Biederland und der Brandstifter – Niklaus Meienberg als Anlass

Erschienen 1988, Limmat Verlag / Interview mit Meienberg

Niklaus Meienberg

Das Gespräch führten Barbara Lukesch und Co-Herausgeber Martin Durrer am 14. Mai 1988 in Zollikon.

Niklaus, Du kommst aus St. Gallen, aus einem katholischen, kleinbürgerlichen Haus, hast in Disentis das Gymnasium besucht und in Fribourg studiert. Das heisst, Du bist stark katholisch-konservativ geprägt worden...

Meienberg: Stark christlich-sozial. Das ist etwas anderes.

Deine Wandlung vom katholischen Klosterschüler zum linken Rebellen ist in jedem Fall beachtlich. Wie kam es dazu?

Rebell? Dieses Wort finde ich abgenützt und verwaschen, das sagt einfach nichts mehr. Gegen was habe ich rebelliert? Ich glaube, ich habe eher eine Art anachronistischer Treue gegenüber bestimmten Werten bewahrt, die meine Erziehung mir vermittelt hat.

Welche Werte sind das?

Zum Beispiel Gerechtigkeitsgefühl. Dass jeder Mensch gleich viel wert ist und Anspruch auf gleiche Behandlung hat, egal ob Mann oder Frau, ob arm oder reich, ob Kinder oder Erwachsener. Und beim letzten Punkt fing mein Dilemma dann an. Ich habe zwar erlebt, dass meine Mutter einen Hausierer in unseren sogenannten Salon gebeten und einen Kardinal, der bei uns zu Besuch war, zum Abwaschen aufgefordert hat, dass sie aber gleichzeitig eine beachtliche Strenge uns Kindern gegenüber an den Tag gelegt hat. Sie war einfach eine Wahnsinnsbombe an Autorität und Kraft, und wollte man mit den von ihr propagierten Werten Ernst machen, musste man sich mit unheimlicher Energie gegen sie durchsetzen. Die Geschichte mit Willes hat natürlich einen direkten Zusammenhangmit meiner Familie. Am Anfang hätte statt «die Generalin» genauso gut stehen können: «Frau Maria Meienberg sitzt auf ihrem Balkon in St. Gallen und überblickt ihren Clan...»

Die Mutter und ihre Dominanz ist eines. Der immer wieder von Dir beklagte Mangel an väterlicher Autorität das andere.

Darunter habe ich schon früh gelitten. Die Mutter hat alle wichtigen Entscheidungen getroffen, zusammen mit ihrem Bruder, meinem Götti. Den hat sie immens bewundert: ein Riesenfetzen, später ist er Millionär geworden. Und wenn er zu uns auf Besuch kam, verschwand mein Vater im Hintergrund - aber nicht nur dann.

Wie hast Du auf diese seltsame Konstellation reagiert?

Unter anderem damit, dass ich mir im Alter von zwanzig Jahren vornahm, mindestens UNO-Generalsekretär zu werden. Aber im Ernst: anders glaubte ich, dieser Frau niemals die Stange halten zu können.

Eine weitere Station auf Deinem Weg, die Dich stark beeinflusst hat, war Disentis.

Ja, und der Konflikt war wieder der gleiche. Man brachte uns Werte bei wie Christlichkeit, Menschlichkeit und, und, und; Werte, die ich sehr schön gefunden habe. Aber genau die Leute, die sie vermittelten, verletzten sie selbst am meisten, mit der wahnsinns-autoritären Sex-Unterdrückung beispielsweise. Das war ein enormes Problem. In Fribourg, an der Uni, ging's dann stracks auf ähnliche Art weiter.

Rebelliert, um das Wort nochmals zu brauchen, hast Du also gegen die Verletzung von Idealen, die Dir von klein aufvermittelt worden sind.

Ja, aber es war fast eine konservative Rebellion. Gut, andererseits kannst Du auch sagen, die von mir geschätzten Werte könnten am Anfang einer marxistischen Reflexion stehen.

Würdest Du Dich als marxistischen Linken bezeichnen?

Auf jeden Fall, wobei ich die hauptsächlichen Erkenntnisse von Marx als Arbeitsinstrument, aber nicht als Dogma betrachte. Seine Theorie von der Akkumulation von Kapital und von der Schichtung der Gesellschaft, wobei man das heute international anschauen müsste, könnte ich unterschreiben.

Du wolltest zwar UNO-Generalsekretär werden, bist aber nach zehn Tagen beim Militär dienstuntauglich geschrieben worden. Hat Dir das Probleme gemacht?

Auch wenn ich damals meinte, es mache mir überhaupt nichts aus, hat es mir in Wirklichkeit viel ausgemacht. Das Militär ist eben doch ein wichtiges Initiationsinstrument in der Männergesellschaft. Die andern machten Erfahrungen - auch wenn es vor allem negative waren -, erzählten davon, und ich fühlte mich ausgeschlossen. Auch nach dem Abschluss meines Studiums, als ich sah, wie der berufliche Aufstieg eines Mannes funktioniert und was für einen Stellenwert die Armee in der Schweiz hat, hat's mich noch beschäftigt. Bei uns werden doch ganze Pressekonzerne von den Herren Offizieren dirigiert.

Du hast inzwischen viel über das Militär geschrieben, sei es die Reportage «Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.», die Manöver-Berichterstattung über «Dreizack» oder das Wille-Buch. Vermisst haben wir von Dir eine Stellungnahme zu Roman Brodmanns Armee-Film «Der Traum vom Schlachten der heiligsten Kuh».

Ich muss ehrlich sagen, ich bin nicht glücklich gewesen über diesen Film, weil mir der Widerspruch der Armeebefürworter gefehlt hat. Dass hohe Offiziere sich vor der GSOA-Abstimmung nicht äussern wollten, muss man in diesem Fall sogar als Argument respektieren. In einer solchen Situation haben die tatsächlich zu schweigen, statt Propaganda zu machen. Aber Brodmann hätte andere Leute suchen können, zum Beispiel Roger de Diesbach, den Verfasser eines grossen Buches über die Armee. Er wäre ein intelligenter Militärbefürworter gewesen. So habe ich gefunden, Brodmann hat es sich etwas zu einfach gemacht. Andererseits wollte ich nicht öffentlich gegen den Film auftreten, weil ich mich mit seinem Grundanliegen natürlich auch solidarisiere.

