Renate Staub* machte hin und wieder bei einem erotischen Chat im Internet mit. Dabei bekam sie Kontakt zu einem Mann, mit dem sie nach einer gewissen Zeit auch die E-Mail-Adressen austauschte. Eines Tags erhielt sie von diesem – ihr nach wie vor unbekannten – Mann ein E-Mail. Und zwar eins mit eindeutig kinderpornografischem Inhalt. Ein Schock für Renate Staub. Was tun? Unter www.cybercrime.admin.ch stiess sie auf die Website von Kobik, der nationalen Koordinationsstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität. Auf dieser Website fand sie ein Formular, mit dem sie das anstössige E-Mail anonym melden konnte. Dazu übermittelte sie einen Protokollauszug des Chats, aus dem ganz klar hervorging, dass ihre Netzbekanntschaft auf sexuellen Missbrauch anspielte.
Die Koordinationsstelle Kobik hat ihren Sitz in einem Büro an der Berner Bolligenstrasse, in einem unscheinbaren, dafür aber gut gesicherten Gebäude. Hier arbeiten acht Leute, darunter Informatiker, Programmierer, aber auch ein ehemaliger Journalist. Ihre Identität wird geschützt. Diese Experten setzten nach Eingang von Renate Staubs E-Mail eine gut funktionierende Maschinerie in Gang. Dank der Internet-Protocol-Adresse (kurz IP-Adresse) des Chatpartners konnten sie dessen Wohnkanton beim zuständigen Internetprovider ermitteln und die Beweisstücke an die kantonalen Behörden weiterleiten. Diese eröffneten ein Strafverfahren und veranlassten innert weniger Wochen beim Verdächtigen eine Hausdurchsuchung. Mit Erfolg: Es kamen nicht weniger als 700 000 Bilder mit harter Pornografie zum Vorschein.
Monitoring im Netz
Dieser Fall ist exemplarisch für die Arbeitsweise von Kobik. Die Koordinationsstelle, die am 1. Januar 2003 ihren Betrieb aufgenommen hat, ist die nationale Anlaufstelle in der Schweiz. Kobik unterstützt den Bund und die Kantone beim Aufspüren und Verfolgen der Täter. Mit Monitoring, also Recherchen im Internet, Clearing, der juristischen Prüfung von Verdachtsmeldungen und Information der zuständigen Strafverfolgungsbehörden, und mit der Analyse von Internetkriminalität.
Im Monitoring wird ein Verdacht wie der von Renate Staub einer ersten Prüfung unterzogen. Handelt es sich tatsächlich um Kinderpornografie oder nicht? Also um sexuelle Darstellungen oder Handlungen mit Kindern, die eindeutig darauf angelegt sind, beim Betrachter sexuelle Erregung zu wecken? Darüber hinaus gehen die Monitoring-Verantwortlichen aber auch auf so genannte Streifenfahrten im Netz. Das heisst, sie suchen von sich aus gezielt nach kinderpornografischen Inhalten, und das während sieben Tagen rund um die Uhr.
Ortstermin in der Kobik. Markus H. ist Informatiker und Mitarbeiter im Monitoring-Team. Er hat an diesem Vormittag eine virtuelle Streifenfahrt gemacht - und ist fündig geworden. Drei Dateien mit zahllosen Videoclips hat er aufgespürt, auf denen unter anderem in Grossaufnahme gezeigt wird, wie ein erwachsener Mann ein höchstens acht- oder neunjähriges Mädchen penetriert.
Auch auf relativ leicht zugänglichen Websites können sich kinderpornografische Inhalte verstecken. Doch der harte Kern der Konsumenten nutzt andere Kanäle, um sich das gewünschte Bild- und vor allem Filmmaterial zu beschaffen. Dazu gehören in erster Linie die so genannten Peer-to-Peer-Netzwerke, virtuelle Tauschbörsen also, über die lange Zeit vor allem Raubkopien von Musikstücken verbreitet wurden. Längst aber haben Pädosexuelle erkannt, dass sie auf diesem Weg ihre kinderpornografischen Kollektionen einigermassen gefahrlos vervollständigen können. Es sei denn, ein Kobik-Mitarbeiter wie Markus H. kommt ihnen auf die Schliche, indem es ihm gelingt, mit einschlägigen Schlüsselwörtern wie Incest, Child Porn oder Baby ihre Websites zu finden.
