Wenn Eltern zu einem Pflegefall werden, übernehmen meist die Töchter die Betreuung. Damit sie sich nicht physisch, psychisch und finanziell überfordern, müssen sie lernen, egoistisch zu sein.
Paula* kniet vor ihrer Mutter und stülpt ihr die schwarzen Stiefel über die schmalen Füsse. Sie bindet ihr die Schnürsenkel zu, erst an einem, dann am anderen Schuh, steht auf und zieht sie an beiden Händen ganz langsam und liebevoll in die Höhe. Ein prüfender Blick - steht sie auch sicher? -, und sie läuft zur Garderobe und holt die rote wattierte Jacke. Sorgfältig schiebt sie das Kleidungsstück über den zerbrechlichen Körper, zieht den Reissverschluss zu, drückt ihr sanft ihre Wollmütze auf das weisse Haar und führt sie zu ihrer Gehhilfe: «So, Mami, jetzt gibt es etwas zu essen.» Martha Müller lacht, sie freut sich schon. Mit gebeugtem Rücken und etwas wacklig auf den Beinen macht sie sich mit ihrer Tochter auf den Weg ins nahe Restaurant. Dort bekommt sie einen Teller Spätzli mit Gemüse und ein Rivella. Paula füttert ihre Mutter und hält ihr immer wieder mit Engelsgeduld das Glas an den Mund. Die Mahlzeit dauert mehr als eineinhalb Stunden.
Martha Müller ist 92 und leidet seit mehr als zehn Jahren an der Alzheimerkrankheit. Sie ist zwar körperlich noch erstaunlich fit, aber der geistige Verfall ist bereits weit fortgeschritten. Dazu ist sie inkontinent und muss auch bei der Verrichtung ihrer Notdurft begleitet werden. Martha Müller ist ein so genannter Vollpflegefall, von denen es in der Schweiz rund 130 000 gibt; die meisten sind dement oder leiden an Alzheimer. Mit der Zunahme der Lebenserwartung wird diese Zahl immer grösser. Rund sechzig Prozent der Betroffenen werden zu Hause von ihren Angehörigen gepflegt, und das in aller Regel ehrenamtlich.
Erdrückende Last
Diese Entwicklung hat gravierende Folgen für den Alltag der Frauen. In achtzig Prozent aller Fälle sind es nämlich die Töchter, Ehepartnerinnen oder Schwiegertöchter, die die Betreuung betagter Menschen übernehmen. Erdrückt von dieser Last, kündigen die pflegenden Frauen manchmal ihre Stellen oder lassen sich frühzeitig pensionieren und nehmen damit zum Teil happige Renteneinbussen in Kauf. Zeit, um ihre Hobbys oder Freundschaften zu pflegen, haben sie nicht mehr. In jeder freien Minute chauffieren sie stattdessen ihre Mutter zum Arzt oder erledigen für ihren Vater einen Behördengang. Anerkennung bekommen sie trotzdem nur selten. «Ihre Arbeit ist unsichtbar», sagt der Soziologe und Altersforscher François Höpflinger, «und wird ähnlich wie die Betreuungsarbeit, die Mütter leisten, gesellschaftlich gering geschätzt.»
Es kann auch anders laufen. Paula teilt sich die Pflege ihrer Mutter mit ihrer vier Jahre jüngeren Schwester Christina. Paula wohnt in Davos im ehemaligen Ferienchalet ihrer Eltern. Christina lebt im eigenen Haus in Bülach. Die erwachsenen Kinder der beiden sind längst ausgeflogen, und so haben sie genügend Platz für ihre Mutter. Insgesamt neun Monate pro Jahr verbringt Martha Müller bei Christina in Bülach, dazwischen wechselt sie jeweils für einige Wochen nach Davos zu Paula.
Das war nicht von Anfang an so. Als ihre Mutter krank wurde, übernahm Paula die Pflege, allein, selbstverständlich. Sie bekam gar nicht mit, dass sie damit nicht nur sich, sondern auch ihren Mann überforderte und die Ehe gefährlich belastete. Ihr Mann hatte zwar immer beteuert, dass ihm das Zusammenleben mit seiner Schwiegermutter nichts ausmache, letztlich aber scherte er aus, verliebte sich in eine andere Frau und - liess sich scheiden. «Schlagartig wurde mir klar, dass ich etwas ändern musste.» Die Pflege der Mutter musste auf mehrere Schultern verteilt werden.
Ihre Schwester Christina sortierte ihr Leben gerade neu und hatte Zeit. Warum sich also nicht um die Mutter kümmern? Ausserdem war diese nicht nur eine Belastung. Die damals 84-jährige Martha Müller konnte noch kleinere Arbeiten ausführen, beim Gemüserüsten helfen und Wäsche zusammenlegen. Und sie konnte noch lesen, sich also allein beschäftigen. Christina ging viel mit ihr spazieren und genoss diese Tage sehr: «Unsere Mutter ist immer eine gutmütige und liebenswürdige Person gewesen, die leidenschaftlich gern sang und tanzte. Das blieb auch nach dem Ausbruch ihrer Krankheit so und machte es angenehm, mit ihr zusammenzuleben.» Vor allem aber wusste Christina, dass sie alle drei Monate eine Atempause einlegen und ihre Mutter guten Gewissens der Schwester in Davos überlassen konnte.