Warst Du nicht einfach sauer auf Brodmann, weil er Dir die Show gestohlen hat? Ein Riesentheater begleitete seinen Film, während auf Deine ersten, schwererarbeiteten Wille-Folgen in der «Weltwoche» eher bescheidene Reaktionen zu verzeichnen waren.

Ich hatte das Gefühl, bei den Linken wie auch bei den Bürgerlichen sei zu wenig Bereitschaft dagewesen, auf eine gründlichere und historische Arbeit einzugehen. Ich glaube, wer es sich schenkt, über den historischen Werdegang der Armee nachzudenken, kann auch nicht auf eine intelligente Art für ihre Abschaffung plädieren. Einfach so, aus blauem Himmel: wir sind dagegen, fertig. Da gibt's die Guten, die Schlechten und die Sauhunde, die nicht Stellung nehmen wollen. Das ist zu wenig.

Selbst die «WochenZeitung» hat nicht sehr euphorisch auf Deine Wille-Serie reagiert: Mit einem einzigen Artikel, und der war - vornehm ausgedrückt - sehr zurückhaltend.

Mmh.

Hat sich Dein Verhältnis zur WOZ im Laufe der Zeit stark verändert?

Das ist immer auf- und abgegangen. Einmal habe ich einen ganzen Monat als Volontär bei der WOZ gearbeitet. Da war mein Verhältnis zur Redaktion natürlich enger. Was man sich aber auch fragen muss: Hat sich die WOZ verändert? Meiner Ansicht nach hat sie sich ein paarmal sehr heftig verändert. Sie ist jetzt viel solider als am Anfang, eine gewisse Spontaneität ist aber auch weg, aber die Qualität ist besser.

Spontaneität- was meinst Du damit?

Eine gewisse Frechheit im Stil und im Erscheinungsbild. Manchmal gab's sehr unglückliche Layouts, aber manchmal haben sie auch die guten Sachen vom «Bewegungs»-Layout übernommen. Heute ist die WOZ berechenbarer geworden.

Auch inhaltlich?

Ja. Aber das kann auch Vorteile haben. Du weisst jetzt, welche Linie verfolgt wird. Also ich möchte auf keinen Fall sagen, jetzt sei die WOZ schlechter als früher. Sie ist die wichtigste Zeitung in der Schweiz. Wenn es sie nicht gäbe, würden viele Stoffe nirgends mehr aufgegriffen.

Warum arbeitest Du denn nicht bei der WOZ?

Ich will mich nicht mehr fest anstellen lassen.

Es gibt doch jetzt bei der WOZ den Status eines Reporters, also einen Job ohne administrative Aufgaben. Du hättest Zeit zum Recherchieren und Schreiben.

Das habe ich ja eine Zeitlang nahezu so praktiziert. Jetzt habe ich das Gefühl - und das hat nichts mit der WOZ zu tun, sondern ausschliesslich mit mir persönlich -, ja, ich habe langsam den Verdacht, dass es bei mir mit dem Journalismus vorbei ist.

Mit dem Journalismus oder mit dem Schreiben?

Mit dem Journalismus. Ich muss andere Formen finden. Ich habe den Eindruck, dass ich innerhalb des Reportage-Journalismus alle Formen ausgeschöpft habe. Wenn ich nicht eine neue Form finde das tönt jetzt barbarisch und unpolitisch, aber es ist schon ein wenig so - interessiert mich der Inhalt nicht mehr. Ich komme in die Gefahr, mich formal zu wiederholen. Das kann ich an einem Beispiel mit der WOZ illustrieren. Mein Artikel über das Farner-Begräbnis, «Alles Fleisch vergeht wie Gras», wurde damals stark gelesen und immer wieder diskutiert. Jene WOZ war an den Kiosken von Zürich ziemlich schnell ausverkauft, vor allem in der Nähe vom Büro Farner war alles sofort weg. Jetzt schickt mir die WOZ ein Buch, «Zunftgespräche», das die Ansprachen von Farner enthält. Grauenhafte Ansprachen. Und man schreibt mir, ich solle einen Artikel dazu machen. Da finde ich eben gerade: nein. Ich will das Thema Farner nicht nochmals behandeln. Ich hasse es, als Spezialist zu gelten. Eine Zeitlang galt ich als Frankreich-Spezialist; dann als Erschiessungsspezialist: Immer wenn noch ein Landesverräter zum Vorschein kam, hat bei mir das Telefon geläutet. Dann wurde ich zum Fabrikspezialisten, und dieses Jahr war ich der 68er-Spezialist. Und das nervt mich. Ich bin doch keine Katze mit einer Konservenbüchse am Schwanz, die überall, wo sie durchläuft, den gleichen Ton produziert.

Unklar ist uns, nach welchen Gesichtspunkten Du Deine Artikel in der WOZ beziehungsweise in der «Weltwoche» publizierst. «Vorwärts zur gedächtnisfreien Gesellschaft» - eine an die Wille-Serie anknüpfende Reflexion über Geschichtsschreibung - geht an die WOZ und das Gewerkschaftsmagazin «Klartext». Die Serie selber erschien aber in der «Weltwoche». Die Fabrikreportage über das Dorf Perlen publizierst Du in der «Weltwoche», das Pendant über Saurer/Arbon ging an die WOZ, nachdem es das deutsche Monatsheft «Merian» abgelehnt hatte.

Meine Entscheidung, welcher Artikel an welche Zeitung geht, verläuft nicht so systematisch, wie Ihr Euch das vorstellt. «Die gedächtnisfreie Gesellschaft» entstand als Auftragsarbeit für den «Klartext». Die Saurer-Reportage hatte plötzlich ihren ursprünglichen Auftraggeber eingebüsst...

...und was sprach dann gegen die «Weltwoche»?