Genesis stiess auf 1300 Kunden
Wie weit Kinderpornografie verbreitet ist, lässt sich nur schwer beziffern. Aus Deutschland ist immerhin bekannt, dass sich rund achtzig Prozent aller Fälle von harter Pornografie, die das Bundeskriminalamt in den Jahren 1999 bis 2001 behandelte, um Kinderpornografie drehten. Wie gross die Nachfrage nach kinderpornografischen Bildern und Filmen auch in der Schweiz ist, wurde der Öffentlichkeit erstmals im Herbst 2002 bewusst, als die Polizei die Operation Genesis durchführte. Dabei wurde gegen über 1300 Männer ermittelt, die Kunden des US-Internetportals Landslide waren, das alle Variationen von Sex mit Kindern im Netz verbreitete. Weil die Männer mit ihren Kreditkarten gezahlt hatten, konnten sie identifiziert werden.
Die von Markus H. an diesem Tag sichergestellten Dateien transportieren ohne Zweifel kinderpornografisches Material. Also leitet er sie an seine Kollegen von der Clearing-Abteilung weiter. Dort wird geprüft, ob sie einen Bezug zur Schweiz haben. Ist dies der Fall, werden sie an die zuständigen Kantonsbehörden geschickt, die wiederum die Polizei darauf ansetzen. Andernfalls gelangen sie via Interpol an die ausländischen Behörden. «Kobik will auf diese Art internationale Solidarität bei der Bekämpfung der Internetkriminalität zeigen», erklärt Eva Bollmann, Juristin in der Abteilung Analyse und einzige Frau im Kobik-Team.
Nach Kinderpornografie zu suchen, das kann an die Nieren gehen. Im Zug der Operation Genesis waren Polizeibeamte mitunter gezwungen, Hunderttausende von Bildern und Clips zu visionieren. Viele von ihnen mussten danach psychologisch betreut werden. Auch bei Kobik können die Männer vom Monitoring professionelle Hilfe in Anspruch nehmen, sollten sie diese brauchen. Markus H. glaubt nicht, dass das in seinem Fall nötig ist. Er brauche, sagt er, meistens nur Sekunden, um neu entdecktes Bildmaterial anzuschauen und zu qualifizieren. Es schockt ihn dennoch, dass immer wieder neues, immer härteres Material in Umlauf gebracht wird: «Wenn ich all diese Bilder nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, würde ich niemals glauben, dass es so etwas gibt.»
600 Verdachtsmeldungen pro Monat
Nach dem ersten Betriebsjahr zog die Koordinationsstelle eine positive Bilanz ihrer Arbeit. Monat für Monat gingen rund 600 Verdachtsmeldungen ein, eine auch im internationalen Vergleich grosse Zahl. Zusätzlich förderten auch die Streifenfahrten im Netz umfangreiches Beweismaterial zu Tage: «Die Aufklärungsrate», sagt Eva Bollmann, «ist trotz bescheidenerer personeller und finanzieller Ressourcen um einiges grösser als bei vergleichbaren ausländischen Monitoringstellen.» Unterm Strich konnte Kobik mehr als hundert Verdachtsmeldungen an die einzelnen Kantone leiten, die diese fast ausnahmslos weiterverfolgten. Und es sieht so aus, als ob das zweite Jahr noch ergiebiger wird.
Und dennoch: Es bleibt ein Kampf gegen Windmühlen. «Die technologische Entwicklung verläuft so rasend schnell», konstatiert Eva Bollmann, «dass wir uns praktisch dauernd weiterbilden müssen, um nicht ins Hintertreffen zu geraten.» Eine der grössten Sorgen bleibt, dass sich die Täter immer mehr in private Chatforen zurückziehen. Und bei denen ist sogar Kobik machtlos: «Der Privatbereich ist für uns tabu.»
