschloss er sich für eine kaufmännische Lehre, die ihm daneben Zeit für das Fussballspielen liess. Während fünf Jahren war er in einem Transportgeschäft tätig.
Seine Karriere als Fussballer begann er in seinem Geburtsort. Nach sechs Jahren wechselte er zum VfB Stuttgart, wo es ihn fünf Jahre hielt. Von 1971 bis ´73 stand er in den Diensten von Olympique Marseille und wurde mit dem Spitzenklub zweimal französischer Meister. Anschliessend kehrte er für weitere drei Jahre nach Strasbourg zurück. Er bestritt drei Länderspiele für Frankreich.
Seine Karriere als Trainer eröffnete er 1975 bei Xamax Neuenburg. 1977 zog es ihn wiederum in die alte Heimat Strassburg, wo er mit dem Gewinn des Meistertitels 1979 einen seiner grössten Erfolge errang. Anschliessend tourte er durch Belgien, Frankreich und die Schweiz und trainierte Mannschaften wie Brügge, Servette, nochmals Strasbourg und Xamax. Von Januar 1998 bis Dezember 1999 war er Coach der Schweizer Nationalelf und verpasste die Qualifikation für die Europameisterschaften in Belgien/Holland 2000 nur knapp. Mitte April dieses Jahres löste er Raimondo Ponte als Trainer des FC Zürich ab. Nur wenige Wochen später konnte er mit seiner neuen Mannschaft den Pokalgewinn und den Verbleib in der Nationalliga A feiern.
Gress ist seit 35 Jahren mit seiner Frau Béatrice verheiratet, die er aus gemeinsamen Strassburger Tagen kennt. Ihre Tochter Cathy ist 34 Jahre alt, ihr Sohn Franck 27. Gress ist französisch-schweizerischer Doppelbürger.

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© Barbara Lukesch