Es ist noch nicht so lange her, dass ich bei der «Weltwoche» so willkommen bin wie heute. Damals war mein Verhältnis zur Redaktion noch nicht so klar. Ähnlich sah es manchmal in meiner Beziehung zum TAM aus. Zum Beispiel die Reportage «Aufenthalt in St. Gallen», die unterdessen als Literatur gehandelt wird - sogar von Adolf A. Muschg an der ETH - wurde damals von Hugo Leber mit den Worten abgelehnt: «Das ist obszön, das geht nicht.» Also auch beim TAM war nicht immer alles idyllisch. Den Artikel habe ich zum ersten Mal in der linken «Neutralität» publiziert - einer Zeitung, die sich mit der WOZ vergleichen lässt.

Deine Abrechnung mit dem «Stern» wurde in der «Weltwoche» veröffentlicht, ein Entscheid, der in der linken Szene zu heftiger Kritik Anlass gab, da im Grunde genommen die «Weltwoche» auf Schweizer Niveau ein dem «Stern» vergleichbarer Laden sei. Also hätte dieser Text in die WOZ gehört.

Da besteht also ein ganz gewaltiger qualitativer Unterscheid zwischen dem «Stern» und der «Weltwoche», und der liegt in der Sprache. In der «Weltwoche» findest Du noch total verschiedene Töne, da gibt's noch authentische Sprache - auch wenn die Zeitung dadurch zum Chrüsi-Müsi wird. Beim «Stern» werden die Texte kastriert wiedergegeben. Ausserdem wollte ich, dass mein «Stern»-Artikel auch in Deutschland zur Kenntnis genommen wird. Dank der relativ hohen Auflage der «Weltwoche» habe ich das erreicht: Vier deutsche Zeitungen haben ihn nachgedruckt.

Der Reiz der «Weltwoche» war also...

Ihre grosse Auflage, sie ist für mich ein Flugzeugträger, der meine Sachen möglichst weit verbreitet.

Andererseits kann man in der WOZ vom 6. Januar 1984 den von Dir so betitelten «Fast erpresserischen Aufruf» an alle Journalistinnen und Journalisten lesen: «Immer zuerst an die WOZ denken, wenn sie einmal etwas nicht nimmt, können immer noch 'Tagi' und 'Weltwoche' berücksichtigt werden.» Gilt dieser Aufruf inzwischen für seinen Verfasser nicht mehr?

Wollen wir mal nachzählen, wieviele Artikel in meinem Buch «Vorspiegelung wahrer Tatsachen» in der WOZ erschienen sind?

Es sind sehr viele, ganz klar. Aber inzwischen sind zwei weitere Bücher von Dir herausgekommen...

Im «Spazierstock» sind etwa fünfzig Prozent der Texte zuerst in der WOZ erschienen...

Trotzdem bevorzugst Du inzwischen eindeutig die «Weltwoche»: «Dreizack», «Heidi», «Zürich, Du mein blaues Wunder» und die Wille-Serie - alle Texte erschienen zuerst dort.

Ich hätte es auch falsch gefunden, die Wille-Serie in der WOZ zu publizieren, eben wegen der Reichweite zum Beispiel.

Wenn es darum geht, Peter Studer, Furgler oder Hans W. Kopp eins auszuwischen, ist jeweils die WOZ das geeignete Vehikel. Hast Du die WOZ nicht manchmal auch missbraucht, um Privatfehden auszutragen?

Das waren keine Privatfehden gegen diese Männer, das waren Fehden gegen Sachen. Eine Fehde mit jemandem setzt ja voraus, dass Du nebst Argumenten auch Gefühle, also Hass oder Liebe, entwickeln kannst. Der Studer ist ein absolutes Neutrum, der nach immer grösserer Macht giert. Ihr meint ja wohl nicht im Ernst, dass man so einem Menschen gegenüber Gefühle entwickeln kann?

Immerhin ist Dir der Studer soviel Aufmerksamkeit und Energie wert, dass Du in einer gewissen Phase in 36 für die WOZ geschriebenen Artikeln zwölfmal ihn oder den «TagesAnzeiger» anschiesst, das ist in jedem dritten Beitrag. Das hat schon fast zwanghafte Züge.

Und was ist mit dem Schreibverbot? Ist das etwa nicht zwanghaft?

Willst Du jetzt Dein ganzes Leben lang wütend sein auf den Studer und den «Tagi», weil dir vor zwölf Jahren dieses Schreibverbot erteilt wurde?

Mir geht's schon lange nicht mehr um das Schreibverbot, das übrigens nicht Studer veranlasst hat. Die Zeit, in der mich das existentiell getroffen hat, ist vorbei. Heute habe ich Angebote von der «Zeit», von der «Frankfurter Allgemeinen», von «Konkret» und von der «taz». Sogar der «Stern», obschon ich da ja mit Türknall raus bin, will wieder was von mir, komischerweise. Nein, mir geht's darum, dass der Studer den publizistisch-ideologischen Abstieg des «Tagi» mit zu verantworten hat. Weil ich in Zürich lebe, muss ich hin und wieder den «Tagi» lesen und erlebe dabei seine Verbravung, seine Auskernung und Verarmung.

Neben dem «Tagi» gibt's noch den «Blick», in dem weiss Gott ebenfalls genügend Ungeheuerlichkeiten vorkommen: angefangen bei extremer Frauenfeindlichkeit bis hin zur Asylantenhatz...

Aber über den «Blick» habe ich, glaub' ich, mal was Grösseres gemacht?

Sogar der Artikel «Die Schwirrigkeiten des BLUCK mit der Wirklklichkeit» geriet Dir zur «Tagi»-Schelte.

Also nein, da hat's doch ganz deutliche Sachen drin wie «glitschiger Ringier-Aal» für Chefredaktor Uebersax.

Es hat aber auch Sätze drin wie diesen: «Die 'Zwölfte Seite' des 'Tages-Anzeigers' ist ein blasses Plagiat des strotzenden 'Blick', mit dümmlich-verschämten Promimentenstorys.» Man könnte folgern: Der «Tagi» ist dümmlich - im Gegensatz zum «Blick».

Nein, nein! Also lest einmal den ganzen Artikel. Man darf die Zeitungen ja auch an ihrem Anspruch messen. Der «Blick» proklamiert sich selbst als Boulevard-Produkt. Einer Hur, die öffentlich zu ihrem Beruf steht, kann ich die Hurenhaftigkeit nicht vorwerfen. Der «Tagi» hingegen hat noch vor kurzem proklamiert, er sehe sich als vierte Gewalt im Staat.

