Starke Worte – 50 Persönlichkeiten über den Satz ihres Lebens

Erschienen 2008, Wörterseh-Verlag / Beitrag des Starkochs Horst Petermann

Buchcover von 'Starke Worte'

Co-Autor dieses Buches ist Balz Spörri. Der Satz von Horst Petermann (Restaurant Kunststuben) lautet: "Esst euch heute satt, denn morgen seid ihr tot."

"Als der Pfarrer 1959 im Konfirmandenunterricht zu uns sagte: 'Esst euch heute satt, denn morgen seid ihr tot', war ich wie gebannt. Ich war 15 Jahre alt, ein Kriegskind, das in einer Familie mit sechs Geschwistern aufwuchs und wusste, was es hiess, Hunger zu leiden. Mein Vater war zwar Direktor einer grossen Lebensmittelfirma, aber er führte ein so ausschweifendes Leben mit wechselnden Frauenbekanntschaften und viel Alkohol, dass wir daheim oft Not litten. Kam dazu, dass die Nachkriegszeit für viele Menschen in Deutschland sowieso entbehrungsreich war. So ist meine Mutter dreimal pro Monat Blut spenden gegangen und hat uns Kindern das Sandwich mit nach Hause gebracht, das sie zur Stärkung bekommen hatte. Oder mein Bruder ist spätabends zu den Bauern in unserer Gegend geschlichen und hat herumliegende Äpfel, Birnen und Kartoffeln von Feld und Wiesen aufgelesen. Wenn er heimkam, stand meine Mutter mitten in der Nacht extra auf und kochte daraus eine Mahlzeit für uns. Die Angst, am nächsten Tag könne es zu spät sein, sass ihr im Nacken. Wenn es schon mal was zu essen gab, musste es sofort verarbeitet werden. Unvorstellbar, nicht wahr? Aber unser Pfarrer hatte es ja auf den Punkt gebracht: "Esst euch heute satt, denn morgen seid ihr tot". Für mich hiess dieser Satz, allem Makabren zum Trotz, auch: Carpe diem! Lebt heute und geniesst den Tag! Essen war für uns Leben. Essen war auch Leidenschaft, Sinnlichkeit und Glück. Mein Gott, wie liebten wir es, wenn meine Mutter kochte, und die Küche erfüllt war von herrlichen Düften. Kein Wunder, isst und kocht unsere ganze Familie leidenschaftlich gern. Einer meiner Neffen ist ebenfalls Koch geworden und leitet eines der besten Restaurants in Lübeck. Dank diesen frühen Erfahrungen habe ich grossen Respekt vor allem Essbaren entwickelt. Es tut mir noch heute weh, wenn wir im Restaurant Brot wegwerfen müssen. Fische zum Beispiel, von denen ich im Grunde nur die Filets brauche, verarbeite ich zu Tartare, um ja nichts ungenutzt wegtun zu müssen.

Mit den Jahren bekam dieses "Esst euch heute satt, denn morgen seid ihr tot" dann eine neue Aufladung, die mich noch heute sehr bedrückt. Als Chef eines Restaurants wie die "Kunststuben", das zwei Michelin-Sterne und 19 Gault Millaut-Punkte errungen hat, fühle ich mich brutal gestresst. Die kleinste Kritik, und ich bin fix und fertig und zermartere mir den Kopf. Dann flüstert mir mein ehemaliger Pfarrer in schlaflosen Nächten plötzlich "Gib heute alles, sonst bist du morgen erledigt" ins Ohr. Das klingt nur noch nach Last, Druck und erbarmungslosem Ehrgeiz. Da ist nichts mehr von "Geniesse den Tag!" übrig geblieben. So ist es tatsächlich. Unendlicher Druck ist integraler Bestandteil meines Lebens. Keine Nacht vor zwei Uhr ins Bett und jeden Morgen um neun Uhr wieder auf den Beinen. Immer Neues kreieren, im Wissen, dass kein Beruf so hart beurteilt wird wie der des Kochs. Die Zeit für mehr Gelassenheit und ein befreites Leben ist noch nicht gekommen. Vielleicht kann ich ja dann mit 70 Jahren loslassen und wieder mit mehr Entspanntheit in den Tag hineinleben - getreu dem einstigen Motto "Geniesse den Augenblick, egal, was morgen kommt."

Horst Petermann wurde 1944 in Hamburg geboren. Er wollte eigentlich Import- und Exportkaufmann werden, musste aber auf Geheiss seines Vaters Koch lernen. Nachdem er mit 21 Jahren den Militärdienst bei der Marine absolviert hatte, zog er in die Schweiz, wo er im "Baur au Lac" angestellt wurde. Bis zur Eröffnung seines eigenen Restaurants "Petermann's Kunstuben" in Küsnacht 1982 arbeitete er in den besten hiesigen Hotels. Seit 1990 wird er permanent mit 19 von maximal 20 Gault-Millau-Punkten bewertet. Er ist verheiratet. Seine Frau Iris ist gelernte Wirtin.

© Barbara Lukesch