* Name geändert (Wer Kobik eine Meldung macht, kann vollständig anonym bleiben.)
An die Anlaufstelle Kobik können sich alle wenden, die Fälle im Bereich der Internetkriminalität melden wollen. Internetkriminalität ist schwierig zu fassen. Sie ist hoch technisiert, global, unglaublich schnell - und ein weites Feld. Darunter fällt nämlich nicht nur die Verbreitung von harter Pornografie im Netz, sondern auch von Gewaltdarstellungen, rassistischen Inhalten sowie Delikte im Bereich der Wirtschaft und des Staatsschutzes. Im Mittelpunkt der Kobik-Arbeit steht dieses Jahr die Bekämpfung der Kinderpornografie. www.cybercrime.admin.ch
Interview mit Andreas Brunner (55), Zürcher Staatsanwalt und Spezialist in Fragen des Kinderschutzes.
Das Ausmass der Kinderpornografie im Internet lässt sich nur schwer einschätzen. Haben Sie eine Vorstellung, wie gross dieses Angebot im Netz ist?
Andreas Brunner: Der gesamte Pornografiebereich, also nicht nur die strafbare, harte Pornografie, ist im Netz absolut dominant. Weltweit wird dieser Markt - in Zahlen ausgedrückt - auf mehrere Milliarden Dollar geschätzt. Wer Ende der Neunzigerjahre in einer internationalen Suchmaschine den Begriff Porn eingab, landete 28.7 Millionen Treffer. Dahinter verbirgt sich mit Sicherheit ein erheblicher Teil Kinderpornografie. Dazu kommt, dass Kinderpornografie inzwischen vermehrt über verstecktere Kanäle als das World Wide Web verbreitet und ausgetauscht wird, über Peer-to-Peer-Netzwerke etwa.
Was genau versteht man unter Kinderpornografie?
Das ist von Land zu Land verschieden. In der Schweiz fallen alle Darstellungen von Kindern darunter, die eindeutig auf die sexuelle Stimulierung des Betrachters abzielen. Mitunter ist das eine schwierige Ermessensfrage. Gilt das nackt abgelichtete Mädchen noch als Kunstfotografie oder bereits als kinderpornografische Darstellung? Wenn dagegen das Geschlechtsorgan eines Kinds oder seine gespreizten Beine im Zentrum eines Bilds stehen, dürfte es kaum noch Zweifel geben. Im Unterschied zu den USA ist bei uns übrigens auch der Besitz virtueller, das heisst computeranimierter Bilder und Filme mit kinderpornografischen Darstellungen strafbar.
Warum? Immerhin müssen für virtuelle Darstellungen keine realen Mädchen und Buben herhalten.
Das schon, aber das Bedenkliche ist doch die riesige Nachfrage nach kinderpornografischen Darstellungen, und die bleibt bestehen, unabhängig davon, ob die Bilder echt oder virtuell sind. Ich will mich nicht zur Aussage versteigen, dass sich hinter jedem Kinderpornokonsumenten beziehungsweise -besitzer ein Kinderschänder verbirgt. Aber wir sehen überdeutlich, dass viele Männer im Sexuellen einen neuen, härteren Kick suchen. Den finden sie offenbar in kinderpornografischen Darstellungen, die überdies auch oft den Einsatz von brutaler Gewalt zeigen. Und da liegt das eigentliche Problem.
Wie kann eine solche Entwicklung gestoppt werden?
Wir versprechen uns viel von der Forschung. Dort müssen Täterprofile erstellt werden, damit wir verstehen, warum sich Männer so verhalten, wie sie es tun. In einem zweiten Schritt können wir aus diesen Erkenntnissen dann Ansätze für Präventionsmassnahmen entwickeln. Allerdings fangen wir damit erst an.
Wie sehen die Schweizer Gesetze in Bezug auf Kinderpornografie im Netz aus?
Der Besitz ist strafbar, nicht aber der Konsum. Das heisst, wenn sich jemand im Netz eine Website mit kinderpornografischem Inhalt anschaut und dann weitersurft, hat er keine strafbare Handlung begangen. Lädt er nun aber diese Site auf seine Festplatte oder eine CD, nimmt er sie also in Besitz, macht er sich strafbar.