Die Abrechnungen mit dem «Tagi», die man in der WOZ lesen kann, könntest Du in der «Weltwoche» sicher nicht durchgeben.

Nein, und zwar aus einem ganz simplen Grund: Weil die «Weltwoche» auf der «Tagi»-Presse gedruckt wird. Muss ich jetzt vom Ramspeck verlangen, sie sollten zu einem andern Drucker gehen, damit ich was gegen oder über den «Tagi» schreiben kann? Ein Minimum an Realismus, bitte!

Also: Realistisch ist unserer Meinung nach auch die Einschätzung, dass die WOZ Dir hin und wieder zuviel durchgehen lässt, weil auch sie auf das Verkaufsargument Meienberg scharf ist. « Starschreiber» nennen Dich sogar WOZ-Leute.

Ach, ja? Isn't that interesting? Da muss ich mir mal die Frage stellen, wie ich im linken Milieu zu meinem Marktwert gekommen bin. Nämlich nicht dadurch, dass ich am Anfang im «Konzept» geschrieben habe, sondern wegen grosser Sachen, die ich in bürgerlichen Zeitungen publiziert habe.

Das Schreiben für die bürgerlichen Blätter - steckt da auch der Wunsch nach bürgerlicher Anerkennung dahinter?

Anerkennung in verschiedenen Formen, müsste man mindestens noch ergänzen. Denn heftige Kritik ist ja auch eine Form von Anerkennung. Die Art, wie ich behandelt wurde und immer noch werde, beinhaltet sicher genug Anerkennung - ich kann mich da gwüssgott nicht beklagen. Aber das allein reicht nicht aus als Motivation.

Ist es das Geld?

Der Stutz ist für mich zur Zeit kein Problem. Mein letztes Buch wurde gut verkauft.

Glaubst Du, dass Du mit Deinen Texten in der «Weltwoche» beim bürgerlichen Publikum politische Debatten auslöst?

Mit der Wille-Geschichte ganz sicher.

Aber erst, seit sie als Buch vorliegt. Die geringe Resonanz der Zeitungs-Serie hat Dich damals enorm frustriert.

Frustriert hat mich das tiefe Niveau der Diskussion. Da sind hanebüchene Leserbriefe gekommen, über die ich tatsächlich nicht glücklich sein konnte.

Häufig ist es so, dass Du entweder Empörung über irgendeine Tabuverletzung oder Bewunderung für Deine Sprachgewalt auslöst, aber höchst selten eine inhaltliche Debatte.

Das ist halt Schweiz. In dem Land kannst du machen, was du willst - aber eine echte politische Debatte gibt's alle zehn Jahre einmal. Beim «Ernst S.» gab's eine - wobei auch die erst durch die Verweigerung der Qualitätsprämie für den Film, also durch einen Skandal in Gang gekommen ist.

Peter Uebersax, damals «Blick»-Chef, liess sich von Dir «glitschiger Ringier-Aal» nennen und bot Dir postwendend eine Kolumne in seinem Blatt an. Sehr merkwürdig. Aber die bürgerlichen Chefredaktoren sind halt erpicht auf Deine Sprache, die «brillante, virtuose, kreative». Keiner sagt: Ich finde Meienberg politisch gut, ich würde sein Engagement unterschreiben.

Aber das ist doch auch eine Chance für mich, meine Sachen in die bürgerlichen Medien reinzuschmuggeln. Sie kommen zwar über die Form rein, aber man kann mir keinen einzigen Artikel zeigen, wo ich die Form ohne Inhalt verkaufe.

Besteht nicht die Gefahr, dass Du Dich inhaltlich dem jeweiligen Auftraggeber ein Stück weit anpasst? Du hast damals gleichzeitig ein Furgler-Portrait für die WOZ und eins für den «Sonntagsblick» geschrieben. Für die Linken durfte es etwas ätzender sein, für das Boulevardblatt hast Du Dich zurückgenommen.

Als der Furgler damals gestorben ist...

...gestorben?

...zurückgetreten ist - was ja für ihn heisst, er ist tot. Also, damals habe ich sofort der WOZ telefoniert, und die hatten nur noch eine knappe Spalte frei; ich war also gezwungen, ein Konzentrat. zu liefern. Im «Sonntagsblick» hatte ich mehr Platz, lch konnte ein bisschen ausholen. Dass der WOZ-Artikel meiner Meinung nach besser ist, hängt mit der Konzentriertheit zusammen, aber nicht damit, dass ich für den «SoBli» Kompromisse gemacht hätte.

Du kannst Dir also vorstellen, auch auf die Dauer für Boulevardblätter zu schreiben?

Nein. Denn du wirst von diesem Environment eben doch aufgesogen. Beim zweiten, dritten Artikel geht das per Osmose in dich hinein, du verinnerlichst sehr schnell, für wen du schreibst. Das wäre nichts für mich.

Seltsam an Deiner - sagen wir mal «Karriere» - ist ja, dass Du während sechs Jahren, nämlich seit dem «Tagi»-Schreibverbot im Herbst 1976 quasi brachgelegen bist und auf die linken Blätter verwiesen warst. Und dass damals kein Ringier- oder Jean-Frey-Verlag etwas von Dir wollte, während sich deren Chefs heute um Dich reissen. Was ist da passiert?

Die Zeiten haben sich verändert. Die bürgerlichen Medien sind ausgetrocknet und merken, dass sie zum Beispiel mit einer WilleSerie auf dem Höhepunkt 10'000 Exemplare pro Nummer mehr verkaufen. Die Leser sind gar nicht so dumm. Die wollen wieder längere Texte.

Ein entscheidendes Ereignis, das von der hiesigen Medienszene sehr aufmerksam verfolgt wurde, war Dein neunmonatiges «Stern»-Engagement 1982. Da haben Dich die Schweizer Medienbosse entdeckt.

Die kannten mich schon vorher...

...liessen Dich aber links liegen.

Beim Radio nicht.

Aber bei den grossen Verlagen.

Ja, aber ich habe auch nicht die kleinste Anstrengung unternommen, um mich ins Gespräch zu bringen.