Bett in der Stube
Die 47-jährige Computerspezialistin Trudi betreut in ihrer winzigen Zweizimmerwohnung in Zürich seit vier Jahren ihre greise, unter Herzinsuffizienz und einer schweren Gehbehinderung leidende Mutter. Ihr eigenes Bett steht in der Stube, der Mutter hat sie ihr Schlafzimmer überlassen. Tagsüber sitzt die knapp Neunzigjährige allein zu Hause und wartet darauf, dass die Tochter um Punkt 17 Uhr zurückkehrt. «Die Abende verbringen wir vor dem Fernseher», sagt Trudi mit einem resignierten Lächeln, «oder ich höre mir die ermüdenden, immer gleichen Monologe meiner Mutter an.»
Ein- bis zweimal pro Jahr leistet sich Trudi den Luxus eines Weekends mit einer Freundin, während sich ihre verheiratete Schwester um die Mutter kümmert. «Es ist aber wie verhext. Jedes Mal, wenn ich heimkomme, liegt sie mit schweren Herzproblemen im Bett, und ich muss sofort den Arzt holen.» Mittlerweile gibt es Momente, in denen sie «von totaler Verzweiflung» gepackt wird, «weil ich sehe, dass all meine Lebensträume geplatzt sind». Diese Gedanken, sagt sie, verdrängt sie allerdings sofort wieder und versucht sich daran zu freuen, dass sie eine früher nie empfundene Nähe mit ihrer Mutter verbindet: «Manchmal haben wir es sogar richtig lustig zusammen.»
Vielleicht war es das Schicksal der Schwester, das Christina vor Augen hatte, vielleicht die Ahnung, dass sie davor nicht geschützt sei, obwohl sie die Pflege teilen konnte - jedenfalls informierte sie sich sofort bei Beratungsstellen wie der Schweizerischen Alzheimervereinigung. Darüber, wie sich die Krankheit entwickeln könnte und welche Hilfe sie von wem zu erwarten hat. «Ohne diese Unterstützung», sagt sie heute, «hätte ich vielleicht kapituliert.»
Gerade am Beispiel der Demenzkranken wird deutlich, wie wichtig es ist, diesen ersten Schritt zu gehen. Denn neben der körperlichen Belastung ist es häufig die psychische, die die pflegende Person und die Familie an den Rand des Zusammenbruchs treibt. Meistens hat die Belastung auch schon lange begonnen, bevor die Krankheit überhaupt erkannt wurde. Da wird dann der Vater scheinbar grundlos bösartig, die bis anhin souveräne Mutter verlegt alles oder sitzt plötzlich mit dem Büstenhalter über dem Pullover am Tisch. Die Angehörigen reagieren mit Vorwürfen und Aggression.
Schmerzlicher Prozess
«Diese Situation kann erst dann entschärft werden», sagt Miriam Sticher von der Schweizerischen Alzheimervereinigung Zürich, «wenn endlich eine Diagnose feststeht und alle über die Symptome informiert sind.»
Doch dann muss diese heimtückische und unberechenbare Krankheit, der letztlich die gesamte Persönlichkeit eines geliebten Menschen zum Opfer fällt, auch noch akzeptiert werden: «Das ist ein unheimlich schmerzlicher Prozess», sagt Paula, «der mir schier das Herz gebrochen hat.» Im fortgeschrittenen Stadium gleicht die Betreuung von Alzheimerkranken jener von Kleinkindern. Erschwerend kommt dazu, dass viele Betroffene eine ausgeprägte Neigung zum Weglaufen entwickeln und ständig überwacht werden müssen. Andere machen die Nacht zum Tag und rauben ihren Angehörigen damit den Schlaf.
Christina hörte bei der Beratung, wie wichtig es sei, jeder Art von psychischer Belastung vorzubeugen. Das heisst: egoistisch im besten Sinne zu bleiben oder - es endlich zu werden. Dass sie auf keinen Fall ihre Interessen vernachlässigen dürfe und es also weiterhin erlaubt sei, ein eigenes Leben zu führen, Visionen zu haben. Christina begriff. Sie eröffnete einen Blumenladen und erfüllte sich zusätzlich einen Kindheitstraum. Sie lernte, Handorgel zu spielen: «Das Instrument tut nicht nur mir gut, sondern auch meiner Mutter, die richtig aufblüht, wenn ich am Üben bin.»