Im Zug der Operation Genesis behaupteten verschiedene Verdächtige, sie seien ohne eigenes Zutun in den Besitz kinderpornografischen Materials gekommen. Wie beurteilen Sie solche Aussagen?
Das waren grösstenteils Schutzbehauptungen. So leicht und «ganz zufällig» landet man eben nicht auf den einschlägigen Websites. Und selbst wenn das einmal passieren sollte, würde die entsprechende Site nicht automatisch gespeichert. Trotzdem muss man den Einzelfall anschauen und aufpassen, dass man keine Hexenjagd betreibt.
Was hat Genesis bewirkt?
Aktionen wie Genesis haben auch einen stark präventiven Effekt. Mit dieser ersten grossen Operation in der Schweiz dürfte doch etlichen Leuten bewusst geworden sein, dass es nicht folgenlos bleibt, wenn sie sich kinderpornografisches Material herunterladen.
Was sind die grössten Schwierigkeiten bei der strafrechtlichen Verfolgung?
Eines der Hauptprobleme liegt meiner Meinung nach darin, dass der Besitz von Kinderpornografie selbst in Fachkreisen noch als Bagatelldelikt betrachtet wird. Was ist schon dabei, heisst es da, wenn man sich ein paar «Bildli» herunterlädt. Dabei sind diese Bilder alles andere als harmlos. Ganz zu schweigen von den erschreckenden kinderpornografischen Videoclips, auf denen Szenen in Bild und, stellen Sie sich vor, mit Ton gezeigt werden.
Mit welcher Strafe müssen die Täter bei uns rechnen?
Die Strafandrohung bei Besitz von Kinderpornografie geht nicht über ein Jahr hinaus. Auch das zeigt, dass dieses Delikt bei uns verharmlost wird. Ich sage gar nicht, dass man das Strafmass gewaltig nach oben korrigieren müsste. Ich gebe aber doch zu bedenken, dass man für Diebstahl mit Freiheitsentzug von bis zu fünf Jahren bestraft werden kann.
Was könnte man tun, um wirksamer gegen Kinderpornografie vorzugehen?
Dank Kobik kommt man heute sogar Tätern auf die Spur, die sich ausgeklügelter Strategien bedienen und beispielsweise Peer-to-Peer-Netzwerke nutzen. Aus meiner Sicht müsste man allerdings das Kobik-Monitoring mit deutlich mehr Mitarbeitern personell verstärken. Je mehr Kräfte und hoch spezialisiertes Knowhow dort konzentriert sind, um so wirkungsvoller kann vorgegangen werden.
Wie wird sich der Kinderpornografiekonsum entwickeln?
Fachleute prognostizieren, dass die Problematik erst richtig anzieht, wenn gegen 2009, 2010 jeder Haushalt hier zu Lande mit einem Computer ausgerüstet sein wird.
Verzweifeln Sie nicht manchmal angesichts dieses übermächtig scheinenden Gegners?
Ich habe gelernt, dass es wahnsinnig viel Zeit braucht, bis man sichtbare Fortschritte erzielt. Wie war das denn seinerzeit im Kinderschutz? Auch da waren fünf, sieben, ja zehn Jahre Kampf nötig, bis die ersten Erfolge vorlagen. Interessanterweise wiederholen sich nun gewisse Erfahrungen von damals. Beim Thema sexuelle Ausbeutung von Kindern ging man lange Zeit davon aus, dass sich hinter den Tätern der böse Mann hinter dem Gebüsch verberge. Plötzlich merkte man, dass das ja der Papa oder der Gemeinderat oder der Bankdirektor war. Genesis hat zum Erstaunen vieler eine vergleichbare Erkenntnis zu Tage gefördert: Auch die Kinderpornografiebesitzer waren keine Aussenseiter, sondern zu grossen Teilen Akademiker, Leute in anerkannten Berufen und IT-Freaks.
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© Barbara Lukesch