Das musst Du heute auch nicht; heute rennen sie Dir die Bude ein.

Also, woran liegt's dann?

Hat Dich der «Stern» salonfähig gemacht?

So absurd das tönt, aber es ist wahrscheinlich so gewesen. Und übrigens habe ich vom TV in den letzten zwölf Jahren keinen einzigen Auftrag gekriegt.

War es damals eine grosse Genugtuung für Dich, der Schweizer Medienszene, die Dich so arg vernachlässigt hatte, den Rücken zu kehren und zum grossen «Stern» zu wechseln?

Bevor ich entdeckt habe, wie die Verhältnisse beim «Stern» wirklich sind, war das tatsächlich der grosse Aufschnaufer.

Verbunden mit ein bisschen Rachegefühl?

Ja, zum Teil schon. Klar, hat's mir gefallen, dass die vom «Stern» extra wegen mir nach Zürich angereist kamen. Und dann erst noch der Posten in Paris.

Wir haben das «Stern»-Engagement als einschneidendes Ereignis in Deinem Leben bezeichnet. Noch gravierender war sicher das «Tagi»-Schreibverbot. Was hat es, rückblickend, in Dir bewirkt?

Was ich erleben durfte, und was wohl sehr wenigen vorbehalten ist: Ich durfte bei Lebzeiten Nachrufe auf meine Person lesen oder im Radio hören. Das habe ich doch sehr schön gefunden. Zum anderen war das Ganze sehr schädlich für mich. Ich musste eine zeitlang nicht mehr beweisen, mit grossen Reportagen zum Beispiel, dass ich etwas Gutes machen kann. Ich bin auf eine negative Art total in den Mittelpunkt des Interesses geraten. Das war für meinen Charakter katastrophal. Denn ich habe damals manchmal gedacht, dass ich der grösste sei, aber als armer Siech jetzt nicht mehr zum Zug komme.

Märtyrer Meienberg?

Also gegen diesen Begriff habe ich mich immer gewehrt. Nein, aber als Opfer habe ich mich gefühlt, als einer, der ständig die grössten Sachen machen könnte, aber gehemmt wird. So Prometheus-Phantasien. Das war Gift für mich.

Nebst dem Genuss, den Du aus der Situation bezogst, war es wohl auch eine kränkende und niederschmetternde Erfahrung. Hast Du damals nie daran gedacht, das Schreiben ganz aufzugeben?

Doch, aber das habe ich periodisch immer wieder getan. Zum Beispiel als sie mir beim «Tagi» 1972 den Artikel über die Olympischen Spiele in München abgelehnt haben oder als ich bei der «Weltwoche» verschwinden musste, weil der Hans O. Staub kam. Das ging häufig einher mit Existenzängsten. Nur dank meiner billigen Wohnung in Paris bin ich überhaupt durchgekommen.

Das Schreibverbot hat Dich in der Schweiz bekannt, zu einem Phänomen gemacht.

Ich war vor dem Schreibverbot nicht ganz unbekannt. Mein erster Reportageband und der Ernst S.-Film sind vorher erschienen.

Hättest Du in Deutschland oder Frankreich mit Deinen Texten genauso für Aufsehen gesorgt oder ist das Phänomen Meienberg typisch schweizerisch?

Ich kann das schwer beurteilen. Ein Typ von der «Frankfurter Allgemeinen», der ein Portrait von mir geschrieben hat, fand jedenfalls, es sei jammerschade, dass ich in Deutschland keine vergleichbare Rolle spiele. Er fand, ich müsste deutsche Themen suchen und unbedingt in grossen deutschen Zeitungen publizieren.

Reizt Dich diese Perspektive nicht?

Beim «Stern» habe ich es ja versucht, und es ging schief. Bei der «Zeit» würde es vielleicht funktionieren, aber wie gesagt: Ich habe einfach keine Lust mehr auff Journalismus, der ist ganz generell so ausgelutscht. Und wie ich jetzt zu einem Markenartikel geworden bin, das ist horribel, das empfinde ich als enormen Druck. Vor zehn Jahren hätte ich die vielen Angebote brauchen können, aber heute?

Deine Bindung an die Schweiz muss gross sein. Einerseits nennst Du sie «dieses eingeschläferte, voll narkotisierte, von allzu vielen Akademikern und von zu wenig Intellektuellen bevölkerte Ländchen», andererseits lebst Du seit Jahren hier.

Das stimmt, das ist pervers. Früher, als meine Wohnung in Frankreich noch billig war und ich sie einfach leerstehen lassen und dann wieder bewohnen konnte, bin ich viel dort gewesen. Heute muss ich zum einen die Wohnung vermieten, zum andern hat sich aber auch Frankreich verändert. Das erklärt zum Teil meine jetzige melancholische Art: Die französische Philosophie, Literatur und Politik sind gegenwärtig so abgefuckt, entsetzlich, da kann ich keine Kraft mehr schöpfen. Früher war's anders. Foucault war ein Typ, Sartre war ein Typ, Lacan, Althusser. Ich habe kein anderes Land, zu dem ich eine solche Affinität hätte wie zu Frankreich. Vielleicht muss ich mal nach Südamerika.

In einem Interview riet der Basler Publizist Oskar Reck jungen Journalistinnen und Journalisten auszuwandern. Welchen Rat würdest Du ihnen geben?

Auswandern ist gut, habe ich ja selber auch gemacht. Und sonst? Vielleicht eine Zeitlang als Kondukteur arbeiten. Auf jeden Fall möglichst spät in ein festes Arbeitsverhältnis einsteigen; wenn's geht, überhaupt nie. Schrecklich finde ich die Fixiertheit der Presse auf Zürich. Es gibt nichts anderes mehr als diesen Zürcher Geist: Alles ist bestimmt von Expansionismus, Investitionen - alles läuft nach völlig pressefremden Gesetzen. Ich glaube, in der Westschweiz ist es eine Spur besser.

Warst Du eigentlich je politisch organisiert?

Nein.

Und warum nicht?