Aber auch Paula hat - wie ihre Schwester - gegengesteuert. Sie liess sich in diesen Jahren zur Erwachsenenbildnerin schulen und machte sich in ihrem neuen Beruf selbstständig. So war auch sie gut gerüstet, als die Pflege der alten Frau aufwändiger wurde. Den Schwestern war schnell klar: Jetzt mussten sie sich Hilfe holen. Seither bringt Christina ihre Mutter zwei- bis dreimal pro Woche in die Tages- und Nachtklinik Dielsdorf ZH, Paula stellte eine private Pflegerin an, die zu ihr nach Hause kommt. Christina sagt dazu: «Dass wir den Alltag mit unserer Mutter so gut meistern, macht uns zufrieden und bereichert unser Leben. Ausserdem hat diese gemeinsame Erfahrung auch die Beziehung zwischen uns Schwestern vertieft.»
Kosten sprengen Budget
Auch Trudi hat versucht, Hilfe zu finden. «Aber das ist leichter gesagt als getan.» Sie hat es bei der Spitex versucht, aber dort hat sie nicht die Person gefunden, die sie sich vorstellt. Eine, die bei ihrer Mutter sitzt und sie ständig überwacht. Ihre Schwester habe eine eigene Familie, von ihr dürfe sie nicht so viel verlangen. «Und die Kosten für einen sporadischen Aufenthalt in einer Tages- oder Nachtklinik sprengen mein Budget.» Immerhin besuche sie hin und wieder die Treffen der «Gesprächsgruppe für begleitende und betreuende Angehörige», die von der Pro Senectute organisiert werden. «Dort kann ich im geschützten Rahmen auch einmal die Schattenseiten benennen, meine Frustration und Wut zeigen», erzählt sie, «und finde Verständnis.»
Esther Banz, die Leiterin einer solchen Gruppe und Sozialarbeiterin, kennt viele solche Töchter-Schicksale. Sie sagt: «Diesen Frauen fällt es schwer, Hilfe von aussen anzunehmen. Der Anspruch, es allein zu schaffen, ist enorm. Ihm nicht zu genügen, heisst zu versagen.» Laut Esther Banz sind es mitunter auch Schamgefühle, die diese Frauen daran hindern, eine fremde Betreuungsperson in die eigene Wohnung zu lassen und ihr damit Einblick in sehr intime Sphären zu gewähren. Nicht selten hat sie pflegende Frauen erlebt, die ihre körperlichen und seelischen Grenzen nicht wahrnehmen, sodass ihre eigene Gesundheit Schaden nimmt.
Das besonders Perfide an dieser chronischen Überforderung: Die Belastung kann im schlimmsten Fall ausgerechnet an die weitergegeben werden, die noch hilfloser sind, der Teufelskreis der Schuldgefühle dreht sich immer schneller. «Ich verliere manchmal die Geduld», sagt Trudi, «und schimpfe dann fünf Minuten laut vor mich hin. Nachher plagen mich allerdings drei Tage lang Schuldgefühle.» Körperliche Übergriffe gegen ihre Mutter habe sie sich, Gott sei Dank, noch nie zu Schulden kommen lassen: «Wenn mir der Kragen zu platzen droht», sagt sie, «renne ich aus der Wohnung, egal ob es regnet oder schneit, und lasse draussen Dampf ab.»
Mit Druck in die Dusche
Sogar Christina war, wie sie erzählt, vor allem in den ersten Pflegejahren manchmal so entnervt, dass sie ihre Mutter, als sie nicht so wollte wie sie, schon mal mit «starkem Druck» in die Duschkabine geschoben hat: «Ich war in manchen Momenten ganz einfach am Ende», sagt sie achselzuckend, «und musste erst lernen, dass es nichts bringt, unbedingt das durchzusetzen, was ich im Sinn einer perfekten Pflege für nötig hielt.»
Christina ist Mitglied in zwei Angehörigengruppen. Dort kann sie über Aggressionen im Kontakt mit ihrer Mutter sprechen und bekommt handfeste Tipps, wie sie in solchen Momenten reagieren kann. Zusätzlich hat sie Kurse über Kommunikation mit Alzheimerpatienten oder das schonende Hochheben und Tragen von Kranken besucht, denen sie weitere Sicherheit im Umgang mit ihrer Mutter verdankt.
Paula und Christina bekommen von ihrer Mutter für Kost, Logis und Pflege den Betrag, den sie auch für einen Heimplatz zahlen müsste, für sie weit mehr als eine Formalität. «Das bewahrt uns insbesondere davor, in die Rolle der selbstlosen, sich aufopfernden Töchter zu geraten.» Die eigentliche Gefahr aber, in diese Rolle zu geraten, das sagen beide, die sitzt woanders und die beginnt viel früher. «Mit der Bereitschaft, seine eigenen Bedürfnisse nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen - sein eigenes Leben aufzugeben.»
Pflege, die nicht zum eigenen Zusammenbruch führt, setzt Wissen voraus. Über die Krankheit, aber auch über Hilfsangebote.
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© Barbara Lukesch