Ich habe zuviele abschreckende Beispiele gesehen, wie Diggelmann, der im Stadtparlament sass, kaum Zeit hatte, seine Voten seriös vorzubereiten, geschweige denn, noch etwas zu schreiben. Die wollten ihn einfach, weil er Diggelmann hiess und weil sie sich Spektakel von ihm versprachen. Aus dem gleichen Grund wünschte sich Sigi Widmer - ausgerechnet der! -, dass ich in den Landesring eintrete und für die in den Nationalrat gehe.

Hättest Du genug Vertrauen in die parlamentarische Politik?

Ich kann's gar nicht sagen. Ich habe noch nie eine ganze Nationalratsdebatte gehört. Klar haben die POCH in Luzern und die SAP in Zug Sachen angerissen. Aber die reiben sich wund. Die richtige Macht liegt ja an einem andern Ort, Beispiel Blocher.

Gefällst Du Dir in der Rolle des Einzelkämpfers?

Einzelkämpfer? Ich sehe mich als Einzelschreiber- und ob's dann zum Einzelkampf wird...? Mit dem Wille-Buch habe ich etwa 25 Lesungen gemacht, und zwar auch an Orten, wo nicht nur Leute gekommen sind, die schon alles wussten. Das sehe ich als Aufklärungskampf.

Du lässt Dich - So scheint es uns - wahllos von allen Leuten oder Gruppen zu einer Lesung einladen. Gibt es Grenzen? Wo würdest Du nicht hingehen?

Zur «Nationalen Aktion» würde ich nicht hingehen, aber die laden mich auch gar nicht ein. Aber zu einem bürgerlichen Lesekreis - warum nicht? Das finde ich spannender, als immer nur in SAP- und SP-Kreisen zu diskutieren.

Gibt es eine Zeitung, für die Du nicht schreiben würdest?

Im «Blick» nicht, auch im «Sonntagsblick» nicht mehr. Aus den genannten Gründen.

Und in der NZZ ? Zum Beispiel in der Wochenendbeilage?

Das käme sehr drauf an. Ich würde sagen, sie ist nicht a priori tabu. Aber ich glaube nicht, dass ich je ein Angebot bekäme, das mir entsprechen würde.

Du hast ja einmal in der NZZ geschrieben.

Ja. Mein erster Artikel aus Paris war für die NZZ, über die französischen Strukturalisten. Da haben sie aber prompt alles politische rausgestrichen, all die Stellen, die mir am liebsten waren.

Und wie sähe es mit dem «Tages-Anzeiger» aus?

Ich glaube nicht, dass ich dort eine echte Chance hätte, so zu schreiben, wie ich es jetzt tue. Im Ressort Kultur könnte ich am ehesten etwas machen, etwa über Foucault, das heisst möglichst abgehoben.

Eine Äusserung von Dir lautet: «Klassenkampf findet für mich in der Sprache statt. Wenn man Klassenkampf machen will und hat zwar die richtigen Ansichten, aber in der Sprache findet nichts statt, dann votiere ich im Zweifelsfalle für Proust gegen Wallraff.»

Das kann ich voll unterschreiben. Weiterhin.

Überbewertest Du die Sprache nicht gewaltig?

Ich sehe mich eben nicht als Kämpfer mit Rüstung und Hellebarde auf der Suche nach einem Thema. Ich werde von einem Thema heimgesucht - drum heisst eines meiner Bücher auch «Heimsuchungen» - und versuche mich mit ihm auseinanderzusetzen. Wenn ich das nicht mit der Sprache tue, ist Hopfen und Malz verloren.

1968 warst Du in Paris, da lagen die Themen praktisch auf der Strasse. Das war «Deine» Bewegung. 1980/81 warst Du in Zürich. Wie hast Du die Jugendunruhen, die Zürcher «Bewegig» erlebt?

Ich war völlig ratlos. Ich hatte wahnsinnig Angst, in eine paternalistische Haltung zu geraten: An Vollversammlungen ist mal der Hohler aufgetreten, mal der Muschg, und es ist auch vorgekommen, dass mich Leute erkannt und gerufen haben: Da hinten steht der Meienberg, der soll mal nach vorne kommen und gute Ratschläge geben. Das fand ich völlig daneben. Das war ja eine Bewegung, die mir zwar zum Teil enorm sympathisch war, aber gleichzeitig hatte sie nichts mit mir zu tun. Die Forderung nach einem Jugendhaus fand ich toll, aber das war schlicht und einfach nicht mein Anliegen.

Du fühlst Dich offenbar sehr unwohl in der Rolle eines grossen Mannes. Aber durch Dein Werk ziehen sich sogenannte grosse Männer wie ein roter Faden: Studer...

...der gehört nicht ins Kapitel grosse Männer. De Gaulle war ein grosser Mann, vor allem, was seine Resistance-Zeit betrifft.

Und Furgler, Kopp, Broger, Hersche und so weiter? Nach welchen Kriterien kommen die einen dran, beziehungsweise werden die andern übergangen? Cincera oder Blocher gäben doch mal Stoff her für ein Portrait?

Cincera ist abgesehen von seiner Kartei ein unbedeutender Mann. Zudem hat Jürg Frischknecht ihn exzellent behandelt - warum sollte ich nochmals? Und Blocher? Über den sollte man tatsächlich mal etwas machen.

Und warum hast Du das nie getan?

Weil mich da das wahre Kotzen ankäme - muss ich ehrlich sagen. Da besteht bei Euch offenbar ein Missverständnis, denn für die Männer, über die ich grosse Reportagen gemacht habe, habe ich wenigstens noch einen Fingerhut voll Sympathie empfunden. Beispiel Broger oder Siffert. Aber die reinen Technokraten, wie Hayek, über den ich immer aufgefordert werde zu schreiben? Da hängst's mir einfach aus. Da bekomme ich solche Aggressionen.

Du stehst also zu denjenigen, die bei Dir drankommen, in einem spannungsvollen Verhältnis, zu dem auch immer eine Spur Zuneigung gehört?

Ja, sicher. Und die haben auch immer ein Stück von dem, was ich selber gern hätte.

Was hättest Du denn gern von Kurt Furgler? Die Macht?

Vier oder fünf Parallelkarrieren, von Handball über Juristerei zum Parteipräsidium und zur Armee, so dass Du sofort zur nächsten wechseln kannst, wenn eine nicht funktioniert. Das hat mich schon fasziniert. Er war zwar ein miserabler Redner, aber er hatte immerhin die Möglichkeit, sein Gedankengut überall zu vertreten.

Literaturprofessor Peter von Matt nannte Dich einmal den mächtigsten Mann der Schweiz.

Potz! Ich habe keine administrative Macht, ich habe Überzeugungsmöglichkeiten. Aber was ich in den Medien erlebt habe, zeigt ja, wie fragil so etwas ist. Du kannst von einem Tag zum andem verschwinden. Ich bin immer abhängig vom guten Willen jener Leute, die meine Texte bringen - oder nicht.

Wie würdest Du Macht ausüben?

Wie die Zürcher Stadträtin Ursula Koch, zum Beispiel. Ich finde, seit sie in den Stadtrat eingezogen ist, hat sich qualitativ etwas verändert. Auch wenn das nicht von Dauer sein sollte, imponiert mir das. Die Ausübung von Macht gibt meiner Ansicht nach eine gewisse Kontinuität im Leben. Das sehe ich an meinem Schwager, der ist die Nummer zwei bei von Roll, hat Einflussmöglichkeiten, plant, hat Verwaltungsratssitzungen - alles, was man sich so unter einem erfüllten Männerleben vorstellt. Je nach meiner psychischen Situation beneide ich ihn um seine Verhältnisse oder finde sie völlig unmöglich. Ich hingegen muss mir ständig einen Tritt in den Arsch geben, damit ich etwas unternehme.

Ursula Koch imponiert Dir. Gibt es andere Frauen oder Männer, die für Dich Autoritäten sind, vor denen Du Respekt hast?

Es gibt Leute, von denen ich viel gelernt habe. Foucault zum Beispiel, dann auch Sartre. Im journalistischen Bereich war und ist für mich Laure Wyss eine sehr wichtige Frau. Von ihr habe ich jederzeit Kritik an meinen Texten akzeptiert, auch wenn es manchmal Krach gab, aber ich hatte das Gefahl, sie weiss einfach viel mehr als ich. Ja, und Hubert Beuve-Méry, der Gründer und ehemalige Chefredaktor von «Le Monde» - der einzigen französischen Zeitung, die den Journalisten, den Typographen und dem administrativen Personal gehört. Für ihn habe ich eine echte Verehrung empfunden; wie der sich gegen die staatliche Gewalt und das Kapital durchgesetzt hat, mit welcher Ruhe, welchem Überblick...!

Haben solche von Dir geschätzten Autoritäten Dich nicht manchmal auch gelähmt oder blockiert?

Mit Foucault habe ich einmal ein Interview gemacht, und dabei hatte ich tatsächlich ein Gefühl von Lähmung. Der war so gescheit, aber in seiner Gescheitheit auch so aggressiv, so verächtlich, wenn man nicht sofort die richtigen Fragen stellte. Persönlich war er mir höchst unsympathisch, aber seine Bücher habe ich trotzdem gelesen.

Von Laure Wyss hast Du viel gelernt, andern Äusserungen zufolge verdankst Du «Weltwoche»-Redaktorin Margrit Sprecher viel und nicht zuletzt Deiner Mutter. Aus einem «Annabelle»-Interview stammt der Satz: «Das war eine urtümliche Erfahrung für mich, dass Frauen viel interessanter sind.» Merkwürdig nur, welch untergeordnete Rolle Frauen dann in Deinen Reportagen spielen: 94 Reportagen - und ganze zwei handeln von einer Frau: «Frau Arnold reist nach Amerika» und «Bleiben Sie am Apparat, Madame Soleil wird Ihnen antworten».

Gut, aber Frauen kommen in andern Reportagen von mir ausfilhrlich vor, zum Beispiel in dem Text über den grossen Streik in Saint-Brieuc gibt's ein ganzes Kapitel über Frauen...

Das sind zwei von insgesamt 19 Seiten.

Dominique Grange, die Sängerin in «Friede den Hütten, Krieg den Palästen» ; meine Mutter kommt - ja gut, zeilenmässig nicht gerade...

...auf eine Seite bringt sie's.

Wenn ihr so wollt! Frau Bloch kommt in einem Interview mit dem Ehepaar Bloch zweimal so lang vor wie er!

Das sind die dünn gesäten Ausnahmen von der Regel. Die Schweizer Reportagen sind ausschliesslich Männerfiguren gewidmet: Broger, Herr Engel, Siffert, Chervet, Ernst S. ...

Ja, ja. Ich beschreibe in meinen Reportagen eben meistens Machtverhältnisse; es geht darum zu zeigen, wie die real existierende Macht funktioniert, und die ist nun von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen in der Zeit, in der die Reportagen entstanden sind, nicht von Frauen ausgeübt worden.

Für einen Linken tönt diese Erklärung mechanistisch und platt: einfach abbilden, was ist und nichts über das bestehende hinaus entwerfen.

Heute würde ich auch über eine Ursula Koch schreiben. Und was die Sportler-Portraits angeht: damals gab's einfach noch keine Erika Hess...

Sportlerinnen gab's schon damals.

Sag mir mal eine!

Skifahrerinnen hat's gegeben, Eiskunstläuferinnen.

Da sind wir ja grad beim Thema. Wie hat zum Beispiel der Aufstieg von Denise Biellmann funktioniert? Roman Brodmann hat in einem brillanten Film den Weg von Eiskunstläuferinnen an die Spitze gezeigt. Er hat sie sehr kritisch behandelt, vor allem auch die Mütter.

Niemand behauptet, man müsse Frauen immer nur mit Samthandschuhen anfassen oder sie nur lobend erwähnen.

Genau da kommst du als Mann total ins Schlittern. Brodmann geriet damals unter Beschuss. Und ich finde auch, das sei ein Thema, das Frauen behandeln sollten - so einen Aufstieg mit all seinen Möglichkeiten und Begrenzungen kann eine Frau viel besser nachvollziehen. Karrieresucht unter Männern finde ich etwas vom Schlimmsten und schreibe das auch. Geht's um Frauen, heisst's als erstes: warum sollen die das nicht auch machen dürfen oder können? Es ist eine Gratwanderung, sich da als Mann einzumischen.

An Annemarie Schwarzenbach, eine der weiblichen Hauptpersonen im Wille-Buch, hast Du Dich immerhin rangetraut...

Ja, und sofort haben mir Feministinnen vorgeworfen, es sei eine Sauerei, dass es ein Mann überhaupt wage, über die zu schreiben. So ist die Situation heute. Als Mann befindet man sich klar in einer Zwickmühle.

Wenn Frauen dann vorkommen, zum Beispiel in Deinen «Memoiren eines Chauffeurs», dann werden sie auf drei, vier Zeilen abgehandelt und ihre Existenzberechtigung ist die, dass sie auf einen Mann hin bezogen sind: die blonde Byrgit könnte mit ihrer Mähne, Christus' Tränen trocknen, und poussieren kann sie, eine Hausfrau backt - für wen wohl? - Käsekuchen. Und der junge Meienberg ist sich schon damals bewusst, dass zu einem richtigen Präsidenten eine Sekretärin gehört.

Das ist ein Teil meines Frauenbildes, das ich mit dreiundzwanzig hatte. Aber wer den Text sorgfaltig liest, merkt doch, dass ich mich über mich selber ziemlich lustig mache.

Inzwischen hast du Deine Lektion in Sachen Feminismus gelernt: Dem Papst wirfst Du entrüstet vor, wie er die Frauen behandelt. 5000 Leute seien anwesend, und er begrüsse sie mit «Liebe Brüder», obschon die Hälfte unter ihnen Frauen seien. Das findest Du abscheulich, empörend, unchristlich. Dass er ihnen wie Kindern übers Gesicht streicht, statt ihnen wie den Männern die Hand zu geben, entlockt Dir ein: «Gaat's eigentlich no?»

Wenn ich das nicht erwähnt hätte, hätte es sofort geheissen, nicht mal das bemerkt er. So wie ich das geschrieben habe - in der «Zeit» ist diese Passage speziell besprochen worden -, kann man es unmöglich als Absolvieren von Pflichtstoff bezeichnen.

Wenn man Frauen selber einen so kleinen Stellenwert einräumt und dann das Verhalten des Papstes so kritisch kommentiert, wirkt das selbstgerecht.

Ja, und jetzt? Ich darf doch wohl die Männer portraitieren, die ich will, oder nicht?

Unsere Frage lautete: Warum beschreibst Du Männer so viel häufiger als Frauen?

Ich finde es eine Anmassung von mir, Frauen zu portraitieren. Das sollen Frauen machen. Oder glaubt ihr, es seien keine geeigneten Frauen da, die das könnten?

Sprechen wir von Deiner beruflichen Zukunft: Du hast angetönt, dass Du vom Journalismus genug hast. Von einem Theaterstück über den «T ages-Anzeiger»-Verlag war einmal die Rede.

Ich habe nicht mehr so grosse Lust darauf, nach dem Wille-Clan nun auch noch die vergleichsweise unbedeutende Coninx-Connection abzuhandeln. Überdies würde das mit Garantie wieder auf meine angeblich neurotische Beziehung zu dieser Zeitung zurückgeführt. Vorläufig lass ich das jetzt mal. Obwohl es eine irrsinnig interessante Sache ist...

Und Deine eigene Familiengeschichte, wie steht's mit der?

Ja, ich möchte tatsächlich mal etwas über meine eigene Familie machen, entweder in Romanform oder in Form eines Journal intime. Manchmal hatte ich bei der Arbeit am Wille-Buch den Eindruck damit schaffe ich mir einen Vorwand, um die eigenen Familienerfahrungen auszulassen, die eigenen Clan- und Machtgeschichten zu verdrängen.

Woher rührt dieses plötzlich so verstärkte Interesse für die eigenen Wurzeln?

Mich interessiert, wie man eingespurt worden ist. Und das Hauptproblem: diese mächtige Mutterfigur. Alle reden von mächtigen Vätern, dabei glaube ich, dass man die Männerwelt von heute nur verstehen kann, wenn man die starken Frauenfiguren, die in Haus und Familie einen unheimlichen «power» losgelassen haben, miteinbezieht.

Jetzt sind also die Frauen auch noch schuld an der Misere der heutigen Welt?

Das sage ich auf keinen Fall. Aber überall, wo ich herumhöre, stosse ich auf Strukturen, in denen Frauen in der Familie eine grosse Rolle gespielt haben - notgedrungen, sie hatten ja gar keine andere Wahl, in der Öffentlichkeit hatten sie kaum etwas zu sagen.

Hat Schreiben für Dich auch eine therapeutische Funktion?

Das wäre ja wie Muschg gedacht: Schreiben als Therapie. Schreiben hat für mich eine aufklärerische Funktion. Aber dass man durch Schreiben geheilt werden kann, ist ein völliger Unsinn. Im Gegenteil, durch Schreiben wird alles noch schlimmer. Schreiben ist ein grosser Krampf, es hat etwas Zerstörerisches. Wenn man gut schreiben will, muss man geistig beweglich sein, muss im Kopf «umeseckle» und das alles bei einer physischen Haltung der absoluten Ruhe. Das ist pervers. Ich würde lieber in der Landschaft herumreiten oder mit dem Töffherumfahren, als diese physische Tortur des totalen Stillesitzens auf mich zu nehmen. Nach der grössten physischen Anstrengung fühle ich mich nicht so ausgekotzt, wie wenn ich eine Nacht lang zehn Stunden am Stück geschrieben habe. Trotzdem kann ich nicht davon lassen. Nach der Wille-Geschichte habe ich mir allerdings wirklich vorgenommen, einen andem Beruf zu wählen...

Konkret?

Im Wald zu arbeiten oder auf den Bau zu gehen oder auf einen Bauernhof. Mein Problem ist allerdings, dass ich völlig unbegabt bin für jede praktische Lebensorganisation. Nicht aus Faulheit, sondern aus Ungeschicklichkeit. Ich bin ja mal sechs Wochen lang Bulldozer-Fahrer gewesen, und prompt wurde ich unglücklich.

Was wäre denn Dein grösster beruflicher Wunsch?

Ein grosses Buch zu schreiben, das «verhebt».

"Biederland und der Brandstifter" ist vergriffen und nur noch in Antiquariaten erhältlich.

© Barbara Lukesch